Читать книгу Perry Rhodan Neo 218: Abstieg in die Zeit - Rainer Schorm - Страница 7
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Laura Bull-Legacy: Krankenbesuch
Es war nicht weit.
Das Schiff war übersichtlich. Um nicht zu sagen: klein.
Laura Bull-Legacy blieb stehen. Es war nichts anderes als ein untauglicher Versuch, einem unangenehmen Ereignis aus dem Weg zu gehen. Ein bitteres Gefühl machte sich in ihr breit, nicht zum ersten Mal. Jeder Besuch an Perry Rhodans Krankenbett war eine Qual.
»Ich habe mich noch immer nicht daran gewöhnt«, murmelte sie, dann ging sie weiter. Die Medostation an Bord der FANTASY war naturgemäß nicht auf dem Stand eines der wirklich großen terranischen Raumschiffe wie etwa der CREST II oder gar der MAGELLAN. Dort ähnelten die medizinischen Areale eher kleinen Stadtteilen. Die FANTASY jedoch war gerade mal 280 Meter lang und schlank. Zudem war sie ein Prototyp, ein Experimentalschiff für eine kleine Besatzung. Da blieb nicht viel Raum für medizinische Hochtechnik.
Sie kam an einem Patientenzimmer vorbei. Das Schild verriet, wer darin untergebracht war. Paul Butler Yeats war schwer verletzt worden. Auf der KORRWAK, einem Raumschiff der Sleeker. Ein Shafakk hatte ihn übel zugerichtet. Ganz ohne Zweifel wäre der Multi-Techniker auf der MAGELLAN längst wiederhergestellt, wenngleich vielleicht nicht unbedingt dienstfähig gewesen. Aber auf der FANTASY zog sich die Rekonvaleszenz in die Länge. Yeats würde überleben, das war längst klar, aber er würde viele Beeinträchtigungen zurückbehalten. Ob seine Zellschäden später heilbar waren, stand in den Sternen.
»Wir wissen nicht mal, ob wir zurückkehren können«, sagte Laura leise. »Ganz bestimmt nicht alle, so wie's aussieht.«
Die NATHAN-Interpreterin stand wie ihre Zwillingsschwester im Ruf, sehr klug zu sein. Das war korrekt, half aber in Situationen wie dieser nicht. Intelligenz, die man nicht nutzen konnte, weil es keine Umsetzungsmittel gab, war eher eine Belastung. Die eigene Hilflosigkeit zu erkennen, tat weh. Sie war immer stolz auf ihren scharfen Verstand gewesen. In Situationen wie dieser allerdings präsentierte er ihr immer wieder die ganze Ausweglosigkeit.
»Es gibt keine Probleme, nur Lösungen«, dachte Laura bitter. Es ist unglaublich, wie viele dieser bescheuerten Sprüche es gibt. Und viele halten sie tatsächlich für Weisheiten.
Die Wände des Korridors waren schmucklos, kaum strukturiert, bis auf die technischen Funktionselemente. Die Farben waren neutral, hauptsächlich Grautöne mit unterschiedlichen Farbstichen, meist ins Bläuliche hinein.
Ich zögere es hinaus, gab Laura vor sich selbst zu. Und das, obwohl ich genau weiß, was mich erwartet. Es ist ja nicht so, dass ich ihn zum ersten Mal besuchen würde. Kein gutes Zeichen.
Das Rumoren, das durch den Schiffsleib zog, hörte sich beinahe an, als würde etwas verdaut werden. Das lag an den vielen Schäden, die die FANTASY erlitten hatte. Wie bei Yeats stand keinesfalls fest, dass sie je wieder völlig in Ordnung kommen würde. Yeats selbst hätte daran wahrscheinlich die größten Zweifel. Der Techniker wusste zu viel über seinen Zustand.
Manchmal sind Illusionen tatsächlich tröstlich, dachte Laura. Gleichgültig, wie falsch sie sind.
