Читать книгу Wir weigern uns, Feinde zu sein - Rainer Stuhlmann - Страница 7
ОглавлениеKAPITEL I:
„KOMMT UND SEHT“ – DAS „ZELT DER NATIONEN“
„Wir weigern uns, Feinde zu sein“
Ich fahre mit dem Bus, der Jerusalem mit den vielen jüdischen Siedlungen im Süden Palästinas verbindet. Doch die Siedlungen sind nicht mein Ziel. Ich möchte zu „Dahers Weinberg“, der Farm der palästinensischen christlichen Familie Nassar. Der Bus fährt an Bethlehem vorbei, dann sieben Kilometer weiter durch das Land. 20 Minuten zu Fuß sind es von der Bushaltestelle bis zum „Zelt der Nationen“, wie sie ihre Farm nennen – einen internationalen und interreligiösen Begegnungsort. Es ist eine Farm ohne Gebäude, denn Palästinenser dürfen hier auf ihrem eigenen Grund und Boden nicht einmal ein Toilettenhäuschen bauen. Rund um die palästinensische Farm herum, im sogenannten Gusch Etzion, stampfen allerdings über 50.000 jüdische Israeli kleine und große Städte aus dem Erdboden.
Ich treffe mich mit Daoud Nassar. Der palästinensische Christ ist in Bethlehem aufgewachsen, hat in Österreich die Matura gemacht, in Bethlehem Betriebswirtschaft und in Deutschland Tourismusmanagement studiert. Ein interessanter Mann. Für das Interview suchen wir Schutz am Eingang einer Höhle, denn hier pfeift auch an heißen Tagen ein scharfer Wind vom Mittelmeer herauf – an klaren Tagen sieht man das Meer in der Ferne blinken.
Was er hier macht und was es mit dem „Zelt der Nationen“ auf sich hat, möchte ich von Daoud wissen. Er erzählt, dass das Land seit 1916 seiner Familie gehört, die früher hier in einer Höhle wohnte: „Heute ist dieser Hügel der einzige in der Gegend, der sich noch unter palästinensischer Kontrolle befindet.“ Tatsächlich ist „Dahers Weinberg“ inzwischen von fünf israelischen Siedlungen umgeben. Ich erfahre, dass die israelischen Behörden seit 1991 versuchen, das Land zu enteignen, um eine weitere darauf zu bauen. Deshalb kam es in den vergangenen Jahren immer wieder zu Übergriffen.
Daoud erzählt von seinen Olivenbäumen, die jüdische Siedler in einer Weihnachtsnacht gefällt haben, und davon, dass die Siedler seine Familie sogar mit Maschinengewehren bedroht haben. „Sie machen uns unser Eigentumsrecht an unserem Land streitig, obwohl wir es urkundlich nachweisen können. Seit 1991 sind wir deswegen vor Gericht. Wir haben nicht aufgegeben. Wir sind immer noch hier“, betont er, „und das, obwohl sie uns zuletzt einen Blanko-Scheck boten, wenn wir das Land endlich verkaufen würden. Aber das Land ist wie unsere Mutter, und eine Mutter kann man nicht verkaufen!“
Eine Farm ohne Zufahrt, ohne Wasser, Strom und Gebäude – da frage ich: „Wo bleibt dann Raum für Zukunftsperspektiven?“ „Wenn wir keine Hoffnung haben, reagieren wir leicht mit Gewalt, Resignation oder Emigration“, meint Daoud. „Meine Familie hat sich jedoch gegen Gewalt entschieden, weil wir Konflikte nie mit Gewalt lösen können“, sagt Daoud ziemlich energisch. Auch in die Opferrolle haben sie sich nicht begeben wollen und Auswandern kam ebenfalls nicht in Frage: „Wir haben gedacht, es muss auch einen anderen Weg geben.“
„Und wie sah dieser Weg aus?“ – „Es war uns sehr wichtig, aus der Opfer-Mentalität herauszukommen“, erklärt Daoud. Nur so können wir agieren, statt nur zu reagieren. Außerdem hätten sie sich geweigert zu hassen: „Das war gar nicht so leicht. Wir akzeptieren die Menschen als Menschen, aber wir dürfen nicht ihre negativen Taten akzeptieren.“ Auch ihr christlicher Glaube und ihr Vertrauen in die Gerechtigkeit seien ihnen eine Stütze. „Wir haben einen vierten Weg gewählt, den gewaltlosen Widerstand. Wir wollen das Böse mit dem Guten überwinden. Unser Motto lautet: ‚Wir weigern uns, Feinde zu sein.‘“
Das „Zelt der Nationen“
Unter diesem Motto, so erfahre ich, wurde auch das Projekt „Zelt der Nationen“ gegründet. Die Farm wurde zu einem Begegnungsort für Menschen verschiedener Herkunft und Religionen. Nicht in der Opferrolle verharren, sondern das Beste aus der Situation machen und kreative Lösungen finden, hieß es auch weiterhin: Seit 2009 gibt es eine Solaranlage, die eine externe Stromversorgung überflüssig macht. In großen Zisternen wird Regenwasser gesammelt und weil auf der Farm keine Gebäude errichtet werden dürfen, wurden die einstigen Wohnhöhlen renoviert. Es gibt Begegnungsorte und Schlafplätze, das Abwasser wird aufbereitet und für die Bewässerung verwendet, Bewohner und Gäste nutzen Kompost-Toiletten und versuchen so viel wie möglich zu recyclen. Aus der Not ist eine Tugend geworden. „Die negative Energie wurde positiv umgesetzt. Das ist unsere Therapie“, erklärt Daoud.
