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Aischylos

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Name: Aischylos

Lebensdaten: 525/524–456/455 v. Chr.

Literarische Gattung: Tragödie

Werke: Die Eumeniden, Agamemnon, Die Perser u. a.

Wer war das?

Aischylos stammte aus Eleusis bei Athen. Sein Vater hieß Euphorion. Schon 499/495 v. Chr. beteiligte er sich an einem Tragödienwettstreit; 484 v. Chr. errang er seinen ersten Sieg. Er nahm an den berühmten Schlachten der Perserkriege teil: Marathon (490 v. Chr.), Salamis (480 v. Chr.), Plataiai (479 v. Chr.). Auf Einladung des Tyrannen Hieron besuchte er später Sizilien; dort hat er die Perser ein zweites Mal aufgeführt und dafür viel Beifall bekommen. 468 v. Chr. soll er im Tragödienwettstreit dem Sophokles unterlegen gewesen sein. Er starb fast siebzigjährig, als ein Adler eine Schildkröte auf seinen Kopf fallen ließ. In Gela (Sizilien) wurde er bestattet; er hatte sein eigenes Grabepigramm verfasst, das in seiner antiken Vita zitiert wird; der Text verschweigt zwar seinen Ruhm als Dichter, rühmt aber seine Verdienste in den Perserkriegen:

Aischylos, den Sohn des Euphorion, birgt dieses Grabmal. Er starb in der Getreidestadt Gela. Von seiner Tapferkeit könnte das ruhmreiche Gefilde von Marathon reden und jeder langmähnige Meder, der ihn kennt.

(11)

Athenaios wies im 2. Jh. n. Chr. in seinem Reiseführer darauf hin (1, 14, 5), Aischylos habe am Ende seines Lebens (für sein Monument) nur seinen Namen und den seines Vaters und seiner Heimatstadt aufgeschrieben und hinzugefügt, dass er den Hain von Marathon und die Perser, die dort gelandet seien, als Zeugen seiner Tapferkeit nennen könne.


Aischylos ist nicht nur durch seine literarischen Werke berühmt. Er bewährte sich auch mit seiner persönlichen Tapferkeit im blutigen Kampf.

Was schrieb er?

Sieben Tragödien des Aischylos sind vollständig erhalten: Sieben gegen Theben, Die Schutzflehenden, Agamemnon, Die Choephoren, Die Eumeniden, Die Perser und Der gefesselte Prometheus. Dazu kommen zahlreiche Fragmente weiterer Tragödien und einiger Satyrspiele. Von 79 Stücken sind die Titel bekannt.

Die vollständig erhaltenen Tragödien verbindet die Absicht des Autors, eine gottgewollte Ordnung darzustellen, in der sich das menschliche Handeln ereignet. Die Gottheit garantiert den Bestand dieser Ordnung, solange der Mensch seine Grenzen nicht überschreitet. Tut er dies doch, sorgt die Gottheit dafür, dass der Mensch durch Leiden lernt und zur Erkenntnis seiner Beschränktheit gelangt. So bedeutet zum Beispiel der persische Feldzug gegen die Griechen in den Persern eine Nichtachtung dieser Grenzen – das Überschreiten des Bosporus ist eine Metapher dafür.

Die 472 v. Chr. zum ersten Mal aufgeführten Perser sind die älteste Tragödie der Weltliteratur. Die Niederlage des Xerxes durch die griechische Flotte wird aus der Sicht der besiegten Perser dargestellt. Das Stück spielt am persischen Königshof in Susa. Es gliedert sich in vier Teile: (1) Der Chor der persischen Ratgeber und Atossa, die Mutter des Königs, ahnen ein großes Unglück voraus. (2) Ein Bote berichtet vom Untergang der persischen Flotte bei Salamis. (3) Der Schatten des Dareios erscheint und deutet die persische Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. (4) Das Stück endet mit dem alles Maß überschreitenden Klagegeschrei der Besiegten (zu dem der vermutlich frenetische Jubel der Theaterbesucher in bedenklichem Kontrast stand).