Sie hatte die letzte Transition abgewartet. Die Zentrale meldete, dass man Kurs auf Lashat genommen hatte. Laura hatte die wenigen Daten, die es über das Notemesystem gab, studiert. Die Sonne Noteme entsprach etwa Epsilon Eridani und war somit etwas kleiner und röter als die heimische Sonne. Im Gegensatz zu Epsilon Eridani war Noteme beinahe vom selben Alter wie Sol: knapp über vier Milliarden Jahre. Daher rotierte der Stern im Unterschied zu Epsilon Eridani sehr viel langsamer, und eine Staubscheibe existierte längst nicht mehr.
Ein kleiner, heißer Stein- und Metallbrocken kreiste eng um Noteme, »Gush« genannt. Drei Eisriesen von der Größe Neptuns oder des Uranus zogen weit draußen ihre Kreise, schweigend und kalt wie die Hölle. Dante hätte seine Freude daran gehabt. Merkoshs Auskünfte darüber waren spärlich, demnach existierten im Bereich der anderen Planeten keine Stützpunkte, nicht mal auf ihren zahlreichen Monden.
Lashat hingegen war erdähnlich und lag mitten in der habitablen Zone, die um Noteme etwas schmaler ausfiel als im Sonnensystem der Erde. Über die Bedingungen auf Lashat sprach Merkosh nur sehr unwillig, wenn überhaupt. Er meinte, er könne die aktuellen Zustände dort kaum beurteilen, weil er den Planeten vor längerer Zeit verlassen hatte.
Was auch immer das genau bedeuten soll, dachte Laura beunruhigt. Was mag das für eine Welt sein, wenn er dort gravierende Veränderungen in einem relativ kurzen Zeitraum für wahrscheinlich hält? Was könnte dort los sein ... und was heißt das für uns?
Damit hatte sie den wesentlichen Punkt im wirren Spiel ihrer Gedanken erreicht. Sie betrat die Quarantäneschleuse, die den Zugang zur Intensivstation abriegelte. Hinter ihr glitt die Außentür zu, Druck lag auf ihren Ohren. Die Medostation hatte eine eigene Luftversorgung, und der Luftdruck dort war niedriger, um eine Verbreitung von Keimen in die restliche Bordatmosphäre zu verhindern.
Grünes Licht flammte auf, und die Innentür glitt beiseite – der Weg war frei.
Sie ging in den kleinen Raum dahinter. Was sie irritierte, war die Anwesenheit des MINSTRELS. Warum hielt sich der NATHAN-Ableger in der Krankenstation auf? Laura ahnte, dass die ultrakompakte, anorganische Intelligenz in Perry Rhodan einen wichtigen Faktor sah. Wie und warum das so war, wusste sie nicht. Auf entsprechende Fragen schwieg der MINSTREL stets.
Sophie war ebenfalls da, und zumindest das war keine Überraschung. Regungslos saß ihre Zwillingsschwester in einem provisorisch bereitgestellten Stuhl und sagte nichts. Ihre Stummheit hatte sie verändert. Laura spürte es eher, als dass sie es beschreiben konnte. Durch ihren Kontakt zum MINSTREL, der die Expedition auf Anordnung der Hyperinpotronik NATHAN begleitete, waren die Zwillinge enger miteinander verbunden als alle anderen. Dennoch klaffte seit Kurzem ein Riss zwischen ihnen, den Laura nicht einordnen konnte. Mehr noch, der ihr Angst einjagte. Ob NATHAN wusste, was Angst war?
Sie suchte Zuflucht im Humor. »Hyperinpotronik« ... Im Grunde bedeutet der Begriff nur: Wir haben keine Ahnung, was du wirklich bist! Aber geben wir der Sache einen netten Namen, damit wir die Angst im Zaum halten können. Es ist wie in archaischen Gesellschaften: Kenne ich deinen Namen, habe ich Macht über dich!
