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2. Leben und sterben lassen

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Auf dem Tisch lag eine zweiundzwanzigjährige junge Frau. Sie war nackt und ihre Haare waren noch nass.

Sie zitterte. Sie hatte vor fünf Minuten noch unter der Dusche gestanden und hatte sich, wie ihr befohlen wurde, gründlich mit Seife und Shampoo gereinigt.

Maria Conzales hatte sich freiwillig vor den Augen des Doktors geduscht. Sie hatte sich auch freiwillig auf den OP-Tisch gelegt. Er hatte sie lange auf diesen Moment

vorbereitet. Sie glaubte nun, es werde ihr eine Niere entfernt und anschließend fände die lange Zeit der Gefangenschaft ein Ende und sie könnte wieder nach Hause gehen. Sie war aufgeregt. Einerseits erfreut, dass ihre Gefangenschaft in dem Kellergewölbe nun bald zu Ende war, andererseits wusste sie nicht, was gerade auf sie zukam.

Sie wurde nun schon seit zwei Monaten gefangen gehalten und war mit ihren Nerven am Ende.

Am Anfang hatte sie gebeten und gebettelt, man möge sie doch freilassen. Dann war sie wütend geworden und hatte den Teller mit der warmen Suppe, den man ihr auf den Tisch in ihrem kleinen Verlies gestellt hatte, gegen die Wand geschleudert. Das hatte zur Folge, dass sie zwei Tage lang hungern musste.

Sie hatte geschrien und getobt und dafür auch Schläge kassiert. Nach einigen Tagen ergab sie sich in ihr Schicksal und wurde ruhiger. Dann bekam sie auch Antworten auf ihre Fragen, die ihr Doc Matiss bereitwillig gab.

»Warum bin ich hier? Warum haben Sie mich entführt?«

»Nun, Maria. Sehen Sie, ich werde Ihnen kein Haar krümmen. Aber ich brauche etwas von Ihnen. Wenn Sie sich noch ein paar Wochen gedulden, verspreche ich Ihnen, dass Sie wieder freikommen.«

»Was wollen Sie denn von mir? Ich besitze doch nichts.«

»Doch Maria. Sie besitzen etwas, was jemand anderes dringend braucht. Auch eine junge Frau, wie Sie. Sonst stirbt sie. Das wollen Sie doch nicht, oder?«

»Nein, natürlich nicht. Aber was wollen Sie von mir?«

»Wir brauchen eine Ihrer Nieren.«

Maria Conzales erschrak zutiefst. Das war ein gewaltiger Schock und ihr Herz raste vor Aufregung. Man wollte ein Organ von ihr. Das durfte nicht sein!

»Nein! Damit bin ich nicht einverstanden! Nie!«

»Sehen Sie, Maria. Es geht kein Weg daran vorbei. Ich werde Ihnen eine Niere entfernen, dann erholen Sie sich etwas und anschließend fahren Sie mit dem Zug nach Hause.«

»Sie sind Arzt! Das sind Sie doch, wenn Sie mich operieren wollen! Oder? Sie haben doch so einen Eid geschworen! Sie dürfen das nicht tun!«

»Ach, das sehe ich etwas anders. Ich helfe doch damit Menschen, die sonst sterben würden. Und das ist doch mehr wert als ein hippokratischer Eid.«

»Es sind mehrere Menschen?«

»Ja. Es gibt auch mehrere Organspender wie Sie.«

Maria Conzales ahnte, dass sie keine Chance hatte, um

aus der Sache heil herauszukommen. Sie zwang sich, die Sache nüchtern zu betrachten.

»Wann wollen Sie mir die Niere entfernen?«

»Sobald die Frau, die sie bekommen wird, bereit ist für die Übertragung. In der Zwischenzeit möchte ich Ihnen den Aufenthalt hier so angenehm wie möglich machen. Was kann ich Ihnen besorgen? Nur Mut. Wünschen Sie sich etwas.«

Maria konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sie stand immer noch unter Schock. So antwortete sie automatisch.