„Zelt der Nationen“ heißt der Ort nun, weil sich hier Menschen von überallher treffen. Positive Aktionen sollen diese Menschen miteinander verbinden. Sie sollen Hoffnung wecken in hoffnungslosen Situationen. So gibt es zum Beispiel jedes Jahr eine Baumpflanz-Aktion. Menschen kommen zusammen, um für Bäume zu spenden oder sie zu pflanzen. Denn, so erklärt Daoud: „Wenn man einen Baum pflanzt, glaubt man an eine bessere Zukunft. Und man lernt, dass der Friede von unten wachsen soll wie ein Olivenbaum.“ Es gibt Erntecamps und immer wieder besuchen Volontäre die Farm. Hier lernen sie, wie man anders an Probleme herangehen kann, und nehmen Ideen mit in ihre Heimat.
Rebecca aus Stuttgart, die für ein Jahr in Nes Ammim gearbeitet hat, war für einige Tage auch im „Zelt der Nationen“: „Wir haben in Höhlen geschlafen“, erzählt sie mir später, „wir haben mitgeholfen und uns dort auch mit einem Volontär unterhalten. Er hat erzählt, wie sehr sie immer aufpassen müssen, dass das israelische Militär nicht einfach etwas abreißt. Man kann sich diese Willkür an Menschen, die einem nur etwas Gutes tun und Frieden haben wollen, kaum vorstellen.“
Grenzen überwinden?
„Das könnt ihr sowieso nicht schaffen. Die Israelis werden kommen und euch das Land wegnehmen.“ So und ähnlich hätten anfangs viele reagiert, die zum ersten Mal von dem Projekt hörten, erklärt Daoud. Man habe die Ergebnisse schließlich nicht direkt sehen können. Inzwischen aber sind viele der palästinensischen Nachbarn überzeugt und werden selbst aktiv. Die Felder auf dem lange brach liegenden Land werden wieder bebaut. Es gibt Frauenaktivitäten und Sommercamps, an denen christliche und muslimische Kinder aus der Umgebung von Bethlehem teilnehmen. „Sie könnten dort ihre Talente entdecken und lernen, ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen“, sagt Daoud.
Ob es denn auch einen Dialog mit Juden und Israelis im „Zelt der Nationen“ gebe, frage ich. „Wer durch die Tür kommt und von unseren Visionen wissen möchte, ist willkommen hier“, antwortet er. Und so wird das „Zelt der Nationen“ tatsächlich nicht nur von Juden aus anderen Ländern besucht, sondern manchmal auch von Israelis. „Am Anfang sind sie vielleicht ein bisschen skeptisch“, meint Daoud: „Aber wenn sie zu uns kommen, hören sie etwas, das sie nicht erwartet haben. Das ist für sie eine Augenöffnungs-Erfahrung, die sie später in ihre eigene Umgebung hineintragen können.“
Ich selbst bin im Laufe der Jahre vielen Juden und jüdischen Israelis begegnet, die eine solche „Augenöffnungs-Erfahrung“ gemacht haben. Sie erzählten mir, wie ihnen die Situation in den besetzten Gebieten plötzlich bewusst wurde und was das mit ihnen machte. Viele von ihnen engagieren sich seitdem in Organisationen und versuchen in privaten Gesprächen und mit öffentlichen Aktionen ihre Landsleute zu informieren und aufzuwecken. Sie repräsentieren für mich das andere Gesicht Israels, das demokratische Israel, das den Menschenrechten verpflichtet ist. Von der gegenwärtigen Regierung werden sie skeptisch beäugt, manchmal auch diffamiert. Für mich sind sie jedoch die wahren Patrioten, die der jüdischen Tradition des „Tikun Olam“ folgen und nach Maßgabe ihrer Kräfte „die Welt zu verbessern“ versuchen.