Sophie sah auf. Dunkle Ringe unter ihren Augen bewiesen, dass sie genauso wenig geschlafen hatte wie Laura selbst.
Auch das hat nichts genützt. Nur weil ich meine Kabine aufgesucht habe, hat sich nichts geändert. Nicht nur ich, wir alle, nehmen die Bilder in unserem Kopf mit uns. Aber sie könnte es als Versuch werten, dass ich mich von ihr abwende. Wir haben uns entzweit, und jetzt verstärkt jede kleine Geste diesen Eindruck. Ich wollte das nicht ... und sie sicher ebenso wenig.
Dabei hatten Laura und Sophie Bull-Legacy eine Art Stillhalteabkommen geschlossen; ohne Worte sozusagen. Rhodans Heilung war für beide das Wichtigste, und zumindest was das anging, waren sie sich einig. Sie würden ihre Differenzen irgendwann ausdiskutieren, vielleicht sogar heftig streiten, aber nicht im Moment und auf keinen Fall an diesem Ort.
Da lag er: schweigend, die Augen geschlossen, die Wangen eingefallen. Perry Rhodan war bleich, das Gesicht hatte die Farbe ausgebrannter Asche. Das dunkelblonde Haar sah spröde aus, die Haut trocken und beinahe brüchig.
Laura hatte sich immer gefragt, was Leute wohl sagen wollten, wenn sie davon sprachen, jemand sei »durchscheinend«; nun sah sie es mit eigenen Augen. Perry Rhodan hatte Substanz verloren, als sei das Fleisch verdunstet und habe die Haut zurückgelassen wie eine dünne Hülle aus Pergament.
Neben der Chefärztin Pari Sato war ihre Assistenzärztin Lena Olsen anwesend. Beide ließen sich durch Lauras Eintreten nicht stören.
»Wie geht es ihm, Doktor Sato?«, fragte Laura.
Die Ärztin hob den Kopf, auf dem pechschwarzen Haar lag ein leicht bläulicher Schimmer. Sie machte ebenfalls einen erschöpften Eindruck. Dass Rhodan ein wichtiger Patient war, lag auf der Hand, aber da war noch etwas anderes.
»Es geht ihm schlecht«, antwortete Sato. »Das wird Sie nicht überraschen. Immerhin leidet der Protektor bereits eine ganze Weile unter diesen Ausfallerscheinungen.«
Laura musterte Rhodan. Seine Nase wirkte spitzer, als sie das in Erinnerung hatte. Die Wangen wölbten sich ungesund nach innen. »Er sieht ... unheimlich aus.«
»Er hat das hippokratische Gesicht«, sagte Sato. »Es ist typisch für Sterbende, besonders für Menschen, die sich in Agonie befinden. Man kennt diese Symptome seit der Antike. Sie wurden zum ersten Mal von Hippokrates von Kos beschrieben.«
»Kein gutes Zeichen«, flüsterte Laura.
»Nein, ganz und gar nicht«, bestätigte Sato. »Es geht zu Ende. Daran gibt es nichts mehr zu rütteln. Wir sind am Ende unserer Möglichkeiten angelangt. Ich glaube, nicht mal auf Mimas wäre noch Hilfe möglich. Wahrscheinlich sogar nicht mal auf Aralon ... Sud hätte ihm vielleicht helfen können, nehme ich an. Als ... Parabegabte, nicht als Ärztin im normalen Sinn. Ihre Gabe ist beeindruckend. Ich wurde ein paarmal Zeuge, wie sie ihre Psi-Fähigkeit einsetzte. Wie auch immer: Sud ist nicht hier.«
Laura warf ihrer Schwester einen fragenden Blick zu, der den MINSTREL streifte. Sophie schüttelte nur düster den Kopf.