Als Teilnehmer an der Schlacht bei Salamis konnte Aischylos den Botenbericht von dem für die Perser so katastrophalen Ereignis wie ein Augenzeuge schreiben. Dass der Dichter die persische Kultur und Geschichte studiert hatte, zeigt das Stück. Aischylos geht es aber nicht um die historischen Fakten, sondern um ihre Deutung. Die zentrale Frage ist, warum Xerxes scheitern musste. Für den Dichter hat die Katastrophe ihre Ursache in der Hybris des Perserkönigs, seinem Aufstand gegen die göttliche Ordnung. Er wäre nicht Aischylos, wenn er nicht zugleich die Sieger vor der eigenen Überheblichkeit hätte warnen wollen. Diese Deutung kommt in den Worten des Dareios, des verstorbenen Vaters des Xerxes, zum Ausdruck:

Dort erwartet die Unterlegenen das größte Leid als Vergeltung für die Hybris und für die gottlosen Absichten; denn sie scheuten sich nicht, nach Griechenland einzudringen, die Götterbilder zu rauben und die Tempel in Brand zu setzen. Die Altäre sind verschwunden und die Gotteshäuser von Grund auf zerstört. Weil sie so viel Schlimmes taten, ist nicht geringer, was sie selbst leiden und noch leiden werden, und es ist noch kein Ende der Leiden zu sehen, sondern es kommt noch immer mehr dazu. […] Noch im dritten Glied werden die Leichenhaufen den Sterblichen wortlos vor Augen führen, dass sich ein Mensch nicht über seine Grenzen hinaus erheben darf. Denn wenn Überheblichkeit aufgeblüht ist, lässt sie die Frucht der Verblendung reifen, aus der ein tränenreicher Herbst die Ernte einbringt. Wenn ihr solches als Strafe dafür seht, denkt auch an Athen und Griechenland, und sorgt dafür, dass keiner, der sein gegenwärtiges Schicksal in Überheblichkeit verachtet und auf anderes versessen ist, sein großes Glück verliert! Zeus, der die allzu hochmütigen Gedanken bestraft, ist da und passt streng auf. In diesem Sinne sollt ihr, die ihr im Besitz der Vernunft seid, jenen Mann, Xerxes, mit klugen Ermahnungen dazu drängen, endlich Schluss zu machen mit seiner auf maßlosem Stolz beruhenden Gotteslästerung.

(807–831)

Die Grenzüberschreitung besteht darin, dass Xerxes über den Hellespont eine Brücke geschlagen, das Meer gewissermaßen gefesselt hatte und zudem versucht hatte, die traditionell auf dem Lande operierenden persischen Streitkräfte in eine Seestreitmacht zu verwandeln. In die Warnung vor der Gefahr der Hybris wird selbstverständlich auch das siegreiche Athen einbezogen.

Die Orestie ist die einzige vollständig erhaltene griechische Tragödien-Trilogie, bestehend aus dem Agamemnon, den Choephoren und den Eumeniden. Dieses letzte erhaltene Werk des Aischylos wurde 458 v. Chr. uraufgeführt.

Griechische Dramen – Aufführungspraxis

Tragödien, Komödien und Satyrspiele wurden in Athen bei den Festen zu Ehren des Gottes Dionysos, aufgeführt – im Rahmen eines Wettkampfs (agón). Am wichtigsten waren die sog. Großen Dionysien:

– Drei Tragödiendichter traten an jeweils einem Tag mit einer Trilogie von Tragödien und einem Satyrspiel (einer Art Mischung aus Tragödie und Komödie) – neuen Stücken, die nur für diese eine Aufführung geschrieben worden waren und nacheinander aufgeführt wurden.

– Beim Komödienwettstreit traten 3–5 Komödiendichter mit jeweils einem neuen Stück an.

Am Ende der Komödien- bzw. Tragödienaufführungen wurden jeweils die Sieger gekürt. Außerdem gab es neue Dramen beim Lenäen-Fest zu sehen, wo wiederum Preise verliehen wurden – hier lag der Schwerpunkt jedoch auf der Komödie.

