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WAS UNS IM NIBELUNGENLIED ERWARTET

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Inhalt und literarische Form

Bereits 1756 veröffentlichte Johann Jakob Bodmer eine erste Zusammenfassung des Inhalts des Nibelungenlieds, wobei er sich allerdings hauptsächlich auf denjenigen Teil des Nibelungenlieds beschränkte, der sich auf den Untergang der Nibelungen bezieht. Später enthalten die meisten ernsthaften Werke, die sich mit dem Nibelungenlied befassen, eine Kurzfassung dessen Inhalts. Eine sehr schöne, bebilderte Kurzfassung mit einem Text von Joachim Heinzle findet sich zum Beispiel in dem Buch Nibelungen Schnipsel von Helmut Hinkel.

Allen bekannten Kurzfassungen eine weitere, neue Version hinzuzufügen, ist unnötig. Deshalb wird hier eine Kurzfassung wörtlich wiedergegeben, die bereits 1817 von Franz Joseph Mone zu Papier gebracht worden ist und deren Ausdrucksform stark an ein Märchen erinnert:

Es saß im Niederland zu Xanten am Rhein ein alter König, der hieß Sigmund, und hatt’ einen einzigen Sohn, der hieß Sigfrit. Der bestand viel Abentheuer mit Drachen, Riesen und Zwergen, und wollt nicht mehr daheim bleiben bey seinem Vater. Zog also den Rhein hinauf nach der alten Stadt Worms, wo eine schöne Königstochter wohnte, die Sigfrit gern zum Weibe gehabt hätte. Es saß aber zu Worms ein König der Burgunder mit Nahmen Gunther, der hatte zwen Brüder Gernot und Giselher, und die schöne Schwester Chriemhilt. – Sigfrit ward gut empfangen und diente dem Gunther um seine Schwester, aber er durfte sie lange nicht sehen; und erst nach dem großen Sachsenkrieg, den er für Gunthern führte, sah er sie. Da hatte Gunther gehört von einer wunderschönen Frau über Meer, die wollt’ er zum Weibe haben. Aber Jeder musste zuvor mit ihr kämpfen, wer sie heimführen wollte. Da versprach Gunther dem Sigfrit seine Schwester, wenn er ihm helfen würde. Der that es gern, und sie fuhren hinab den Rhein nach Island, wo die schöne Brunhilt wohnte. Sigfrit hatte aber einen Mantel, und wenn er den anzog, so ward er unsichtbar und zwölfmal stärker dann ein andrer Mann; so kam es, dass er für Gunthern die Brunhilt erkämpfte. Zu Worms wurde die Hochzeit gefeiert, aber Brunhilt war traurig, denn sie hatte früher Sigfriden geliebt, sie kannten sich aber nicht mehr einander. Darauf bezwang Sigfrit dem Gunther die Brunhilt in der zwoten Nacht, und nahm ihr den Zaubergürtel und Ring, wodurch sie so stark war, und gab es seiner Frau Chriemhilt. Eines Tages saßen die Frauen im Hof, und schauten zu, wie die Helden miteinander ritten. Da sagte Chriemhilt: Mein Mann sollte über alle diese Länder Herr seyn. Darauf Brunhilt geantwortet: das kann nicht seyn, er ist ja Gunthern unterthan. Nein, sagte Chriemhilt. So bekamen sie Streit, und Brunhilt wollte sehen, ob sie nicht als die Königin des Landes vor Chriemhilden in die Kirche gehen dürfe. Chriemhilt aber hielt sie zurück, und zeigte ihr zornig den Ring und Gürtel, zum Beweise, dass Sigfrit sie bezwungen habe. Da weinte Brunhilt, und gedacht’ ihr Leid zu rächen. Es war aber ein Held an Gunthers Hof, der hieß Hagen, und versprach der Brunhilt ihr Leid zu rächen. Darauf sprengten Gunther und Hagen unwahre Nachricht aus, dass im Sachsenland wieder Krieg ausgebrochen sey. Sigfrit versprach ihnen zu helfen, Chriemhilt aber war sehr besorgt und angstvoll um ihren Mann, und als Hagen zu ihr zum Abschied kam, so sagte sie zu ihm, sie wolle ein kleines Kreuz auf Sigfrits Mantel zwischen die Schultern nähen, und Hagen sollte ihn doch ja in Acht nehmen, dass er da nicht getödtet würde, denn da war er allein verwundbar. Hagen der Ungetreue versprach es, und der Sachsenkrieg wurde aufgehoben, und sie wollten dafür eine Jagd halten im Odenwald. Da bat Chriemhilt weinend ihren Mann, daheim zu bleiben, aber der gieng dennoch mit, und nach der Jagd hielt er mit Hagen einen Wettlauf zu einem Brunnen. Sigfrit kam früher zum Ziel, und als er trank, durchstach ihm Hagen die Schultern, dass er todtwund in die Blumen fiel und starb. Er wurde zu Worms im Münster begraben, aber Chriemhilt beklagte ihn ihr Leben lang und konnte ihn nicht vergessen.

