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Die Wochenstube unter dem Kirchendach

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Kalle hat wieder einmal, obwohl seine Mutter ihm dies verboten hat, bis spät in die Nacht in seinen Fledermausbüchern gestöbert. Ihn faszinieren die Kobolde. Die Flugakrobaten hatten schon im 15. Jahrhundert einen berühmten Fan. Es war Leonardo da Vinci. Der geniale Künstler war ein Multi-Erfinder. Er entwarf viele Maschinen. Auch ein Flugapparat war darunter. Als Vorbild diente ihm der Körperabau von Fledermäusen. Die Anatomie der Flugkünstler und ihre geniale Flugtechnik animieren auch immer wieder Wissenschaftler zu Nachbauten. Wenn sie der Natur etwas abschauen, nennt man das Bionik. Amerikanische Forscher haben Anfang 2017 eine Fledermaus-Drohne konstruiert. Dieser knapp 90 Gramm schwere Flugroboter „Bat Bot“ kann im Vergleich zu gewöhnlichen Drohnen viel flexibler eingesetzt werden. Er kann enge Kurven fliegen, blitzschnell die Flugrichtung wechseln und in den Sturzflug gehen.

Vieles haben Fledermäuse und Menschen nicht gemeinsam, aber eines doch: Beide säugen ihren Nachwuchs. Er kommt neun Monate nach der Zeugung zur Welt. Aber das heißt nicht, dass auch das Fledermausbaby neun Monate im Mutterleib der Fledermaus heranwächst.

Die Paarung der Fledermäuse erfolgt meistens im Herbst. Viele Männchen begatten die Weibchen aber wie beispielsweise das Braune Langohr oder die Wasserfledermaus überwiegend im frühen Frühjahr oder während einer Wachpause im Winter. Denn wenn der Herbst endet, beginnt der Winterschlaf der Fledermäuse. Im Winterschlaf verlieren die Fledermäuse bis zu einem Drittel ihres Gewichtes. Solche Hungerzeiten sind keine guten Voraussetzungen, um Kinder heranwachen zu lassen. Deshalb konservieren die weiblichen Fledermäuse den Samen des Männchens für mehrere Monate. Erst wenn sie im Frühjahr aus dem Winterschlaf erwachen, können sie wieder zu Kräften kommen. Dann fliegen sie Nacht für Nacht, fangen Mücken, Falter, Spinnen und Tausendfüßler. Sie futtern, was das Zeug hält und sind stark genug, Kinder auf die Welt zu bringen. Die Tragzeit beträgt bei unseren Fledermäusen meistens sechs bis acht Wochen. Manchmal, wenn das Frühjahr nass und kalt, dauert sie aber länger, und zwar bis zu drei Monaten.

Ende Mai oder Anfang Juni werden die jungen Fledermäuse geboren. Bei der Geburt ist eine Fledermaus selten allein. In den Wochenstuben, die in einer Baumhöhle oder unter einem Kirchendach liegen, wimmelt es von schwangeren Fledermausweibchen.

Ab Mai sammeln sie sich in diesen Wochenstuben. Die Wochenstube unter dem Kirchendach und die Geburt der Fledermäuse will Kalle mit eigenen Augen sehen. Morgen, wenn die Dämmerung hereinbricht, will er sich über den Friedhof zur Dorfkirche schleichen.


Wochenstube der Großen Mausohren

Schon am Nachmittag hat er sich vergewissert, dass niemand dort ist, um ihn zu beobachten, denn so eine Fledermausexpedition in den Kirchturm wäre dem Pfarrer sicherlich nicht recht. Er schnallt sich die Stirnlampe um den Kopf, steckt seine Ersatztaschenlampe in den kleinen Kletterrucksack, nimmt eine kleine Flasche Wasser mit, zieht Handschuhe an und schleicht an den Gräbern vorbei zur Kirchtür. Ganz wohl ist ihm dabei nicht, vor allem, wenn das Käuzchen auf der Laterne am anderen Ende des Friedhofs ruft und er den Luftzug von Fledermäusen spürt, die dicht über seinen Kopf hinwegfliegen. Es sind Große Mausohr-Fledermäuse. Es sieht so aus, als wollten sie ihn vertreiben und daran hindern, den Kreißzahl unterm Dach zu besuchen. Aber es sind nur die Mausohrmütter, die bereits ein Baby zur Welt gebracht haben. Sie sind unermüdlich auf Futterjagd, um genügend Milch für ihr Baby zu haben. Sowie sich die Mütter wieder an die Dachbalken hängen, beginnen die Kleinen an ihren Zitzen zu saugen.