Auf der Bühne wurden alle Rollen, auch die weiblichen, von Männern dargestellt. Zunächst gab es nur einen einzigen Schauspieler, der alle Rollen darstellte, mittels verschiedener Masken; Aischylos brachte einen zweiten Schauspieler auf die Bühne – eine bahnbrechende Neuerung. Ein dritter Schauspieler wurde von Sophokles in die Tragödie eingeführt.

Thema des Agamemnon ist einerseits die ruhmvolle Eroberung von Troja und andererseits der Untergang des Siegers Agamemnon. Der Chor erzählt, wie Agamemnon in der Bucht von Aulis durch widrige Winde festgehalten wird und Kalchas den Zorn der Artemis durch die Opferung der Iphigenie zu besänftigen rät. Agamemnon opfert die Tochter für den wegen einer Frau begonnenen Krieg. Agamemnon ist nicht nur wegen seiner Mordtat in Gefahr, sondern auch deshalb, weil er so viele Menschen für den Krieg geopfert hat. Denn jede Tat enthalte ihren Lohn oder ihre Strafe. Der Chor begrüßt Agamemnon und fordert ihn auf, wachsam zu sein. Er versteht aber die Warnungen des Chores nicht, weil er sie nicht auf sich selbst bezieht. Klytaimnestra beklagt ihr schweres Los während der Abwesenheit ihres Mannes und preist ihr Glück nach seiner Rückkehr. Agamemnon mahnt die Gattin, nicht zu übertreiben, damit die Götter nicht neidisch würden. Jetzt bringt der Chor seine Furcht vor dem Schlimmsten zum Ausdruck. Klytaimnestra fordert Kassandra auf, die Agamemnon aus Troja mitgebracht hatte, ins Haus zu kommen. Die Gefangene reagiert aber nicht. Erst der Chor bringt sie zum Sprechen, und sie verkündet, welches Unglück im Haus des Agamemnon in Kürze geschehen werde. Sie sagt nicht nur Agamemnons, sondern auch ihre eigene Ermordung voraus. Der Chor sträubt sich dagegen, an das Entsetzliche zu glauben. Kassandra geht todesbereit in den Palast, aus dessen Innern die Schreie des tödlich getroffenen Agamemnon dringen. Klytaimnestra tritt auf und bekennt sich zu der Mordtat. Der Chor droht ihr an, dass sie ihre ruchlose Tat dereinst zu büßen habe. Sie verliert jedes Maß. Die Verhöhnung des toten Feindes dürfte zwar im Athen des 5. Jhs. v. Chr. grundsätzlich nicht anstößig gewesen sein. Wie aber Klytaimnestra ihren Hass auf Agamemnon und Kassandra herausschreit, das haben wohl auch die Athener als außergewöhnlich empfunden, zumal die vor ihr liegenden Körper der Erschlagenen keine im Kampf getöteten Gegner, sondern Opfer einer heimtückischen Mordtat sind. Der Gott Apollon lässt es zu, dass Agamemnon und Kassandra (sogar doppelt!) verhöhnt werden – wie schon im Leben, so jetzt auch im Tod. Indem Aischylos Klytaimnestra die Mordopfer schmähen lässt, will er Apollons Niederträchtigkeit noch stärker hervortreten lassen. Denn was sie sagt, fällt auf diesen zurück:

Wenn Klytaimnestra sagt, Kassandra habe wie ein sterbender Schwan gesungen, so ist dies kein lyrisches Intermezzo, sondern wiederum eine Anspielung auf Apollons tödliche Wirkung, war doch der dem Gott geweihte Schwan mit seherischen Fähigkeiten ausgestattet. Allerdings singt der Schwan, laut Sokrates in Platons Phaidon (85a–b), nicht aus Traurigkeit, sondern weil er das Gute in der Unterwelt voraussieht.