Nachdenklich blicke ich über Daouds von israelischen Siedlungen umgebenes Land. Auch weil es landschaftlich so reizvoll ist, zieht es viele in das Bergland südlich Jerusalems und Bethlehems. Die in Jahrtausenden gewachsene Terrassenkultur zieht sich an den Berghängen entlang. Das viele Grün zwischen den Siedlungen verrät, dass es im Winter reichlich Niederschläge gibt. Wie schön wäre es, zu hören, dass es auch freundliche Kontakte zu den jüdischen Nachbarn gibt. Doch Daoud erklärt mir, dass Palästinenser und Israelis oft kaum etwas übereinander wissen, obwohl sie so eng beieinander wohnen. „Angesichts dieser Lage wage ich es kaum, danach zu fragen, ob eine Kooperation zwischen jüdischen Siedlern und Palästinensern denn überhaupt denkbar ist. „Wir müssen lernen, einander zu respektieren“, meint Daoud. Das sei zurzeit allerdings nicht so einfach, weil die Situation ungerecht sei: „Wir leben unter Besatzung. Erst wenn die Besatzung zu Ende geht, können Israelis und Palästinenser miteinander leben. Kooperieren und unter Besatzung sein, das geht nicht!“ Doch Daoud gibt die Hoffnung nicht auf. Gerechtigkeit und Gleichberechtigung hält er für Schlüssel zu einem guten Miteinander. Das funktioniere nur, wenn beide Seiten einander ehrlich auf Augenhöhe begegnen könnten.
Botschaft für Deutschland
„Es gibt Menschen, egal ob auf der israelischen oder der palästinensischen Seite, die anders denken und die anderes wollen. Und diese positive Stimme muss auch im Ausland gehört werden“, gibt Daoud mir beim Abschied mit auf den Weg. Er jedenfalls glaubt „ganz fest, dass eines Tages die Sonne der Gerechtigkeit aufgehen wird“.
Auch nach meiner Rückkehr nach Deutschland denke ich immer wieder an die Gespräche mit Daoud und all den anderen Menschen, die sich um Gerechtigkeit bemühen, zurück. Von diesen Begegnungen möchte ich nun erzählen – Begegnungen, die mir allesamt das andere Gesicht Palästinas und Israels zeigten, Begegnungen unter dem Motto: „Wir weigern uns, Feinde zu sein“.
Geschichten vom „Zelt der Nationen“
Wenn jüdische Siedler „kommen und sehen“
Bei einem Besuch mit einer Gruppe von rund zwanzig europäischen Freiwilligen im „Zelt der Nationen“ erzählt uns Amal Nassar, die Schwester von Daoud, eine bedenkenswerte Geschichte:
Ich war auf dem Weg nach Hause, als eine Joggerin neben mir ihren Schritt verlangsamte und sich meinem Gang anpasste. Sie grüßte freundlich und fragte neugierig: „In welcher der Siedlungen wohnst du denn?“
Ich wies mit der Hand auf unseren Hügel. „Nein“, sagte sie, „ich meine: Wo wohnst du? Wo steht dein Haus?“
„Auf dem Hügel dort“, sagte ich.
„Mach keine Witze! Auf dem Hügel wohnt kein Mensch und steht kein Haus. Ich kann es von unserer Siedlung dort oben sehen, der Hügel ist unbewohnt.“
„Ich wohne mit meiner Familie dort. In Höhlen“, sagte ich. Sie blieb stehen und schaute mich ungläubig an. „Mein Großvater hat das Land hier vor fast hundert Jahren gekauft. Meine Großeltern haben hier schon mit meinem Vater und seinen Geschwistern gewohnt und das Land bebaut. Und jetzt wohnt die nächste und übernächste Generation hier.“
„Und warum baut ihr keine Häuser auf eurem Land?“, fragte sie.