Kalle hat Glück. Der Küster hat die Kirchentür nicht verschlossen. Es ist auch kein betendes Mütterlein in der Kirche. Er knipst seine Stirnlampe an, läuft rechts hinter


Großes Mausohr

den Altar. Dort steigt er die enge hölzerne Treppe hoch, Stufe um Stufe. Er muss sich verzählt haben, oder sind es wirklich 128 Stufen? Der Schweiß steht ihm auf der Stirn. Hätte er sich doch ein wenig mehr Zeit gelassen. Er öffnet seinen kleinen

Rucksack, trinkt einen großen Schluck aus der Flasche und nimmt die Taschenlampe heraus. Er leuchtet in das Gebälk. Dort hängen 60 oder 70 werdende Mausohr-Mütter. Genau kann er sie nicht zählen. Fledermausmütter drehen sich zur Geburt ihres Jungstieres richtig herum. Sie halten sich mit ihrem Daumenkrallen am Dachbalken fest und nutzen ihre Schanzflughaut und ihre Flügel wie eine Hängematte oder einen Kescher. In diesen fällt das Jungtier nach der Geburt und muss sich sofort mit seinen großen Füßen am Bauchfell der Mutter festhalten. Meistens ist es nur ein Junges. Es saugt sich bald nach der Geburt an den Zitzen der Mutter fest. Dann wird die Nabelschnur durchgebissen. Schon in der ersten Nacht nach seiner Geburt muss das Kleine allein zurechtkommen, sich anklammern.

Ein winzig kleines Mausohr hängt direkt an dem alten Balken vor Kalles Kopf. Es muss vor wenigen Stunden geboren worden sein. Viel Kraft hat es nicht. Die Mutter ist bei dem Gewitter und Regen der vergangenen Nacht nicht zurückgekommen. Sie hat sich beim anbrechenden Morgen im Wald ein Tagesquartier gesucht. Dort wartet sie wahrscheinlich immer noch, denn der Regen hat wieder eingesetzt. Nun ist das junge Mausohr schon den zweiten Tag ohne Muttermilch. Es wird schwächer und schwächer, rutscht ab und stürzt acht Meter tief auf den Zwischenboden. Kalle leuchtet den Boden ab. Es läuft ihm kalt über den Rücken. Er sieht im Licht viele tote Fledermausbabys, einen Kinderfriedhof. So hat er sich die Fledermauswochenstube nicht vorgestellt.

Er will sich schon auf den Rückweg machen, als er Zeuge eines kleinen Wunders wird. Das abgestürzte Fledermausbaby lebt. Es muss so etwas wie SOS gefunkt haben, einen für ihn kaum hörbaren Verlassenslaut gegeben haben. Den hat seine von der Jagd zurückgekehrte Mausohrmutter gehört. Mit Hilfe dieser Laute können Fledermäuse ihr Jungtier finden. Auch der Geruch ihres Kindes ist unverwechselbar. Das Baby wird, so wie unmittelbar nach der Geburt, noch einmal abgeleckt. Das festigt die Mutter-Kind-Beziehung.

Erleichtert macht sich Kalle auf den Heimweg. Als er kurz vor Mitternacht die knarrende Haustür öffnet, erwartet ihn seine Mutter schon. Sie hat sich Sorgen gemacht, als sie das leere Kinderzimmer sah. Aber sie muss wohl geahnt haben, dass Kalle wieder einmal eine Fledermausexpedition unternommen hat. Sie schimpft nicht, schüttelt nur den Kopf und sagt: „Kalle, Kalle, du könntest doch etwas sagen! Drei Tage Stubenarrest!“

Kalle und die Nachtjäger der Eifel

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