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HANS MÜNCHEBERG: Die Macht des Gesanges

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Rekonstruktion eines realen Geschehens

Mehr als drei Jahrzehnte war der Autor neben seiner beruflichen Arbeit im Deutschen Fernsehfunk als gewählter Schöffe am Berliner Stadtbezirksgericht Treptow tätig.

An dem geschilderten Fall hat er als Beisitzender Richter mitgewirkt.

„Typisch Weiber! Für uns kein Feiertag - aber für sie 'n Tag zum Feiern.“

Diese Einheit des Widersprüchlichen und ein ihm eigenes Pflichtgefühl wurden Egon S. im ersten Frühjahr nach dem Mauerbau beinahe zum Verhängnis. Ihm fehlten zudem gewisse Erfahrungsbereiche. Kurz gesagt: Er war ein Spätentwickler.

Noch als Halbwüchsiger war er in das Kabelwerk Berlin-Adlershof gekommen. Dort hatte er nur einmal - und zwar bei seiner Einstellung - mehr als zwei Sätze mit Frauen gewechselt: in der Personalabteilung. Sein Weg zum Facharbeiter und danach in den Meisterbereich II war konsequent von Männern begleitet worden - sein privater Lebenslauf jedoch von einer willensstarken Frau, seiner Mutter.

„Du darfst nie uffhören zu lernen, Junge!“, schärfte sie ihm immer wieder ein. „Oder willste ewig Schichtarbeiter blei'm?“ Und wenn er sie dann mit gequältem Gesichtsausdruck anblinzelte, versicherte sie eifernd: „In dir steckt mehr, ville mehr! Ne Mutter fühlt das! Und et wär ne Sünde, würdeste unjenutzt lassen, wat dir Gottes Gnade an Talent mit auf'n Weg jejeben hat.“

Das mit der Sünde meinte sie ernst. Mit GOTT DEM HERRN wollte sie stets im Einklang leben. Sie ging regelmäßig in die Kirche. Solange Egon klein war, musste er sie zum Gottesdienst begleiten. Massiver Druck durch seine Schulfreunde half ihm Jahre später, sich zum ersten Mal gegen den Willen der Mutter zu behaupten und neben der Konfirmation auch zur Jugendweihe zu gehen. Danach musste er sich wieder und wieder Klagen über seinen Verrat anhören. Ihre Gebete wurden immer flehender. Die Macht des Diesseitigen drohte ihren Egon auszuhöhlen. Da war es besser, er verbrachte die Abende auf der Schulbank statt in verräucherten Versammlungsräumen.

Nun also trafen zusammen: der Internationale Frauentag, ein normaler Arbeitstag und der abendliche Stundenplan an der Volkshochschule.

Egons Mutter hielt nicht viel vom Frauentag. Auch für ihren Verflossenen war der 8. März nur ein willkommener Anlass gewesen, sozusagen offiziell um fremde Weiber herumzuscharwenzeln und durch gemeinsames Saufen alle moralischen Hemmschwellen hinwegzuspülen. Und weil Egon über Jahre miterlebt hatte, welche Jammergestalt sein Vater im Vollrausch abgab, war in ihm ein Ekel gegen Bier und Schnaps gewachsen.

Für den frauenlosen Meisterbereich war es ein normaler Arbeitstag, also stiefelte Egon in der Abenddämmerung, nüchtern wie immer, von Adlershof nach Spindlersfeld in die Alexander-von-Humboldt-Schule. Nichtsahnend stieg er in das erste Obergeschoss hinauf.

Die Tür zum Klassenzimmer stand einladend offen und wirkte wie ein Schalltrichter für Zurufe, Kichern und heftiges Prusten. Was gab es da zu lachen? Egon machte einen Schritt in den Raum und das Stimmengewirr verstummte abrupt. Ein rundes Dutzend erwartungsvoller Augenpaare blickte ihm entgegen. Was war los mit den Frauen? Sie sahen irgendwie verändert aus. Und seltsam - von den Männern seiner Klasse war noch niemand erschienen. Jetzt fiel es ihm wieder ein: der 8. März!

„Ja, richtig ...,“ presste er heraus, „herzlichen Glückwunsch zum Internationalen Frauentag.“

„Ist das alles?“

Ratlos blickte er sich um. Was wollten sie von ihm? Einfach übersehen, dachte er, flüchtete auf seinen Platz und atmete auf, als die Klingel ertönte.