„Wir dürfen es nicht. Wir sind Palästinenser. Die Behörden Israels verbieten den Palästinensern, hier auf ihrem eigenen Land irgendwelche Gebäude zu errichten.“
„Das stimmt nicht“, sagte sie. „Es gibt hier gar keine Palästinenser.“
„Wie kommst du darauf?“, fragte ich.
„Hier habe ich noch nie Palästinenser getroffen“, sagte sie. „Die wohnen in Bethlehem jenseits der Sicherheitsmauer. Hier ist Israel. Soweit das Auge reicht, sehe ich nur jüdische Siedlungen.“
So kann der erste Eindruck täuschen, dachte ich bei mir. Ich erfuhr, dass sie mit Mann und Kindern vor gut zwei Jahren aus Amerika gekommen war und dass sie in der Siedlung „Neve Daniel“, unserem Hügel gegenüber, ein Haus gekauft hatten. Sie wusste erstaunlich wenig über ihre neue Heimat.
Meine Einladung auf einen Tee lehnte sie ängstlich ab. „Ich heiße Sarah“, sagte sie beim Abschied und dann speicherte sie meine Handy-Nummer.
Viele Wochen vergingen, bis Sarah mich eines Tages tatsächlich anrief. Ob sie mich besuchen könne – ihr Ehemann dürfe das nicht wissen, er sei für ein paar Tage verreist.
Ich holte sie an unserem Tor ab. Ihr Mann sei sehr besorgt. Er habe ihr verboten, uns zu besuchen. „Palästinenser sind gefährlich. Sie sind Feinde Israels“, sage er immer. Nachdenklich blieb sie vor dem Stein mit dem Regenbogen und der Aufschrift „Wir weigern uns, Feinde zu sein“ stehen.
Ich glaube, sie hatte noch nie in ihrem Leben eine Zisterne gesehen. Ich erklärte ihr, dass wir während der Regenzeit jeden Topfen aufbewahren müssen, um über die langen trockenen Sommer zu kommen. In den jüdischen Siedlungen rings um unseren Hügel kommt das Wasser aus der Leitung. Immer. Es bewässert selbstverständlich auch im Sommer Rasen und Blumenrabatten und speist den Swimmingpool. Sarah staunte über die Solaranlage und noch mehr darüber, dass Europäer sie uns ein Jahr zuvor geschenkt und sie auch aufgebaut hatten. Nachdenklich wurde sie im Gespräch mit den Freiwilligen aus aller Herren Länder. Einige kamen wie Sarah aus den USA. Unverblümt machten sie ihr deutlich, wie anders ihre Motive waren, die sie in das gleiche Land geführt hatten.
Aufmerksam schaute Sarah sich um und hörte zu, aber sie blieb wortkarg. Bevor sie sich verabschiedete, sagte sie vor sich hin: „Das müsste mein Mann mal sehen. Das müsste mein Mann mal sehen.“
Wochen später rief Sarah wieder an: „Ich habe meinem Mann von euch erzählt. So recht will er meinen Erzählungen keinen Glauben schenken. Aber jetzt ist er bereit, sich einen eigenen Eindruck zu verschaffen. Können wir am Sabbat kommen? Dann sehen uns unsere Nachbarn nicht.“
Am nächsten Sabbat standen sie tatsächlich an unserem Tor. Er mit weißem Hemd, schwarzem Anzug und großem schwarzen Hut. Ich musste kaum etwas sagen. Sarah führte ihren Ehemann durch unser Gelände, als sei es das ihre. Sie zeigte und erklärte, als wäre das „Zelt der Nationen“ ihre Idee. Der Besuch blieb nicht ohne Eindruck. Beim Tee nahmen unsere Gespräche Fahrt auf. „Wie habt ihr uns mehr als zwei Jahre lang übersehen können?“, wagte ich zu fragen. „Auch in eurer Bibel steht doch, dass wir uns um unsere Nachbarn, unsere Nächsten kümmern sollen.“ Beide nickten wortlos.