Das ist die Geschichte von Sigfrits Tod.

Nach seiner Ermordung heiratete Chriemhilt den König Etzel von Hunnenland. Lange Jahre verflossen, sie vergaß die Rache nicht, und lud ihre Freunde zu einem großen Feste an Etzels Hof. Sie kamen in der Ahnung ihres Schicksals. Da gewann Chriemhilt den Blödel, Etzels Bruder, dass er beim Essen den Dankwart, Hagens Bruder angriff. Er ward aber mit fünfhundert Genossen von Dankwarten erschlagen. Es kamen immer neue Schaaren von Feinden, und es wurden zweitausend hunische Ritter und neuntausend Knechte von den Burgunden niedergehauen. Da entrann Dankwart, allein noch übrig, zu seinem Bruder in den anderen Speisesaal. Hagen darob erbost, schlug Etzels Söhnlein todt, und ließ niemanden aus dem Saal, als Etzeln, Chriemhilden, Dieterichen und Rüdigern mit ihren Mannen, die anderen Hunnen aber wurden all’ in dem Speisesaal erschlagen, und sie warfen über siebentausend Todte hinaus. Da brachte Hagens Hohn den Etzel auf, und dieser ließ nach und nach all’ seine Helden gegen die Burgunden ausziehen. Zuerst den Iring von Dänemark und Irnfrit von Thüringen, sie erlagen aber im Streit mit tausend ihrer Mannen. Da sandte Etzel zwanzig tausend Mann in die Schlacht, die Nacht brach ein, und die Burgunden boten Versöhnung an, aber Etzel schlug sie aus. Nun ließ Chriemhilt auch den Saal anzünden, und die Burgunden kamen so in die Noth, daß sie vom Blut der Erschlagenen tranken. Es waren ihrer nur noch sechshundert übrig. Da zwang auch Chriemhilt endlich den Rüdiger gegen die Burgunden zu kämpfen, er ging weinend mit ihnen zum Streit, und erlag mit Gernot im Zweikampf sammt fünfhundert Mannen. Seinen Leichnam forderten Dietrichs Helden, die Burgunden gaben ihn aber nicht heraus, und so gieng auch der Kampf mit Dietrichs Helden an, die all’ erschlagen wurden, bis auf den alten Hildebrant, der mit einer schweren Wunde vor Hagen entrann, und zu Dieterichen kam. Da erhob sich der starke Dieterich in seinem Leide, und stritt allein gegen die zween letzten noch übrigen Burgunden, Gunthern und Hagen. Er bat sie, sich ihm zu ergeben, und versprach ihnen sichere Heimkunft. Aber sie wollten nicht Geissel werden und wählten lieber den letzten Kampf, und so überwand er beide, und übergab sie gebunden der Chriemhilt, aber befahl ihr scharf, ihnen nichts Leides zu thun. Dieterich gieng und zog seinen Harnisch aus, aber Chriemhilt forderte von Hagen den Schatz der Nibelungen, er schwieg. Da gedachte sie der Vollendung ihrer Rache und ließ ihrem Bruder sein Haupt abschlagen. Das trug sie vor Hagen, der aber verfluchte sie. Und so hieb sie dem gebundenen Helden selber sein Haupt ab mit Sigfrits Schwert. Das sah der alte Hildebrant, sprang grimmig herbey, und hieb Chriemhilden in Stücke. Etzel und Dieterich weinten über die gefallenen Helden.

Und das ist die Geschichte von der Nibelungen Noth.