Die Verhöhnung der toten Kassandra lässt auf den ersten Blick ein Mordmotiv erkennen, welches das Opfer selbst schon ausgesprochen hatte: Klytaimnestra werde sie ermorden, einfach weil sie nach Argos gebracht worden sei. Mit ihrer Schmährede bestätigt Klytaimnestra Kassandras Behauptung. Aber neben dieser (unbestrittenen) Kränkung war ein anderes Motiv für Klytaimnestra von ungleich größerer Bedeutung: Agamemnons Opferung seiner Tochter Iphigenie in Aulis. Aus Rache für ihr Kind und zu Ehren der göttlichen Mächte Dike, Ate und Erinys schlachtete Klytaimnestra ihren Mann (1432 f.). Kassandra war – wie gesagt – nur die Beilage zum Hauptgericht.

Obwohl also Agamemnons Ehebruch nicht das entscheidende Motiv der Mordtat war, so besteht doch zwischen Iphigenies und Kassandras Schicksal eine deutliche Verbindung: Wie Iphigenie schuldlos war an der Situation der griechischen Flotte in Aulis, so trug Kassandra keine Schuld an der Tötung Iphigenies durch Agamemnon. Beide Frauen sind vielmehr Opfer eines grausamen Götterpaares: Die Tötung Kassandras besänftigt Apollons Groll, der Tod der Iphigenie den von Apollons Schwester Artemis.

Auch wenn es nicht ungewöhnlich war, dass Götter sich so verhielten wie Apollon, der Kassandra an ihre Mörderin ausliefert, konnte und wollte Aischylos dieses Verhalten nicht entschuldigen. Auch wenn er den Gott nicht direkt anklagt, so ist sein Mitgefühl mit Kassandra doch verknüpft mit dem Widerwillen, den er gegen ihn empfindet – nicht zuletzt auch aufgrund dessen, dass Apollon Orest zum Muttermord zwang. Ein Gott, der solches fordert, konnte kein gerechter Gott sein kann.

Das grausame Doppelopfer der beiden Frauen und das Schicksal des Orest hat Apollon und Artemis zwar diskreditiert. Aber Aischylos – so scheint es – hält grundsätzlich daran fest, an die Güte göttlicher Macht zu glauben. Er sieht sie jedoch in dem einen Gott verkörpert, den er zunächst „Zeus“ nennt (Agamemnon 160–183), der dem Ausspruch „durch Leiden lernen“ (177) volle Geltung verleiht und selbst diejenigen, die sich sträuben, zur Vernunft bringt. Diese göttliche Macht bekommt später den Namen „Gerechtigkeit“, die den Leidenden auferlegt, sich um Einsicht zu bemühen (249 f.). Mehrfach lässt Aischylos den Chor ausrufen: „Das Gute soll siegen!“ Das ist gewissermaßen das Motto, unter das Aischylos das göttliche Wirken in der Zukunft stellt.

Die Tragödie Choephoren („Frauen, die das Totenopfer darbringen“) beginnt mit dem Gebet des Orest an Hermes. Er fühlt sich als Rächer seines Vaters im Einklang mit dem göttlichen Willen. Der Chor der Choephoren beklagt das Ausmaß der Freveltat: Klytaimnestra hat gegen die Weltordnung verstoßen. Durch den Gattenmord wurde die Familie, durch den Königsmord die Ordnung des Staates zerstört. Das Gesetz der Vergeltung fordert die Bestrafung der Täterin. Klytaimnestra schickt ihre Tochter mit Gaben der Versöhnung an das Grab des Vaters, doch Elektra betet um die Heimkehr ihres Bruders Orest und den Vollzug der Rache. Dann entdeckt sie, dass der Bruder schon am Grab war; es kommt zur Begegnung zwischen den Geschwistern. Orest bekennt sich zu seiner unausweichlichen Rachepflicht. Die Geschwister beklagen das Unglück des Vaters, das Vergeltung fordert. Orest empfindet diese aber nicht mehr nur als Pflicht: Er ist entschlossen, sie aus eigenem Wollen und eigener Verantwortung zu vollziehen. Zu Orests Frage, warum die Mutter Gaben der Versöhnung zum Grab ihres Opfers schicke, verweist die Chorführerin auf den bösen Traum Klytaimnestras, der ihr die Tötung durch den eigenen Sohn angekündigt habe. Der Chor nennt Beispiele menschlicher Gräueltaten und endet in der Hoffnung auf den Sieg des Rechts. Der Chor bittet Zeus und andere Götter um Hilfe für Orest und fordert diesen erneut dazu auf, kein Erbarmen zu zeigen und seine Tat zu vollenden. Schließlich berichtet die Chorführerin vom Vollzug der Tat: Aigisthos ist tot. Anschließend trifft Orest auf Klytaimnestra. Er zögert, erfüllt dann aber seine Rachepflicht. Der Chor frohlockt ob der vollzogenen Vergeltung. Am Schluss tritt Orest das Grauen der Tat in Gestalt der Rachegöttinnen, der Erinyen, vor Augen. Die Chorführerin erklärt ihm, er brauche Entsühnung durch Apollon, der ihm den Auftrag zum Muttermord gab.