Physik, Mathematik und Gesellschaftskunde - seine Glanzfächer. In den Pausen wurde er belagert, mit Schokolade gefüttert und befragt, was er so erwarte - vom Leben allgemein und vom heutigen Abend speziell. Beklommen sah er dem Ende des Unterrichts entgegen. Und richtig, sie schnappten sich seine Aktentasche, sie schnappten sich den Kerl und entführten ihn nach Alt-Köpenick in ein Café. Dort forderten sie von dem Schüchtern-Nüchternen reihum den Vollzug der längst überfälligen Brüderschafts-Zeremonie, mit Kirsch-Likör auf Ex und Kuss.

Die Dunkelheit war längst hereingebrochen, als es Egon endlich gelang, auf dem Umweg über die Herrentoilette zu entkommen. Erst hinter der Dahme-Brücke, schon in Höhe der Schule, fiel ihm ein, dass er seine Mappe mit den Büchern und Heften zurückgelassen hatte.

Egon schwankte, suchte Halt an der alten Litfaßsäule und überlegte: Umkehren? Sich dieser Knutschriege erneut ausliefern? Nein! Es war wie verhext! Jawohl: Hexen!

Quatsch - Frauentag! Schluss, aus! Er stieß sich von der Litfaßsäule ab und spornte sich mit erhobener Stimme an: Auf leisen Sohlen - Gott befohlen!

Der Reim gefiel ihm und so wiederholte er ihn mit stets wechselnder Betonung, mal militärisch hart, mal werbend sanft, endlich halb singend im Rhythmus seiner Schritte. „Aa-uf lei-hei-hei-sen Soooh-len - Go-ho-hott-be-fooohlen ...“

So schwenkte er endlich in die Adlershofer Nipkowstraße ein. Plötzlich erreichten ihn schwebend schöne Klänge, ergriffen ihn, packten ihn, zogen ihn unwiderstehlich an. Chorgesang war es, und er drang, gedämpft zwar, doch vernehmlich aus der etwas von der Straßenfront zurückgesetzten Christus-König-Kirche. Mildes Licht erhellte die rote Backsteinfront des Gebäudes.

Die schmiedeeiserne Tür des Zaunes gab nach, dann auch die schwere Pforte zum Kircheninneren. Und jetzt konnte sich Egon dem Wohlklang voll ergeben. Unsicher, ob er wachte oder träumte, ging er wie ein Schlafwandler mit weit vorgestreckten Armen auf die vielstimmige Quelle des Gesanges zu. Noch nie hatte ihn ein Lied, hatte ihn Musik derart aufgewühlt. Er kannte die Melodie von Kindheit an. Warum hatte er sie noch nie so erlebt?

„Gott-be-fo-ho-hooo-len ...“, stimmte er in das ausklingende Kirchenlied ein.

Jäh brach die letzte Fermate ab. Beunruhigtes Raunen.

„Was wollen Sie? Sie hören doch, wir proben. Merken Sie nicht, dass Sie stören?“ Der Kantor stellte sich Egon mit abwehrend erhobenen Händen entgegen.

„Ach Jotte-nee! Stör'n will ick nich: mitsingen!“

Unterdrücktes Lachen.

Der Kantor erbat sich mit einem warnenden Räuspern vom Chor Ruhe, dann sprach er mit mildem Vorwurf: „Sie irren, junger Freund, mehr noch, Sie haben sich verirrt.“ Dann wies er in Richtung Ausgang. „Und darum werden Sie jetzt so freundlich sein, sich unverzüglich zu entfernen.“

Die Stimme des Kantors brach sich im hohen Kirchenschiff. Egon war versucht, ihr mit den Blicken zu folgen. Toll dieser Bau! Gottes Haus eben! Was hatte die Bergern in Staatsbürgerkunde zitiert? „Kirchtürme sind umgekehrte Trichter, die Gebete der Gläubigen in den Himmel zu lenken.“ Richtig! Dies hier war eindeutig eine Kirche, und die war für alle da! Das stand sogar in der Verfassung. Er hätte nie gedacht, dass er sie einmal brauchen würde.