Als sie sich verabschiedeten, sagte Sarah: „Ich wünschte, unsere Kinder würden hier mal als Freiwillige arbeiten.“
„Wer weiß, vielleicht klingelt eines Tages wieder das Telefon, beendete Amal ihre Erzählung lachend und ließ die europäischen Freiwilligen tief beeindruckt zurück.“
Dieser Feigenbaum ist unübersehbar. Gleich neben „Dahers Weinberg“, dem „Zelt der Nationen“. Es ist der einzige große Baum im Tal, am Rande einer Plantage von hunderten kleinen, die gerade ihre ersten Blätter getrieben haben. „Er ist als einziger stehen geblieben vor zwei Jahren“, erzählte mir Daoud Nassar, „unser Symbol der Hoffnung“. Mich erinnert er an die Worte des Propheten Jesaja, der nach der Katastrophe einen Neubeginn verheißt: „Siehe, was ich früher verkündigt habe, ist gekommen. So verkündige ich auch Neues; ehe denn es sprosst, lasse ich’s euch hören“ (Jesaja 42,9).
Im Mai 2014 klingelten am frühen Morgen die Handys und Smartphones der Familie Nassar und brachten die Schreckensnachricht in Wohnzimmer und Küchen, in Dienstzimmer und auf Schulhöfe, in Autos und Busse. Die Mitglieder der weit verzweigten Großfamilie gehörten zu den ersten, die von der Katastrophe erfuhren, über die die Medien später die ganze Welt informierten. Schnell machten sie sich auf den Weg zu „Dahers Weinberg“, um zu sehen, was geschehen war.
Sie trauten ihren Augen nicht. Seufzer, Tränen, unterdrückte Schreie. Ihre Obstbaumplantage, die wenige Wochen vor der Ernte stand, glich plötzlich einer riesigen Müllkippe. Die ausgerissenen Bäume streckten ihre Wurzeln gen Himmel, als wollten sie um Hilfe rufen. Erde bedeckte Blätter und Früchte. Nur ein einziger Feigenbaum am Rande der Plantage war übersehen worden und stand noch an seinem Platz.
Im Morgengrauen waren jüdische Siedler unter dem Schutz der israelischen Armee mit Riesen-Bulldozern angerückt, um ihren vermeintlichen Anspruch auf das private Land der palästinensischen Familie mit Gewalt durchzusetzen. Sie nennen das besetze Palästina „Judäa und Samaria“, um ihrem Landraub biblische Legitimation zu verleihen. Und sogenannte bibelgläubige Christen – auch aus Deutschland – unterstützen sie darin.
Als ich davon hörte, war ich einen Augenblick lang versucht, mit dieser Nachricht den „Antisemitismus in mir“ zu füttern. Aber dazu gab es keinen Grund. Das schändliche Tun der Siedler empörte Juden und Nichtjuden innerhalb und außerhalb Israels. Eine jüdische Gruppe in den USA sammelte Geld, um hunderte von neuen Obstbäumen zu kaufen. Ein Jahr später wurden die Bäume in einer gemeinsamen Aktion auf dem zuvor verwüsteten Feld neben dem alten Feigenbaum gepflanzt. „Wir schämen uns für die Siedler“, sagten die Helfer. Diese Juden zeigten mir das „andere Gesicht“ des jüdischen Landes und bewahrten mich vor Hass und Verteufelung.
Zusammen mit Juden höre ich als Christ auf die Botschaft der biblischen Propheten. Nach der Katastrophe gibt es einen Neubeginn, Zeit zur Umkehr und Erneuerung. Der Feigenbaum ist ein Zeichen, das mich dieser Botschaft trauen lässt.
Als meine Freundin Ulli diesen Text las, schrieb sie mir umgehend: „Klär mich auf – ich habe noch nie gehört, dass Palästinenser eine ähnliche Aktion starteten, wenn Juden Unrecht von Radikalen aus ihren Reihen geschah – oder täusche ich mich?“
Nach einigem Nachdenken antwortete ich ihr: „Mir fällt zu deiner Frage ein, dass es bei Judenverfolgungen oft auch einige nichtjüdische Mitmenschen gegeben hat, die Juden versteckt, beschützt oder anderweitig unterstützt haben, manchmal sogar unter Lebensgefahr. Die Juden nennen sie ‚Gerechte unter den Völkern‘. Bei den antijüdischen Pogromen 1929 in einigen Städten Palästinas, zum Beispiel in Jerusalem, Safed und Hebron, gab es ja nicht nur den palästinensischen Mob, der brutal zulangte, sondern auch Palästinenserinnen und Palästinenser, die ihre jüdischen Nachbarn beschützt und vor dem Schlimmsten bewahrt haben.“
Hilfreicher und schädlicher Argwohn
Wie aufgescheuchte Küken unter den Fittichen der Henne Zuflucht suchen, so rannten die kleinen und großen Kinder unter das weiße Zeltdach, wo die Erwachsenen sie trösteten und umarmten. Im Sommerlager waren die etwa 50 christlichen und muslimischen Kinder aus der Region Bethlehem zwei Wochen lang jeden Tag zusammen, um zu malen, zu basteln, zu musizieren und so ihre Talente zu entdecken und zu stärken. Die christliche Familie Nassar hatte sie dazu in ihr „Zelt der Nationen“ eingeladen.