Natürlich hat sie gefragt, wurde Laura klar. Aber obwohl NATHAN sehr viel mehr weiß als wir alle zusammen, sogar über uns: Er ist kein Arzt. Wahrscheinlich verfügt er über ein gewaltiges Arsenal an medizinischen Fakten, biologischen und chemischen Kenntnissen. Aber alles, was mit Patienten zusammenhängt, überfordert ihn wahrscheinlich nach wie vor. Zumindest das Dunkelleben ist für die Hyperinpotronik ebenso rätselhaft wie für uns. Aber warum ist er dann hier – in Gestalt des MINSTRELS? Voyeurismus ist ihm fremd.
»Sie sind sicher, was die Diagnose angeht?«, fragte sie dennoch.
Satos Blick war mitleidig. Die erfahrene Ärztin hatte wahrscheinlich genügend Erfahrung, nicht nur mit Sterbenden, sondern ebenso mit denen, die hilflos und schmerzgeplagt zurückblieben. Sato streifte einen Ärmel des Krankenhemds zurück.
»Was ist das?«, fragte Laura unruhig.
»Das nennt man Kirchhofrosen«, sagte Sato leise. »Dass sie am Oberarm auftreten, ist nicht allzu häufig.«
Laura musterte die rosettenförmige, rötlich blaue Verfärbung. »Was ist das?«, fragte sie nochmals. »Ich habe das Wort nie zuvor gehört.«
»Es sind Totenflecken, die bei noch Lebenden auftreten.« Die Assistenzärztin Olsen sprach nur zögerlich. »Während der Agonie sinkt das Blut in tiefere Teile des Körpers ab. Das führt zu diesen Verfärbungen.«
Lauras Mund war übergangslos staubtrocken. »Soll das ... heißen ... Heißt das etwa ...?«
Das kann einfach nicht wahr sein, dachte sie verzweifelt. Wir stehen kurz davor, Lashat zu erreichen. Wir haben so viel durchgemacht ... Und jetzt ist es zu spät? So kurz vor dem Ziel ...?
Sato schloss kurz die Augen. »Ja. Er stirbt. Obwohl ich nicht sagen kann, wie lange es sich hinziehen wird. Mister Rhodan ist in vielerlei Hinsicht ungewöhnlich. Das wissen Sie besser als ich.«
Von Sophie kam ein ersticktes Geräusch. Laura sah, dass ihre Augen wässrig glänzten.
»Kann man ...«, setzte Laura an.
»Wir haben alle nötigen palliativen Behandlungen eingeleitet«, sagte Sato. »Schmerzbehandlung, alles, was nötig ist, um ihm das Ende erträglicher zu machen.«
»Erträglich!«, stieß Laura hervor.
»Wahrscheinlich eine unglückliche Wortwahl«, gab Sato zu. »Unter normalen Umständen gehört dazu die Anwesenheit von Familie und Freunden.«
»Seine Familie ist nicht hier, sondern Zehntausende von Lichtjahren entfernt«, sagte Laura bitter. »Neben mir und Sophie sind ein paar alte Freunde an Bord. Aber Conrad Deringhouse und Gabrielle Montoya sind nicht abkömmlich. Sie werden in der Zentrale gebraucht und leiten den Anflug auf Lashat. Da sie ihre Pflichten überaus ernst nehmen, werden sie nicht kommen können. Sosehr ihnen das jetzt und später zusetzen wird. Sie werden furchtbar darunter leiden. Wir alle sind aufgebrochen, um Perry Rhodan zu helfen. Er selbst hat seine Familie abgehalten mitzukommen, weil er die Verantwortung allein übernehmen wollte. Als Preis dafür stirbt er nun in der Fremde – allein.«
»Sie beide sind hier«, sagte Olsen sanft.
Laura schluckte. »Er hat drei Kinder. Eine Frau, die ihm mehr bedeutet als das eigene Leben. Unser Vater wäre sicher hier, wenn er könnte. Sophie und ich sind nur ein müder Ersatz.«
Olsen schwieg. Sie spürte wohl, dass Laura ihre Worte ernst meinte, ohne dass diese abwertend gemeint waren.