„Ne Frage noch, Chef! Diss is doch hier 'ne Kirche. Richtig?“

„Richtig, und hier probt der Kirchenchor. Offiziell ist das Gotteshaus längst geschlossen. Also bitte, gehen Sie!“

„Moment, Chef! Sie woll'n doch nich 'n Christenmenschen aus Jottes Haus stoßen?“

„Ich will nur ...“

„Stop, Chef! Kennen Sie uns're Verfassung, Artikel zwanzich und Artikel neunundreißich? - Kennen Sie se oder kennen Sie se nich?“

„Ach, lassen Sie uns doch endlich in Ruhe proben ...“

„Jeht seinen Jang, Chef! Sie proben in Ruhe, und ick unterhalt mir mit'm lieben Jott.“

„Also dann in des Heilands Namen, aber bitte dort hinten am Ausgang.“

Egon winkte dem teils ärgerlich, teils belustigt tuschelnden Chor kollegial zu und stakste gutwillig und mit seinem Erfolg zufrieden in die ihm gewiesene Richtung. Als jedoch anschwellender Gesang hinter ihm her flutete und das ganze Bauwerk erfüllte, packte es ihn erneut. Er setzte sich auf das äußerste Ende einer Kirchenbank, lauschte, summte die Melodie mit, fühlte sich verwoben in ein bisher ungefühltes Sein und fragte sich, ob es nicht doch etwas geben könnte, jenseits des ‚historischen und dialektischen Materialismus‘.

Erfüllt vom Zauber der Klänge, überhörte er das Ende der Probe. „Wachen Sie auf, Mann, und gehen Sie endlich!“ Der Kantor versuchte, den Träumenden aus der Bank zu ziehen.

„Hände weg!“ Mit einem kreatürlichen Klammerreflex hielt sich Egon am Schnitzwerk der Kirchenbank fest.

„Zum letzten Mal im Guten: Gehen Sie - oder wollen Sie Hausfriedensbruch begehen?“

„Wat für'n Bruch? Ick sitz hier janz still, und ick hab'n Recht mit Jott zu reden, wann immer ick will. Und jetzt will ick, und hier will ick.“

„Gott ist überall, und die Kirche ist kein Wartesaal. Gehen Sie endlich!“ Und weil der Eindringling sich weiterhin an das Schnitzwerk klammerte: „Oder muss ich erst die Polizei rufen?“

Egon empfand die Frage nicht als Drohung. „Det machen Se man. Dann werd'n Ihn'n die Jenossen nämlich beibiegen, wat in unsre Verfassung steht von Jlaubensfreiheit und so.“

Einige Chormitglieder waren neugierig an der Tür stehen geblieben und beobachteten die ungewohnte Szene. Den Kantor ärgerte das. Er fühlte sich zu einer entschiedenen Haltung verpflichtet.

„Achten Sie bitte darauf, dass dieser Mann keinen Schaden anrichtet“, rief er der kleinen Gruppe zu. „Ich verständige inzwischen das Polizeirevier.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, eilte er davon.

Zögernd trat ein älterer Mann an Egon heran. „Machen Sie sich nicht unglücklich, junger Mann. Die Kirche muss abgeschlossen werden. Das ist nun mal so.“

Egon zog sich an dem massiven Schnitzwerk hoch.

„Warum darf ick ma nich in Jottes Halle setzen? Nie is mir danach jewesen, aber miteins heute.“ Mit der freien Hand beschrieb er einen weltumfassenden Bogen. „Det muss doch wat zu bedeuten hab'n!“

„Wenn Sie es ehrlich meinen, junger Mann, dann setzen Sie ruhig Ihre Zwiesprache fort... aber vielleicht außerhalb der Kirche.“ Der Mann winkte Egon ihm zu folgen. „Stellen Sie sich einfach vor, Sie wären nicht gerade während unserer Probe hier vorbeigekommen.“ Mit einer weiten Geste erreichte er, dass Egon zu ihm aufschloss.

„Schauen Sie sich diese Tür an, eine herrliche Arbeit, hab ich recht?“

„Mit de Tür haste recht, Kolleje, aber ehrlich, ick kann mir nich vorstell'n, det Jott bloß mal uff Schicht jeht, so wie ick. Also, wenn Jott wirklich Jott is, dann issert rund um die Uhr. Stimmt's?“

„Aber ja. Er ist immer da und überall. Er ist allgegenwärtig.“

„Dann isser jetzt hier? Hier vor de Tür?“

„Auch das.“

„Jut, Meester, dann will ick dir man nich weiter bemühn.

Egon lehnte sich gegen den gemauerten Türbogen und ließ sich auf die oberste Stufe sinken. Tief aufatmend schloss er die Augen und legte den Kopf weit zurück.

Der ältere Mann ging dem Kantor entgegen und wies auf den Türbogen. „Jetzt sitzt er ganz friedlich draußen und scheint ernsthaft nachzudenken.“

„Lieber Herr Lenz, Sie versuchen immer und überall, das Gute zu entdecken. Ich fürchte, der Kerl führt uns alle an der Nase herum.“

„Wie Sie meinen, Herr Kantor. Dann darf ich mich verabschieden.“ Er zögerte, doch der Kantor zeigte nicht den Wunsch, ihn zurückzuhalten. So wandte sich Herr Lenz mit einem leichten Kopfschütteln ab und ging.