Aufgescheucht worden waren die palästinensischen Kinder, weil urplötzlich zahlreiche Soldaten der israelischen Armee das Gelände betraten. Nicht nur die Kinder fragten sich, was das wohl bedeutete.
Schnell wurde klar, dass niemand etwas zu befürchten hatte. Die Soldaten hatten zwei Autos mit israelischen Nummernschildern am Eingangstor ausgemacht. Die Autos waren israelische Leihwagen, die zu einer Gruppe von amerikanischen Besuchern des „Zeltes der Nationen“ gehörten. Die Soldaten hatten geglaubt, Siedler, die gegen die Palästinenser Böses im Schilde führten, versuchten hier Unruhe zu stiften. Sie wollten einem möglichen Konflikt zuvorkommen. Reine Fürsorge habe sie auf das Gelände gebracht, konnten die Soldaten hier also sagen – und sie hätten diese biblische Regel hinzufügen können: „Denke keiner gegen seinen Bruder etwas Arges in seinem Herzen!“ (Sacharja 7,10)
Trotzdem war die Angst der Kinder nicht unbegründet. Viele von ihnen hatten bereits traumatische Erfahrungen mit israelischem Militär gemacht. Einige haben, nachts aus dem Schlaf gerissen, mit ansehen müssen, wie die bewaffneten Uniformierten ihren Vater und ihre Brüder schlugen und verhafteten, wie ihr Mobiliar zertrümmert und manchmal auch das ganze Haus vor ihren Augen niedergerissen wurde.
„Denke keiner gegen seinen Bruder etwas Arges in seinem Herzen!“ – Das möchte ich dann auch diesen Soldaten zurufen. Wir wissen, dass solche Militäraktionen oft nicht durch begründeten Argwohn motiviert sind, sondern nur das eine Ziel haben, Palästinenser einzuschüchtern, sie kleinzumachen und kleinzuhalten.
Freilich, die Soldaten könnten auch sagen, dass sie Gründe haben, der biblischen Regel nicht zu folgen, dass Misstrauen und Argwohn manchmal Leben schützen kann. Denn auch Sprengstoffanschläge und Messerattacken von palästinensischer Seite sind eine schlimme Realität im Lande.
Ja, die biblische Regel ist kein Patentrezept. Aber gerade in Situationen, die durch Argwohn und Misstrauen vergiftet sind, hilft nur die entschlossene Haltung, die das Leben der Familie Nassar im „Zelt der Nationen“ bestimmt: „Wir weigern uns, Feinde zu sein.“ So können hinter dem Feindbild Bruder und Schwester entdeckt werden und Misstrauen und Argwohn schwinden.
Wer sich seinen Feinden anpasst …
Es war schon dunkel, als wir aus dem „Zelt der Nationen“ zurückstapften. Es liegt in der „C-Zone“ der palästinensischen Gebiete, in der die israelische Armee auch offiziell das Sagen hat. Wo unser Kleinbus stehen sollte, sahen wir von weitem zahlreiche Autoscheinwerfer und Blaulicht. Neugierig liefen die Freiwilligen voraus und ließen mich als letzten hinterherkeuchen. Ich holte sie ein, weil sie von zahlreichen bewaffneten Männern gestoppt wurden. Soldaten, Polizisten und Zivilisten – offensichtlich Siedler – alle mit Maschinengewehren. Vor einer Stunde sei hier ein joggender jüdischer Siedler mit einem Messer verletzt worden, hieß es. Zum Glück nicht lebensgefährlich. Er wurde ins Krankenhaus gebracht. Jetzt suchten sie den Täter.