Laura fühlte Sophies Verzweiflung, als sei es ihre eigene. Die Verbindung über den MINSTREL funktionierte reibungslos, sogar in dieser recht oberflächlichen Form. Durch sie trug jede der beiden die emotionale Last der anderen, ohne dass dies Erleichterung gebracht hätte.
Da nützt nicht mal eine Umarmung etwas, dachte sie müde. Man sieht im anderen, wie es einem selbst früher oder später ergehen wird. Das Leben endet tödlich, und nichts wird am Ende gut.
Sie ließ sich tiefer in den Konnex fallen, die Verbindung zum MINSTREL, die auf gewisse Weise dem Kontakt eines Emotionauten mit seinem Raumschiff ähnelte. Sie fühlte die ganze Fremdartigkeit des NATHAN-Ablegers. Sie war nicht feindlich oder bedrohlich, aber wohl fühlte sich Laura ebenfalls nicht. Sophies Gegenwart hingegen war ein Quell von Wärme und Geborgenheit.
Gibt es nichts, was wir tun können?, fragte Laura.
Der MINSTREL antwortete nicht konkret. Die Informationen, die er umwälzte, erinnerten sie eher an Melodien, die sich ergänzten und zu einem höherdimensionalen Gebilde verwoben.
Eine Fuge, erinnerte sie sich an ein Gespräch, das sie vor langer Zeit mit Leibnitz auf dem Mond geführt hatte. Der rätselhafte Mann hatte mit Monade, einer Posbi, eine dauerhafte Verbindung, die der von Laura und Sophie mit NATHAN glich. Der musikalische Vergleich war wohl der beste Beweis, dass die Bezeichnung zutreffend war. NATHAN hatte den Namen MINSTREL gewiss nicht ohne Grund gewählt.
Er ist ein Sänger, keine Frage, dachte Laura.
Sie spürte die Gedanken ihrer Zwillingsschwester, und für einen kleinen Moment fühlte sie sich geborgen und gut aufgehoben. Aber der Moment verging, und sie stieß auf etwas, das sie nicht erwartet hatte. Da war etwas wie eine Barriere. Diese isolierte einen Datenbereich, der Laura vollkommen unzugänglich blieb. Sie spürte auch Sophies Verblüffung – beinahe wie eine körperliche Berührung.
Was ist das?
Eine Antwort erhielt sie nicht. Als sie versuchte, auf das fragliche Areal zuzugreifen, prallte sie ab. Häufig assoziierte sie abstrakte Vorgänge und Abläufe mit Bildern. In diesem Fall hatte sie eine fast ätherische Ansammlung dünnster Membranen vor dem geistigen Auge, beinahe zerknüllt, wie Klarsichtfolie. Doch der Kontakt selbst glich eher der Berührung von gehärtetem Glas. Die Überraschung spülte sie förmlich aus dem Konnex hinaus. Sie registrierte, dass Sophie nach Luft schnappte. Der MINSTREL hielt seine beiden Interpreterinnen von etwas fern. Das war neu.
Das ist nicht für euch bestimmt! Die Abweisung war eindeutig, aber nicht aggressiv oder gar feindlich.
Die beiden Ärztinnen hatten von diesem Vorfall nichts mitbekommen. Ihr Interesse galt ihrem Patienten. Die positronische Überwachung von Rhodans Lebensfunktionen zeigte dessen kritischen Zustand schonungslos an.