Der Kantor schloss geräuschvoll die schwere Eingangstür, stieß missmutig den Schlüssel in das Schloss, drehte ihn hörbar herum und forderte nachdrücklich: „Verlassen Sie endlich kirchlichen Boden oder Sie haben sich die Folgen selbst zuzuschreiben!“

Egon sah keinen Grund, sich zu trollen. Im sicheren Gefühl, mit Gott und der Welt im Einklang zu sein, blieb er auf den Stufen des Portals sitzen und erwartete eher belustigt das Erscheinen der Staatsmacht.

Scheinwerferlicht erhellte die Straße, Blaulicht strich über den schmiedeeisernen Zaun, dann wurden Autotüren zugeschlagen und eine barsche Stimme rief: „Ist da jemand?“

Der Kantor eilte den Uniformierten entgegen. „Ja, hier!“ Er riss die Tür des Zaunes auf und beeilte sich darzulegen, warum er es unvermeidlich gefunden hatte, Hilfe zu rufen.

„Lage erfasst“, ließ sich nun die barsche Stimme vernehmen, „setzen wir ihn also an die frische Luft.“

„Da ... da sitzt er schon.“

„Ja - was sollen wir dann noch ...?“

„Er will nicht vom Grundstück ...“

„Und warum nicht?“

„Das fragen Sie ihn am besten selbst.“

„Na gut. Komm Schorsch, fragen wir ihn.“

Egon räusperte sich, und als die beiden Polizisten auf ihn zu schritten, ergriff er das Wort und die Initiative.

„Juten Abend, Jenossen. Ick hab Eure Frage jehört und kann sofort antworten.“

„Na dann.“

„Dies hier ist 'ne Kirche, und mir is ausnahmsweise mal nach'm Zwiegespräch gewesen mit dem“, er hob Blick und Hände gen Himmel, „obersten Chef von de Kirche.“

Blick und Hände wandten sich den Vertretern der irdischen Macht zu. „Nu hab ick grad in de Abendschule jelernt, in unserm Staat steht die Jlaubensfreiheit unter'm Schutz der Verfassung.“ Blick und Hände schwenkten in Richtung Kantor. „Und da steht ooch, det sich die Kirchen an unse Verfassung halten müssen. Und deswejen, liebe Jenossen, macht mal dem Kollejen in Schwarz klar, det ick hier nur mein verfassungsmäß'jes Recht wahrnehm.“

Die beiden Volkspolizisten sahen sich mit mühsam bewahrtem dienstlichen Ernst an. Der Streifenführer rückte seine große Meldetasche zurecht. Doch bevor er etwas sagen konnte, trat der Kantor auf ihn zu.

„Verzeihung, aber hier geht es überhaupt nicht um die Verfassung. Hier geht's um das Hausrecht. Tagsüber steht unsere Kirche jedermann offen. Aber nach Einbruch der Dunkelheit muss alles verschlossen werden. Das ist Vorschrift, und hier bin ich dafür verantwortlich. Der junge Mann weigert sich aber, das Grundstück zu verlassen. Das ist schlichtweg Hausfriedensbruch!“

„Isses das?“ fragte der Uniformierte mit der barschen Stimme seinen Nebenmann.

Der blätterte suchend in seinen gesammelten Dienstvorschriften und hob dann wie entschuldigend die Schultern. „Das könnt man so sehen.“

„Also dann“, konstatierte die barsche Stimme, „Ende der Debatte.“ Und nach einem schnellen Schritt auf Egon zu, kommandierte der Streifenführer: „Hoch und raus auf die Straße!“

„Moment, Moment.“ Egon hielt ihm abwehrend die Handflächen entgegen „Wat heißt Friedensbruch? Ick sitz hier janz friedlich. Wer det Treiben verrückt macht, det is der Schwarze da.“ Und mit anklagend weisendem Finger: „Der will mich nich reden lassen mit sei'm obersten Chef.“

„Es reicht, Bürger, also hoch und ab!“ Der Streifenführer packte Egon an seinem ausgestreckten Arm und zog ihn mit einem Ruck von den Steinstufen hoch.