Schnell sahen sie ein, dass keiner der zwanzig Europäer, die ihnen buchstäblich vor die Flinte gelaufen waren, der Gesuchte war. Unsere brombeerfarbenen Pässe wirkten mal wieder Wunder. Dass auch keiner von uns als Zeuge in Frage kam, davon waren sie nicht so leicht zu überzeugen. Schließlich erreichte ich, dass sie die Gruppe ziehen ließen, während ich mich dem Verhör stellte. Über die Situation im „Zelt der Nationen“ schienen sie im Bilde. Schon dass wir „diese Araber“ besucht hatten, machte uns verdächtig. Am Ende ließen sie aber auch mich gehen, weil ich zur Aufklärung nichts beitragen konnte. Als ich den Kleinbus erreichte, stellte ich fest, dass die Gruppe vollzählig war. Doch so erleichtert alle waren, das Erlebnis hatte einige auch verstört.
Die Freiwilligen erzählten, wie locker die gleichaltrigen Soldaten mit ihnen gesprochen hatten. Den Holländern hatte einer zu verstehen gegeben, wie sehr er die Amsterdamer Coffee-Shops zu schätzen wusste, um dann im gleichen Tonfall fortzufahren: „und jetzt bin ich auf Terroristenjagd. Wenn mir ein Araber vor die Flinte läuft, knall ich ihn gleich ab. Jedes Zögern kann tödlich sein. Er oder ich. Deshalb habe ich den Finger immer am Abzug.“
„Mir wurde plötzlich klar“, sagte eine Freiwillige, „in welcher Gefahr ich war. Wenn ich aus der Dunkelheit vor ihm nicht zusammen mit anderen aufgetaucht wäre und wir nicht Englisch gesprochen und unsere Pässe gezeigt hätten, wer weiß, ob er mich nicht erschossen hätte.“ Nicht nur, dass sie in Lebensgefahr geschwebt hatte, wühlte sie auf, sondern auch der Zynismus dieses Gleichaltrigen. „Wenn ein Palästinenser vom ‚Zelt der Nationen‘ hier entlanggegangen wäre“, fügte sie nachdenklich hinzu, „hätte er keine Chance gehabt, zu zeigen, dass er mit dem Überfall nichts zu tun hat.“
Viele jüdische Israeli begrüßen die Rechtslage, nach der nicht nur Soldaten und Polizisten, sondern jeder, der sich bedroht fühlt, sein Gegenüber erschießen darf. Da wird kaum geprüft, wie real die Bedrohung ist, ob es möglich wäre, ihr auch anders zu entgehen oder ob die Erschossenen mit dem, der das Messer gezückt hat, auch wirklich in Kontakt gestanden hatten. „Das ist die Wiedereinführung der Todesstrafe in Israel – jetzt auf der Straße und ohne Prozess“, meinte die schwedische Außenministerin Margot Wallström öffentlich und handelte sich damit seitens der israelischen Regierung harsche Kritik ein. Doch einige Israelis meinen auch, so ganz Unrecht habe sie nicht. Das Gefühl der Bedrohung von außen und innen ist allgegenwärtig und wächst von Jahr zu Jahr. Manche sprechen vom „Staatsnotstand“.
Selbstverteidigung ist legitim, ja. Jeder Rechtsstaat erkennt das an. Aber für das Recht auf Selbstverteidigung muss es auch Regeln und Grenzen geben, die beachtet werden müssen. Wer sie außer Kraft setzt, verliert seine Rechtsstaatlichkeit. Viele Israeli sehen diese Gefahr, warnen davor und protestieren – doch sie finden wenig Gehör. Das kann ein Europäer kaum nachvollziehen. Europa ist ein Eiland bewährter Rechtsstaaten. Die Rechtsstaatlichkeit Israels ist in der Bedrohungssituation ungleich viel schwieriger zu bewähren. Aber sie muss sich bewähren. Wer sich den verwerflichen Handlungen seiner Gegner anpasst, begibt sich auf den abschüssigen Weg, zu dem zu werden, vor dem man sich zu schützen vorgibt.
Feindesliebe als gewaltfreier Widerstand – Eine Zwischenüberlegung
Gewaltfreier Widerstand ist der berühmte „Vierte Weg“, eine realistische, weil langfristig wirksame Alternative zu den drei üblichen Weisen, einer dauerhaften Unrechtssituation zu begegnen: Gegengewalt, Resignation oder Flucht. Die christlich-palästinensische Familie Nassar stellt sich damit in die Tradition von Martin Luther King und Mahatma Gandhi und beruft sich dabei ausdrücklich auf Jesu Bergpredigt. „Wir weigern uns, Feinde zu sein“: Wer so denkt und handelt, stellt drei Aspekte in den Mittelpunkt:
1. Feindesliebe
Das Gebot der Feindesliebe ist eine realistische Handlungsanweisung; die übliche Missdeutung als Utopie und emotionale Überforderung wird abgewiesen. Langfristig erfolgreich ist die Feindesliebe, weil sie die Situation dadurch verändert, dass sie auf das Verhalten der agierenden Personen zielt, das bekanntlich mit der eigenen Verhaltensänderung beginnt. Sie zielt auf Entfeindung der Situation durch Entfeindung der beteiligten Personen.