Dem Leser wird vielleicht aufgefallen sein, dass in dieser Kurzfassung Siegfrieds frühe Heldentaten, wie der bekannte Kampf mit dem Drachen, die Gewinnung des Nibelungenschatzes sowie Siegfrieds Fahrt nach Island, nicht vorkommen. Dazu muss man wissen, dass diese im Nibelungenlied nicht enthalten sind beziehungsweise dort nur beiläufig erwähnt werden. Mit einer Ausnahme: Hagen von Tronje erzählt seinen Herren, wie Siegfried den Nibelungenschatz erbeuten konnte.

Franz Joseph Mone hat aber in seiner Schrift von 1817 eine weitere Kurzfassung aufgenommen, die so kurz ist, dass sie sich schon fast als SMS per Handy versenden lässt und in der sogar die frühere Beziehung zwischen Siegfried und Brunhild vorkommt. Lesen Sie:

Sigfrit hat Brunhilden zuerst geliebt, sie verlassen und Chriemhilden geheyrathet. Das entdeckt Brunhilt durch Chriemhilds Plauderey, und läßt Sigfriden ermorden. Chriemhilt heyrathet darauf den Etzel, und läßt die Mörder mit ihrem ganzen Geschlecht vertilgen.

Kürzer geht es nicht.

Wenden wir uns jetzt der literarischen Form des Nibelungenlieds zu.

Im 19. Jahrhundert wurde das Nibelungenlied häufig als Nationalepos bezeichnet, weil man darin eine Verklärung des deutschen Nationalcharakters zu erkennen glaubte. Es war dies die Zeit der französischen Besetzung Deutschlands und der darauf folgenden Befreiungskriege, also eine Zeit der Entfaltung des Patriotismus und des Nationalgedankens. Das wiederentdeckte Nibelungenlied erfüllte daher bald die Voraussetzungen eines Nationalepos. Diese Bezeichnung haben die Nationalsozialisten gerne übernommen. Auch heute noch sprechen manche Autoren vom „Nationalepos“, vorsichtshalber in Anführungszeichen gesetzt, denn die Verklärung des Nibelungenlieds in der Zeit des Nationalsozialismus wirkt noch immer nach. Ulrich Schulte-Wülwer spricht gar in seinem Buch Das Nibelungenlied in der deutschen Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts von „den Perversionen, denen das Epos zur Zeit des Faschismus ausgesetzt war.“

Ersatzweise wird das Nibelungenlied deshalb gerne als Heldenepos bezeichnet. Aber lediglich die Figur Siegfrieds deckt sich mit den Vorstellungen eines Helden aus der Zeit des Mittelalters. Ansonsten lassen sich im Nibelungenlied keine Helden erkennen, zumindest nicht aus heutiger Sicht. Denn wer würde heute noch in dem Mörder und Dieb Hagen einen Helden erkennen wollen? Oder in Meister Hildebrand, der Kriemhild in Stücke hieb, weil sie sich an dem Mörder ihres Mannes und ihres Sohnes rächte?

Der im 19. und 20. Jahrhundert betriebene Missbrauch des Nibelungenlieds für politische Zwecke gründet sich im Wesentlichen darauf, dass ihm der Nationalgedanke oder das Heldentum, kurzum ein nationaler Mythos, unterstellt wurden. Dies gipfelte schließlich in Hermann Görings berüchtigter „Stalingradrede“ am 30. Januar 1943, deren sich auf das Nibelungenlied beziehende Passage wie folgt lautet:

[…] Und aus all diesen gigantischen Kämpfen ragt nun gleich einem gewaltigen, monumentalen Bau Stalingrad, der Kampf um Stalingrad heraus. Es wird dies einmal der größte Heroenkampf gewesen sein, der sich jemals in unserer Geschichte abgespielt hat. Was dort jetzt unsere Grenadiere, Pioniere, Artilleristen, Flakartilleristen und wer sonst in dieser Stadt ist, vom General bis zum letzten Mann, wer da jetzt kämpft gegen eine gewaltige Übermacht um jeden Block, jeden Stein, um jedes Loch, um jeden Graben, immer wieder kämpft, ermattet, erschöpft – wir kennen ein gewaltiges, heroisches Lied von einem Kampf ohnegleichen, das hieß ’Der Kampf der Nibelungen’. Auch sie standen in einer Halle von Feuer und Brand und löschten den Durst mit eigenem Blut – aber kämpften und kämpften bis zum letzten. Ein solcher Kampf tobt heute dort, und jeder Deutsche noch in tausend Jahren muss mit heiligem Schauern das Wort Stalingrad aussprechen […]

Eine Transkription der vollständigen Rede Görings findet sich bei J. Heinzle et al. in Die Nibelungen, Sage-Epos-Mythos.