»Zigaretten, Radio, Telefon, Fernseher.«

»Ok. Radio und Fernseher sind ok. Zigaretten können Sie bis nach der Operation vergessen. Das verengt die Aterien und wir wollen doch dabei keine Komplikationen. Ein Telefon bekommen Sie natürlich auch nicht. Wenn Sie mir versprechen, ab sofort schön brav zu sein, bringe ich Ihnen das Fernsehgerät morgen.«

»Ich bin aber Raucherin. Ich brauche meine Packung Zigaretten.«

»Nein. Nein. Das Rauchen haben Sie sich, seit Sie hier sind, abgewöhnt. Ist ungesund.«

»Aber warum denn? Sie wollen mir doch eine Niere entnehmen und nicht die Lunge?«

Das Gespräch verlief nicht im Sinne von Matiss. Er erhob sich ruckartig und verließ den Raum. Er wollte sich nicht verplappern und sie beunruhigen. Er wollte sie bei Laune halten. Hätte er ihr die Wahrheit gesagt, wäre der Aufenthalt bis zur Operation nicht so ruhig verlaufen. Dann hätte er ihr wahrscheinlich sehr hoch dosierte Beruhigungsmittel spritzen müssen und dabei wäre ein Versagen eines Organes nicht ausgeschlossen gewesen.

In den nächsten zwei Monaten fragte sie immer wieder nach dem OP-Termin, und immer wieder wurde sie vertröstet. Sie wartete ungewöhnlich lange auf ihre Operation.

Matiss kümmerte sich jedoch fast liebevoll um seine Gefangene. Schon nach der ersten Woche hatte er sie zu einem Spaziergang ermutigt.

Maria war sofort bereit und sprang auf. Sie hoffte insgeheim, entkommen zu können. Als sie aber die Raubkatze an der Seite des Doktors sah, schwanden ihre Hoffnungsgedanken dahin. Sie hatte Angst. Angst, sich zu schnell zu bewegen und damit den Jagdinstinkt des Tigers zu wecken. Sie hatte Angst, mit dem Tiger alleine zu sein.

»Du kannst dich frei bewegen. Aber geh nicht zu weit weg. Kimba holt dich schneller ein, als du glaubst. Und dann kann ich dir auch nicht mehr helfen. Ach, und noch was, drehe den Tigern nie den Rücken zu. Man kann nie wissen!«

Wie auf Befehl riss der Sumatratiger sein Maul auf und zeigte seine Zähne.

Maria zitterte vor Angst. Sie wollte wieder in ihre Zelle.

Dr. Matiss hielt sein Versprechen und fügte ihr keine physischen Schmerzen zu. Von seinem Gehilfen jedoch wurde sie mehrmals vergewaltigt und geschlagen.

Als sie nach der ersten Vergewaltigung die Sache dem Doktor berichtete, spielte dieser das Ganze herunter.

»Maria, du bist eine ganze Weile hier und sicher sehr einsam. Wenn Josef dir etwas Liebe zukommen lässt, solltest du ihm dankbar sein. Sei doch froh, dass er dir die Zeit etwas vertreibt. Du bist ein sehr schönes Mädchen. Wärest du nicht hier, hättest du doch sicher auch einen Freund, der mit dir schlafen würde. Also wehr dich nicht. Die Zeit wird kommen, wo du hier wieder raus sein wirst. Und dann vergisst du das alles.«

Damit war die Sache abgetan und Maria erzählte es ihm nicht mehr, wenn sie mal wieder vergewaltigt worden war. Sie hatte Angst, dass der Doktor ihr nicht glaubte und ihre Privilegien dann streichen würde. Freitags bekam sie frische Erdbeeren. Samstags Eis und am Sonntag sogar ein Stück Kuchen.

Dass der Doktor sich die Vergewaltigungen über eine Minikamera in ihrer Zelle, auf dem Computer ansah, ahnte sie nicht. So ahnte sie auch nicht, dass es dem Doktor egal war, was mit ihr geschah. Sie wusste nicht, dass ihr Wert lediglich mit achtzigtausend Euro gemessen wurde.