»Alles hat sich rapide verschlechtert«, sagte Sato. »Wir hatten mit etwas mehr Zeit gerechnet, aber der Zellaktivator ist eine Blackbox, die wir weder öffnen noch auslesen können. Für uns heißt das, dass uns wichtige Informationen ganz einfach fehlen. Wüssten wir, welche Schäden der Aktivator repariert, könnten wir den Zustand der entsprechenden Organe oder der biochemischen Abläufe in den Zellen besser beurteilen. Aber wegen des Stotterns des Zellaktivators bleibt ein komplettes Bild aus.«
»Der Organismus ist durch die Lashat-Viren stark geschädigt«, ergänzte Olsen. Mit einer kurzen Betätigung des Kontrollholos erhöhte sie den Durchfluss des Schmerzmittels. »Das Dunkelleben kommt dazu und ist ein weiterer Faktor, den wir nicht eindeutig analysieren können.«
Pari Sato trat einen Schritt zurück und musterte den Patienten. Rhodans Atem ging schwer, die Brust hob und senkte sich unregelmäßig. Unter dem Atemgeräusch lag ein leises, aber nicht zu ignorierendes Pfeifen.
»Vielleicht sollten wir Merkosh bitten ...«, setzte Lena Olsen an, als ein leises Geräusch im Hintergrund zu hören war.
»Ich bringe den compariatischen Doktor«, sagte Gucky. »Nichts zu danken.«
Laura spürte, wie vorgetäuscht Guckys gute Laune war. Der Mausbiber war einer von Rhodans engsten Freunden, vergleichbar nur mit Reginald Bull, ihrem Vater.
Gucky ließ den mitgebrachten Merkosh los. Wie immer war es schwer, die Mimik des Oproners zu deuten, aber eine gewisse Hektik glaubte Laura wahrzunehmen. Die große, dürre Gestalt stakste auf das Bett zu. Mit enormer Geschwindigkeit schrieb sich Merkosh etwas auf den Unterarm, offenbar Auszüge aus den positronischen Diagnoseprotokollen. Das war seine Art, Dinge im Gedächtnis zu speichern. Er trug eine eigenartig geschnittene, badeanzugähnliche Kombination; aus einer der Taschen holte er das kleine Injektionsgerät, das alle bereits kannten.
»Ich hatte gehofft, es sei nicht noch einmal nötig, bevor wir auf Lashat landen«, sagte er und stülpte die Lippen nach vorn, als wolle er pfeifen. Seine grünen Augen schienen sich zu verdunkeln. Fasziniert sah Laura, wie sich unter der transparenten Haut des Oproners Muskeln bewegten. Der Lichtkegel einer Deckenlampe streifte den Kopf, und sie konnte Teile des Gehirns erkennen.
»Ist es gefährlich?«, fragte sie nach einem Seitenblick auf Sophie.
Merkosh zögerte und drehte den Injektor elegant zwischen seinen sechs Fingern.
»Wenn ich Perry Rhodans Zustand sehe ... nein. Vielleicht wird es ihn ein wenig stabilisieren können, mehr aber kaum. Die Dichte an neuronalen Pseudoprionen ist auf meinen Organismus abgestimmt – oder den eines anderen Oproners. Sie sind nicht als Medikament konzipiert und somit nur ein Notbehelf. Sie werden ihm aber auf keinen Fall schaden.«
Laura registrierte, dass die beiden Ärztinnen sich mit dieser Erklärung nicht recht wohlfühlten. Olsen fuhr sich nervös durch das blonde Haar.
Kein Wunder, dachte sie. Ihnen sind die Hände gebunden, und Mediziner sind automatisch Skeptiker. Eine Behandlung, die sie nicht verstehen, muss ihnen gegen den Strich gehen.
Gucky runzelte die Nase. Der Ilt war genauso beunruhigt wie alle anderen, aber im Gegensatz zu ihnen bekam er etwas von Rhodans Innenleben mit. Dieser war wohl bei Bewusstsein, aber in welchem Maße ...
»Frag erst gar nicht!«, sagte der Ilt.
Du sollst meine Gedanken nicht lesen, schimpfte Laura lautlos.