Dem wurde durch das schnelle Aufrichten schwindlig, und um nicht zu straucheln, hielt er sich dort fest, wo es ihm einzig möglich war - an der Uniformjacke des Polizisten. Nun hatte der nach dem energischen Hochreißen eines vollgewichtigen Erwachsenen noch nicht die wünschenswerte Standsicherheit wiedererlangt. Die unabsichtlich angesetzte Hebelkraft des sich erschrocken Anklammernden riss beide zu Boden. Unglücklicherweise drehten sie sich dabei so um eine imaginäre Mittelachse, dass Egon auf dem Uniformierten zu liegen kam.

Den Streifenführer schmerzte seine unvermutete Unterlegenheit. Er stieß einen unartikulierten Schrei aus. Seine Stimme hatte plötzlich alles Barsche verloren.

Der andere Ordnungswächter sah nur, dass dieser widerspenstige Zivilist plötzlich auf seinem Vorgesetzten lag und handelte völlig mechanisch. Er riss den Schlagstock vom Koppel und drosch auf den vermeintlichen Angreifer ein.

Egon rollte sich sofort zur Seite und rief: „Hör auf, du Idiot!“

„Wird auch noch frech, der Bet-Heini!“ Und nun sauste der Schlagstock erneut auf Egon nieder. Der Streifenführer hatte sich aufgerappelt. Schreck und Schmerz blockierten jede nüchterne Überlegung. Wütend trat er nach dem vor ihm am Boden Liegenden.

„Aber meine Herren ...“ Der Kantor versuchte zaghaft, sich ins Mittel zu legen.

„Schon gut, Hochwürden. Den Burschen stauchen wir jetzt so zurecht, dass er Ihnen nie wieder in die Quere kommt“, keuchte der Streifenführer.

Schutzsuchend wollte Egon zum Kantor robben, doch der Schlagstockschwinger versperrte ihm den Weg und lachte triumphierend.

In ohnmächtigem Zorn brach es aus Egon heraus: „Und ihr wollt Volkspolizisten sein? Ihr seid ja schlimmer als die SS!“

„Das wirst du bereuen, du Schwein! Hochwürden, Sie sind Zeuge!“, stieß der Streifenführer heraus und befahl seinem Untergebenen: „Los, Schorsch, die Handschellen!“

Sie warfen sich auf den Zerschundenen, drehten ihm die Arme gewaltsam auf den Rücken und ließen die stählerne Acht um die Handgelenke schnappen.

„Aber, aber... Muss man denn gleich ...“ Der Kantor beugte sich zu Egon hinab und wischte ihm mit einem makellos weißen Tuch Blut aus dem Gesicht.

„Sie haben uns zwar gerufen, Hochwürden, aber jetzt halten Sie sich mal fein raus. Alles, was Sie jetzt noch zu tun haben, ist nachher unser Protokoll unterschreiben.“

Das Protokoll des Streifenführers bildete den Pfeiler einer Anklage wegen ‚Hausfriedensbruch und staatsfeindlicher Hetze in Tateinheit mit Widerstand gegen staatliche Maßnahmen‘.

Die Schöffen des Stadtbezirksgerichts hatten zwar den Eröffnungsbeschluss unterschrieben, aber die Vorladung des Kantors, des Herrn Lenz vom Kirchenchor, eines Vertreters der Volkshochschule und des Meisters aus dem Kabelwerk als Zeugen durchgesetzt. Zwischen deren Aussagen und dem Protokoll der Streifenpolizisten hatten sie einen eklatanten Widerspruch entdeckt.

Die Beweisaufnahme bestätigte ihre Vermutung. Es löste Bewegung im Gerichtssaal aus, als die Polizisten erklärten, keine Aussagegenehmigung erhalten zu haben.

Der Kantor bat erneut ums Wort. Er habe sich nach jenem Abend den Vorwurf gemacht, nicht auf Herrn Lenz gehört zu haben. Diese unglückselige Zuspitzung wäre dann vermieden worden. Den Vorwurf des Hausfriedensbruches bat er zurücknehmen zu dürfen. „Es war falsch von mir“, fügte er mit belegter Stimme hinzu, „einen jungen Mann hinauszuweisen, der vielleicht doch in einer besonderen Situation war. Heute kann ich das nur bedauern.“

Der Staatsanwalt beharrte zwar auf der erhobenen Anklage, beantragte jedoch, die geforderte Freiheitsstrafe für die Dauer von drei Jahren zur Bewährung auszusetzen.

Das Gericht folgte dem Antrag nicht. Mit ihrer Stimmenmehrheit setzten die beiden Schöffen durch, dass Egon S. lediglich ein öffentlicher Tadel ausgesprochen wurde.

(Erstmals veröffentlicht in „Außergewöhnliche Fälle“, Edition Lithaus, Berlin, 2010)


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