Dass sich nach dem Zweiten Weltkrieg außerhalb der Universitäten niemand mehr mit dem Nibelungenlied befassen wollte, ist nur allzu verständlich.

Dann ist das Nibelungenlied also nur ein Lied dramatischen Inhalts?

Der gebräuchliche Titel Nibelungenlied rührt daher, dass die letzte Strophe der Handschrift C endet mit Daz ist der Nibelunge liet. Allerdings bedeutet das mittelhochdeutsche Wort „liet“ nicht nur „Lied“, sondern auch „Dichtung“ oder „Gedicht“ (nachzulesen in Beate Hennigs Kleines mittelhochdeutsches Wörterbuch). Da die Handschrift C offenbar häufig als Vorlage für weitere Abschriften diente, war die „Liet“-Version auch am weitesten verbreitet. Bereits die erste gedruckte Veröffentlichung im Jahr 1757 verwendet in ihrer Einleitung den Begriff Das liet der Nibelungen.

Die sehr oft zitierte Handschrift B dagegen endet wie auch die Handschrift A mit Daz ist der Nibelunge nôt. Obwohl gerade frühe Editionen diesen Titel verwendeten, hat er sich als Buchtitel nicht durchgesetzt – „Nibelungenlied“ klingt einfach viel ansprechender.

Die Abbildung auf Seite 17 zeigt die Endzeilen der Handschriften C („liet“) und B („nôt“). Auf das Nibelungenlied folgt in beiden Fällen unmittelbar die „Klage“ ohne Abschnitts- oder gar Seitenumbruch. Das beweist die enge Zusammengehörigkeit von Nibelungenlied und Klage.

Somit ist das Nibelungenlied vielleicht gar kein Lied, obwohl es durch die für die Heldenepik typische Strophenform durchaus als sangbar gilt. Werner Hahn hat deshalb auch die Bezeichnung „Volksgesang“ gewählt. Dass es überhaupt gesungen werden kann, wurde dennoch lange angezweifelt. Der Österreicher Eberhard Kummer hat zwar das Gegenteil bewiesen und nach gründlicher Vorarbeit das Nibelungenlied auf Mittelhochdeutsch in voller Länge gesungen. Und dies schon mehrmals. Aber das bleibt eine Ausnahme.

Was also ist das Nibelungenlied dann?

Es ist ganz einfach ein bedeutendes, mittelalterliches deutsches Epos, dessen Zentralfigur Kriemhild ist, und deren Schicksal mit dem von Siegfried und dem der Nibelungen verknüpft ist. Folgerichtig ist die Handschrift D, der sogenannte „Prunner Codex“, im Original betitelt als Daz ist daz Buoch Chreimhilden (Das ist das Buch Kriemhilden).

Und dann ist das Nibelungenlied noch etwas ganz Besonderes: es ist Weltdokumentenerbe. Neben dem UNESCO-Weltkulturerbe gibt es nämlich auch ein Weltdokumentenerbe. Das UNESCO-Weltregister Memory of the World ist ein weltumspannendes digitales Netzwerk mit ausgewählten herausragenden Dokumenten. Dazu gehört seit 2009 das Nibelungenlied. Auf der UNESCO-Website (www.unesco.org) heißt es unter der Überschrift Song of the Nibelungs, a heroic poem from mediaeval Europe:

The Nibelungenlied (The Song of the Nibelungs) is probably the most famous heroic poem in Middle High German. It is comparable with other world-famous epics such as the epic of Gilgamesh of Ancient Babylonia, the Mahabharata of Ancient India, or the Heike Monogatari in mediaeval Japan.

It tells the story of dragon-slayer Siegfried from his childhood days and his marriage to Kriemhild to his murder and the subsequent story of Kriemhild’s revenge, finally culminating in the extinction of the Burgundians or Nibelungs at the court of the Huns.

Das Weltdokumentenerbe Nibelungenlied umfasst die Handschriften A, B und C.

In frühen englischen Veröffentlichungen über das Nibelungenlied wird allerdings nicht vom Song of the Nibelungs gesprochen, sondern es wurde der deutsche Titel als The Nibelungenlied beibehalten.


Endzeile der Handschrift C


Endzeile der Handschrift B


Blatt 1v der Handschrift C (Ausschnitt)

Nibelungenland

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