Gucky zeigte seinen Nagezahn nicht. »Als ob ich das verhindern könnte, so laut, wie ihr alle denkt. Spielt doch überhaupt keine Rolle. Wir haben alle Angst um ihn.«
Sein Blick fiel auf den MINSTREL. »Was macht der denn hier? Und was ist mit ihm los?«
Der aus unzähligen, sich ständig bewegenden kleinen Kuben zusammengesetzte Kugelkörper zeigte merkwürdige Muster. Laura erkannte dreidimensionale Anordnungen, die in stetigem Fluss waren und deren Sinn sich ihr nicht erschloss.
»Ich übermittle die Aufzeichnung an Mentro Kosum«, teilte Gucky mit. »Unser Gefühlsnautiker kann damit vielleicht mehr anfangen. Vielleicht kennt er so etwas ja von Cybora.«
Kurz darauf erschien Kosums rothaariger Kopf in einem kleinen Holo. Der Emotionaut stammte von Cybora, einer der technisch orientierten Kolonien. Er war speziell für diesen Flug an Bord genommen worden – auf Betreiben von NATHAN.
»Was soll das bitte sein?«, erkundigte Kosum sich. »Ich habe gerade anderes zu tun, wie ihr euch vorstellen könnt.«
»Ich dachte, du könntest mit den Mustern etwas anfangen. NATHANS Lieblingszwillinge sind überfordert. Von mir will ich gar nicht reden. Es könnte etwas mit Perrys Zustand zu tun haben. Deshalb frage ich ...«
Kosum schüttelte energisch den Kopf. »Ich habe nicht die geringste Ahnung. Ganz sicher ist das ein multidimensional abgeleitetes Muster. Es ist eine ultrakomplexe, chaotische Struktur, die ›Seltsame Attraktoren‹ ausbildet. Ordnung entsteht von selbst, durch die Funktion an sich, aber sie ist nicht vorhersehbar. Das Zeug kennst du aus der Chaostheorie, aber welche Funktion es ist, kann ich nicht sagen. Warum fragen Laura und Sophie nicht einfach?«
Laura schüttelte nur den Kopf.
Gucky grinste verhalten. »Haben sie getan, Schlaumeier. Aber ihr Herr und Meister ist offenbar sprechfaul. Könnte das etwas mit NATHAN zu tun haben?«
»Zumindest habe ich so etwas nie zuvor gesehen – aber mein Kontakt zur Hyperinpotronik war nicht so intensiv, wie du offenbar glaubst. Ich muss mich gerade auf den Anflug konzentrieren. Sorry.«
Das Holo erlosch.
Gucky holte tief Luft. »Das war ... nicht hilfreich!« Er fixierte Merkosh. »Du hast nicht zufällig eine Ahnung, warum unsere Denkkugel das tut?«
Merkosh schnurpste gepresst. »Ich bin Mediziner, kein Roboterpsychologe oder Positroniker. Tut mir leid.«
»Ich frag ja nur ...«, murmelte der Ilt. Dann hob er den Kopf. »Der Anflug auf Lashat geht in die Endphase, höre ich gerade. Merkosh?«
Der Oproner drehte sich um und steckte den Injektor zurück in die Tasche. »Ja?«
»Deine zwei Torkadisten sind bereits vor Ort. Kommst du mit? Ich nehme an, wenn die Shafakk schlecht gelaunt sind, könnte eure Triole helfen.«
»Torkade«, raunte der Oproner. Mittlerweile wusste er, dass es wenig Sinn hatte, Gucky zu korrigieren.
Er nahm Guckys Hand. Der Ilt warf einen Blick auf Perry Rhodan. Ob es diesem durch die neuerliche Injektion besser ging, war nicht zu beurteilen. Immerhin hatte sich sein Atemrhythmus etwas beruhigt.
»Du bist unsterblich geworden, um vor mir zu sterben?«, hörte Laura Bull-Legacy den Mausbiber. »Wenn das nicht unfair ist ...«
Dann verschwanden die beiden.
Memento mori
Mit dem Tod habe ich nichts zu schaffen. Bin ich, ist er nicht. Ist er, bin ich nicht.