Auch den noch hörst du, meiner Schwüre gült’gen Spruch:

Bei ihr, die rächen half mein Kind, bei Dike, bei

Ate, Erinys, denen ich ihn schlachtete:

Nicht tritt an Furcht mir der Gedank’ ins Haus hinein,

solang entflammt das Feuer mir an meinem Herd

Aigisthos, mir wie vordem wohlgesinnt und treu:

Denn der ist uns ein Schild, kein schwacher, unsres Muts.

Da liegt, der seinem Weib hier Schmach und Unrecht tat,

der Chrysestöchter Herzensschatz vor Ilion.

Die Kriegsgefangne – hier! Die Zeichendeuterin

und Beischläfrin von dem dort, die Wahrsagerin,

getreuer Bettschatz ihm, die Schiffsverdeckes Bank

mit ihm gedrückt! Doch ungestraft nicht taten sie’s:

Denn dem ging’s so! Und die, als sie nach Schwanes Art

den letzten noch gesungen, ihren Sterbesang,

liegt – da! sein Herzenslieb, mir aber brachte er

sie her, als leckre Zukost meiner Schwelgerei.1

(1431–1447)

Der dritte Teil der Orestie, mit dem Titel Eumeniden (die „Wohlgesinnten“), spielt zuerst im delphischen Heiligtum des Apollon, dann im Heiligtum der Athene auf der Akropolis in Athen. Orest sitzt am heiligen „Nabel der Welt“, und um ihn herum sind die Erinyen, seine Verfolgerinnen, vor Erschöpfung eingeschlafen. Apollon tritt zu Orest hin, verspricht ihm seine Hilfe und entsühnt ihn. Hermes soll ihn aber noch nach Athen geleiten zum Bild der Burggöttin, wo er Richter finde, die ein gerechtes Urteil fällen werden. Klytaimnestras erscheint als Schatten, um die Erinyen zu wecken. Die Szene in Delphi findet ihr Ende in einem Wortwechsel zwischen Apollon und der Führerin des Erinyen-Chores, nachdem der Gott die Erinyen zum Verlassen seines Heiligtums aufgefordert hatte. Die Chorführerin wirft Apollon vor, er trage die volle Schuld an der Tat des Orest. Apollon erklärt aber seinen festen Willen zur Rettung des Muttermörders. Orest, der sich vor dem Tempel der Pallas Athene in Athen befindet, bittet die Göttin um gnädige Aufnahme. Die Erinyen verfolgen ihn immer noch und wollen ihn nicht loslassen. Athene greift ein und erklärt ihre Absicht, ein Gericht einzusetzen, das für immer in Mordfällen Recht sprechen soll. Der Chor gibt zu bedenken, welche Folgen die Entmachtung der Erinyen haben werde, fordert aber auch ein gerechtes Leben ohne Zwang. In einer Gerichtsverhandlung, an der auch Athene teilnimmt, setzt sich Apollon für Orest ein. In den Plädoyers der Chorführerin der Eumeniden und des Gottes wird ein gewaltiger Konflikt sichtbar: Apollon steht für eine patriarchalische Götterwelt, in der die Tötung Agamemnons und das Rachegebot für Orest schwerer wiegen als die Mordtat an der Mutter. Die Erinyen aber vertreten die matriarchalische Welt, in der die Mutter alles gilt. Orest wird mit Stimmengleichheit freigesprochen, nachdem Athene ihm ihren Stimmstein gegeben hat. Schließlich kommt es auch auf der Ebene des Göttlichen zur endgültigen Versöhnung: die rächenden Erinyen haben sich in die „wohlmeinenden“ Eumeniden verwandelt und werden in Zukunft nur noch segensreich wirken.