Auch ist sie Ausdruck einer realitätskonformen Bescheidenheit, indem sie sich auf die Machbarkeit dessen beschränkt, was die Unterlegenen in einer Konfliktsituation jeweils tun können. Damit vermeidet sie unnötige Frustrationen. Wozu die Unterlegenen in einer solchen Situation am ehesten imstande sind, ist Widerstand in Form von Verweigerung. „Zivilen Ungehorsam“ nennen wir diese mögliche, weil bescheiden reduzierte, gewaltfreie Aktion.
Die Verweigerung ist aber noch einmal reduziert und radikalisiert. Verweigert wird nicht nur etwas zu tun, sondern etwas zu sein. Der Widerstand beginnt damit, dass die Unterlegenen „aus der Rolle fallen“. Sie verweigern die Rolle, die ihnen die Überlegenen aufzwingen wollen.
Ein ranghoher israelischer Soldat beschreibt die Situation in kühler Nüchternheit so: „Die Vertreibung der palästinensischen Familie von dem Bergrücken in der Mitte der fünf größer werdenden jüdischen Siedlungen ist strategisch notwendig. Die palästinensische Familie stellt ein militärisches Sicherheitsrisiko dar, das ausgeschlossen werden muss. Denn Palästinenser sind unsere Feinde.“ Dem respondieren Daoud Nassar und seine Familie mit ihrem Handlungsvorsatz strategisch angemessen und konsequent: „Wir weigern uns, Feinde zu sein.“
2. Innere Freiheit
Aus dem „Verweigert!“ wird ein „Wir weigern uns“. Und damit fallen sie noch einmal aus der Rolle, nämlich aus der Rolle der Reagierenden in die Rolle der souverän Agierenden. Die Bejahung der Handlungsanweisung wird zu einem Handlungsvorsatz. Aus dem Ungehorsam wird ein vom Gegenüber freier Entschluss. Aus dem Objekt, das Befehle empfängt und verweigert, wird das Subjekt, das frei entscheidet, wer oder was es sein will.
Dieser Rollenwechsel führt zu mehr Selbstbewusstsein und Selbstsicherheit. Es ist ein Akt der Stärkung des Selbst und damit ein Akt der Befreiung, der mehr Selbstbestimmung ermöglicht. „Mag ich auch noch so unfrei, unterdrückt und unterlegen sein – wer ich bin, das bestimme allein ich. Und ich bestimme, dass ich nicht dein Feind bin.“ Auf diese Weise bekommen Menschen einen Zugang zu den Quellen innerer Freiheit, mit dem alle äußeren Befreiungen beginnen und lebendig gehalten werden.
3. Lernprozess
Der Vorsatz „Wir weigern uns, Feinde zu sein“ ist ein schwieriger und dauerhafter Lernprozess, der in dreifacher Weise wirkt und ineinander verflochten ist.
– Er ist ein kopfgesteuerter kognitiver Lernprozess, der dauerhaft analytische, kreative, Phantasie und Ideen produzierende und Handlungen evaluierende Tätigkeiten umfasst, die die Achtsamkeit schärfen.
– Er ist ein gefühlsbestimmter emotionaler Lernprozess, der dauerhaft nach der Balance von Empathie und respektvoller Distanz sucht, der die Verdrängung von Verletzungen und Enttäuschungen, Schmerzen und Leiden vermeidet, Zorn, Wut und Hass konstruktiv und produktiv verarbeitet und auch Rückschläge und Frustrationen als Lerngelegenheiten sieht.
– Er ist ein handlungsbestimmter operationaler Lernprozess, der nicht aufhört zu üben und zu trainieren, einzeln und in der Gruppe und darüber hinaus. Das geschieht im „Zelt der Nationen“ mit seinen Sommer-Camps und den vielfältigen Angeboten für Freiwillige aus aller Welt, die „kommen und sehen“ und lernen und das Gelernte in ihre Situationen hinein mitnehmen.