Epikur von Samos, Philosoph, 341–271 v. Chr.
Es ist ein eigenartiges Gefühl.
Die Welt schrumpft zusammen, immer weiter, bis sie gerade mal einen selbst umfasst. Alles andere, was einst die Welt ausmachte, verliert an Wichtigkeit, ja an Substanz.
Das da draußen ist nicht mehr von Belang.
Es ist beinahe lustig, aber bis vor Kurzem habe ich mir auf meinen weiten Horizont sogar etwas eingebildet. Ein älteres Lied fällt mir ein; eher eine kleine Sequenz daraus. Als Jugendlicher, vor vielen Jahrzehnten, hat es mich beeindruckt, ja sogar bewegt.
»Lonely we stumble 'to this life ... and the same way, we will leave!«
Verstanden habe ich es damals nicht. Mit zwanzig Jahren versteht man das meiste nicht – wie könnte es anders sein? Jugend ist keine Qualifikation.
Das Alter ebenfalls nicht, sage ich mir selbst. Gerade eben habe ich festgestellt, dass mein Horizont auf den Durchmesser dieses Zimmers geschrumpft ist.
Ich habe keine Schmerzen, zumindest keine, die ich wahrnehmen würde. Das ist ein Segen. Ich habe zu viele furchtbar leiden sehen, bevor es zu Ende ging. Was für eine Tragödie, wenn dies der letzte Eindruck ist, den man von seinem Leben hat!
Sonderbarerweise bin ich nicht neidisch auf andere, die länger gelebt haben werden. Atlan beispielsweise oder Mirona Thetin. Gerade die Liduuri ist alt auf eine Weise, die ich mir nicht mal im Ansatz vorstellen kann. Vielleicht ist ihre Distanz zu allem sogar nötig, um überleben zu können. Wer Dinge an sich heranlässt, leidet, wenn sie verschwinden. Und bei einem Alter von über fünfzigtausend Jahren verschwindet alles.
Was richtet das in einem Menschen an, alles und jeden zu verlieren? Diese Schmerzen sind so unerträglich, dass Mirona wahrscheinlich keine andere Möglichkeit blieb, wollte sie nicht wahnsinnig werden. Sogar normale Menschen werden bitter oder zerbrechen an der Vergänglichkeit – in einer normalen Lebensspanne. Normale Menschen mit einem normalen Leben sind für sie indes nicht von Belang. Sie hat es millionenfach gesehen, in all der Banalität, die das Leben häufig auszeichnet. Was für ein Widerspruch in sich ...
Vielleicht ist Medizinerhumor ein guter Vergleich. Der Mensch ist nicht in der Lage, das Leid der ganzen Welt zu tragen. Obwohl ... als große Humoristin taugt Mirona Thetin nicht.
Umso erstaunlicher ist, dass Atlan es geschafft hat, zu ihr durchzudringen. Aber das könnte daran liegen, dass er nach ihr der Älteste ist. Ein ähnlicher Erfahrungshorizont war sicher auch ein Grund.
Auf gewisse Weise sind die beiden so einsam wie ein Sterbender. Also so wie ich.
Ich vermisse Thora. Sie hätte mich auf dem weiteren Weg begleiten können. Das war ein Geschenk, das ich nun nicht annehmen kann. Sie wird allein weitergehen müssen, und genau das wird sie tun. Mit all ihrer Kraft, ihrer Überzeugung, ihrem Willen. Dennoch wäre ich gern mit dabei gewesen.
Ich spüre eher, als dass ich es sehe: Ich bin nicht allein in diesem Zimmer, aber ich nehme alles wie durch tiefdunkles Rauchglas wahr. Es trennt mich bereits von der Welt. Die Schwäche in mir ist Teil meines Selbst, aber ich empfinde sie nicht als bedrohlich. Sie wird mich von nun an begleiten.
Ganz so allein bin ich nicht, wie es scheint.