Alle drei Teile der Orestie veranschaulichen ausweglose Pflichtenkollisionen: Agamemnon muss den Bruch des Gastrechts durch Paris und den Raub der Helena mit dem Krieg gegen Troja rächen; die von Artemis verursachte Blockade seiner Flotte zwingt ihn, entweder die Göttin durch Opferung seiner Tochter Iphigenie zu versöhnen oder seine Pflichten als Heerführer zu vernachlässigen:

Schwer ist mein Los, wenn ich nicht gehorche, schwer ist es aber auch, wenn ich mein Kind hinschlachte, den Glanz meines Hauses, und meine Vaterhände mit dem Blut des Mädchens am Opferstein besudele. Was ist ohne Schuld? Wie soll ich mit meinen Schiffen abziehen und meinen Bündnisschwur brechen? Denn es ist rechtmäßig, mit großer Leidenschaft nach dem Opfer, das den Sturm stillt, und dem Blut des Mädchens zu verlangen. Doch es möge uns am Ende alles gut ausgehen!

(Agamemnon 205–217)

Ähnlich steht später sein Sohn Orest vor dem Dilemma, entweder die eigene Mutter töten zu müssen oder die Racheverpflichtung gegenüber seinem ermordeten Vater unerfüllt zu lassen und zugleich seinen Herrschaftsanspruch aufzugeben. In beiden Fällen steht der Held vor der Entscheidung, von zwei einander widersprechenden moralischen oder politischen Forderungen nur die eine befolgen zu können und damit notgedrungen eine Pflichtverletzung gegenüber der anderen zu begehen. Aischylos ist der Überzeugung, dass derartige Verfehlungen von der jeweils zuständigen Gottheit geahndet werden. Daraus ergibt sich die Einsicht, dass der Mensch dem Risiko ausgesetzt ist, Entscheidungen treffen zu müssen, die zwangsläufig den Groll einer Gottheit erregen. Erst die menschliche Rechtsordnung, die in den Eumeniden von Athene gestiftet wird, wird die Notwendigkeit brutaler Racheaktionen ausschalten können.

Wie wurden seine Werke überliefert?

Der athenische Redner Lykurg soll in den 30er Jahren des 4. Jhs. v. Chr. ein offizielles und verbindliches Staatsexemplar der Tragödien des Aischylos angefertigt haben. Das war auch nötig, weil die Stücke vielfach aufgeführt wurden und dabei naturgemäß manche Veränderung erfuhren. Wahrscheinlich wurde dieses Exemplar durch Ptolemaios Euergetes auf illegale Weise nach Alexandria gebracht. Dort hat es der Vorsteher der berühmten Bibliothek, Aristophanes von Byzanz, unter seine wissenschaftliche Obhut genommen. In den Jahrhunderten der Römerherrschaft gingen zahlreiche Stücke (bis auf die sieben heute noch erhaltenen) weitgehend verloren. Im 9. Jh. diente ein Exemplar mit den sieben Tragödien als Grundlage für eine verzweigte Handschriftentradition. Das zuverlässigste Manuskript wurde um 1000 n. Chr. geschrieben, im 15. Jh. nach Italien gebracht und befindet sich jetzt in der Bibliotheca Laurentiana in Florenz. Dieser Codex Laurentianus enthält auch noch die sieben Sophokles-Tragödien und die Argonautika des Apollonios von Rhodos. Zur Gewinnung wertvoller Fragmente haben die Papyrusfunde im ägyptischen Oxyrhynchus beigetragen.