Jetzt, nach über zwei Monaten der Gefangenschaft, hatte sie am Morgen erfahren, dass sie heute operiert werden sollte.

Sie war aufgeregt. Sie hatte am Morgen nichts zu essen bekommen und musste ein starkes Abführmittel trinken. Es führte zu Magenschmerzen und Darmkrämpfen. Nachdem sich ihr Darm entleert hatte, ging es ihr besser und sie bekam ein Beruhigungstee und wurde zum Duschen ins Bad neben dem Operationsraum, der diesen Namen im Grunde nicht verdiente, geführt.

Nun lag sie nackt auf dem kalten Edelstahltisch und zitterte. Die feinen Härchen auf ihren Unterarmen und Beinen stellten sich auf. Maria bemerkte nicht, dass dies gar kein OP-Tisch für Menschen war, sondern zur Behandlung und vor allem dem Ausweiden von Tieren diente.

Nun gab ihr der Mann, der sich Doktor Matiss nannte, eine Spritze in die rechte Armvene.

Matiss sah der Frau in die Augen, streichelte ihre Wangen und sprach mit ihr.

»Nun, Maria. Jetzt hast du es gleich überstanden. Sobald du dich nach dem kleinen Eingriff erholt hast, werden wir dich in deine Heimat bringen. Dann musst du uns aber schnell vergessen, wie du es versprochen hast!«

»Ja. Ja. Das werde ich. Ich verspreche es.«

Sie dämmerte langsam in die Bewusstlosigkeit und schloss die Augen.

Matiss nahm an, dass sie schon narkotisiert wäre, und änderte sein Benehmen nun schlagartig.

Er ließ ihren Kopf los und sprach zu sich selbst.

»Ach, du armes Geschöpf. Du wachst nie mehr auf.«

Maria hörte diese letzten Worte zwar noch, konnte aber darauf nicht mehr reagieren. Nun war sie in tiefer traumloser, empfindungsloser Bewusstlosigkeit.

Sie würde nicht mehr aufwachen, denn ohne Nieren, Leber, Lunge, Bauchspeicheldrüse und Herz lebt man nun mal nicht mehr.

Sie war vor 18 Monaten von Spanien nach Deutschland gekommen, um bei einer Frankfurter Familie als Aupair-Mädchen zu arbeiten. Ein Jahr lang betreute sie die beiden kleinen Kinder der Familie und frischte so ihre Deutschkenntnisse auf. In Katalonien lebte sie mit ihrer Mutter und zwei Brüdern in Esparreguera, nur 50 Kilometer von Barcelona entfernt. Als sie nun nach einem Jahr nicht wieder zuhause ankam, wie es verabredet war, wurde sie von ihrer Mutter als vermisst gemeldet. Da sie kurz vor ihrer Abreise noch mit ihr telefoniert hatte, vermutete man, dass sie in Spanien eingetroffen war und hier verschwand. Man fand auf einem Rastplatz, nicht weit hinter der Grenze zu Frankreich, eine Tasche und einen kleinen Koffer mit ihren Sachen, Geschenke für Mutter und Brüder sowie ihrem Ausweis.

Ihre Mutter spürte instinktiv, dass sie ihre Tochter nicht wiedersehen würde und ergab sich sehr schnell in ihr Schicksal. In ihrer Trauer gab sie der Tochter eine Mitschuld an ihrem Verschwinden. Hatte sie nicht immer wieder gesagt, sie solle nicht trampen, sondern mit der Bahn fahren. Aber nein, die Bahnkarte wolle sie sparen, war die Antwort. Nun war es geschehen und sie würde ihre Tochter nie mehr sehen.

Das wusste sie genau! Sie spürte, dass ihr etwas zugestoßen war!

Sie konnte jedoch nicht ahnen, was genau mit ihrer Tochter geschehen war.

Das Organkartell

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