Wie lebten die Werke fort?

In der 405 v. Chr. aufgeführten Komödie Die Frösche erwähnt Aristophanes die Sieben gegen Theben und nennt sie ein „vom Kriegsgott erfülltes“ Stück (1021). Ausführlich vergleicht der Komödiendichter die Kunst der beiden Tragiker Aischylos und Euripides. Es findet ein großer Wettstreit statt, in dem die beiden einander ihre dramaturgischen Schwächen und andere Fehler vorhalten; außerdem geht es um die Frage, wessen Dichtung mehr Gewicht beanspruchen könne. Auch die sittlichen Maßstäbe der Dichtung werden ins Spiel gebracht, und in dieser Hinsicht ist Aischylos, der Dichter der altehrwürdigen Tragödie, dem „modernen“ Euripides offensichtlich überlegen. Die Entscheidung wird schließlich durch die Frage herbeigeführt, welcher der beiden Dichter für seine Vaterstadt der bessere Ratgeber in der politischen Situation der Gegenwart (Peloponnesischer Krieg) ist; der von Dionysos als Sieger benannte Dichter soll Athen den größeren Nutzen bringen. Die Entscheidung fällt zugunsten des Aischylos; dahinter steht die Sorge um die Zukunft Athens in der Zeit größter Bedrohung von innen und von außen, denn die Niederlage gegen die Spartaner (in der Schlacht von Aigospotamoi 405 v. Chr.) zeichnete sich bereits ab. Die Würdigung der beiden großen Tragiker Aischylos und Euripides mit den Mitteln der Parodie mündet ein in eine Entscheidung, die im kommenden 4. Jh. dadurch aufgehoben wurde, dass nicht Aischylos, sondern Euripides bevorzugt wiederaufgeführt wurde und als Vorbild für spätere Dichter diente.

Am Agamemnon, dem ersten der drei Stücke der Orestie, soll die Wirkung des Aischylos auf die Gegenwart exemplarisch durchgespielt werden. Die Verbindungslinie zwischen dem Agamemnon und ihrer Erzählung Kassandra (1983) hat Christa Wolf selbst gezogen, indem sie darauf hinwies, dass ihre Orestie-Lektüre eine entscheidende Voraussetzung ihrer Erzählung war. Christa Wolf vertritt die Auffassung, dass Aischylos in Kassandra eine gescheiterte Auflehnung gegen die Moral des Vaterrechts veranschauliche, das er vertrete, ohne sich von der früheren mutterrechtlichen Denkweise deutlich zu distanzieren; daraus erkläre sich auch Kassandras und Klytaimnestras Größe. Aischylos, der „männliche Dichter“, relativiere jedoch die Größe der beiden Frauen, indem er sie konfrontiere als sich gegenseitig hassend, eifersüchtig, kleinlich … Die Figur der Kassandra (so die Autorin) habe Aischylos aber nicht wirklich interessiert – jedenfalls nicht so sehr wie die Mörder Aigisthos und Klytaimnestra. Das trifft so sicherlich nicht zu; denn Kassandra ist für Aischylos keine Episodenfigur, sondern das unschuldige Opfer des durch und durch bösen und ungerechten Gottes Apollon. Christa Wolfs Reflexionen über Kassandra im Agamemnon des Aischylos beschreiben auf beeindruckende Weise, wie eine moderne Autorin dem „Stichwort“ Kassandra nachgeht und hilft, Aischylos aus einem ungewohnten Blickwinkel zu sehen.

Was bleibt?

Aischylos war davon überzeugt, dass im Gang der Geschichte nicht etwa der Zufall, sondern am Ende immer Recht und Gerechtigkeit siegen, die von einer höheren göttlichen Macht – er nennt sie Zeus – eingefordert und hergestellt wird. Er hat diese Überzeugung durch den Verlauf und den Ausgang der Perserkriege gewonnen und in seinen Tragödien dargestellt.

Griechische Schriftsteller

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