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Vor dem Durchbruch (1857–1862)

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Das erste Ehejahr verbrachten die frisch Vermählten noch ohne Honorines Töchter, die vorübergehend bei den Großeltern untergebracht wurden. Verne begann damit, seine Tage streng einzuteilen. Er stand früh morgens zwischen fünf und sechs Uhr auf, schrieb bis mittags, ging dann an die Börse und widmete sich seinen Kunden oder ging in die Nationalbibliothek. Da die großen Aufträge ausblieben, verwaltete er Aktien von Familienmitgliedern.

1857 trat Verne überraschenderweise in der Revue des Beaux-Arts mit Artikeln über den Salon von Paris als Kunstkritiker auf. Obwohl es sich dabei um eine einmalige Angelegenheit handelte, ist diese Episode von besonderem Interesse, weil Vernes Geschmack und seine künstlerischen Wertvorstellungen hier anschaulich zum Ausdruck kommen. Überhaupt spielte die Malerei für ihn persönlich und für sein Werk eine nicht zu unterschätzende Rolle. Er war selbst ein überdurchschnittlich begabter Zeichner, wie die beeindruckenden Skizzen seiner Notizen zur Skandinavien-Reise von 1861 beweisen, und besaß ein natürliches Gespür für Malerei, ein Talent, das sich auch für sein literarisches Werk als äußerst hilfreich erweisen sollte. Einerseits aus dem praktischen Grund, dass er bei der Gestaltung der Buchillustrationen später wichtige Impulse zu geben vermochte, und andererseits, weil sich dies fruchtbar auf die Bildlichkeit seiner literarischen Beschreibungen auswirkte. Sein singulärer Auftritt im Salon von 1857 gliedert sich somit nahtlos in seine Affinität zur Anschaulichkeit und bildlichen Beschreibung ein und verweist auf die Bedeutung des Betrachtens für seine Romane und Figuren, die oft die meiste Zeit damit beschäftigt sind, zu beobachten, was um sie herum geschieht: aus der Gondel eines Ballons, aus dem Fenster eines fahrenden Zuges oder durch die Bullaugen der Nautilus.

Die Kunstsalons waren gesellschaftliche Großereignisse. Zwar stand der Salon von 1857 im Schatten der Pariser Weltausstellung von 1855, kam aber dennoch auf 3.000 Bilder und Skulpturen, die in neun großen Sälen im Industriepalast an den Champs-Elysée ausgestellt wurden. In einer Tour de force erwähnt Verne von der unüberschaubaren Menge ganze 280 Maler, auch wenn nicht viel Raum bleibt, auf die meisten davon genauer einzugehen. Verne bevorzugt insgesamt die Klassizisten und die Romantiker, während der Realismus, die innovativste Schule jener Zeit, ihm aus moralischen Gründen Schwierigkeiten bereitet. Vernes Kritik sollte vor allem den Realisten Gustave Courbet treffen, der seit einigen Jahren schon die konservativen Kritiker provozierte. Bei der Weltausstellung von 1855 hatte sein großformatiges Gemälde L’atelier du peintre (Das Atelier des Künstlers) für heftige Diskussionen gesorgt. Aus heutiger Sicht ist nicht mehr unmittelbar nachvollziehbar, was an dem emblematischen Bild so provokativ gewesen ist. Zunächst einmal brach Courbet mit der akademischen Hierarchie der Gattungen, indem er das Großformat von 3,5 × 6 Metern nicht wie üblich historischen, mythologischen oder religiösen Stoffen widmete, sondern einem sich als beiläufig darstellenden Blick in das Atelier des Künstlers, der an der Staffelei sitzt und von mehreren Gruppen umgeben ist. Dabei sticht in der Mitte ein nacktes Modell heraus, das sich nur zum Teil mit einem weißen Tuch bedeckt, die linke Brust aber freilässt.

Die Nacktheit allein hätte zur Provokation nicht ausgereicht, denn im Verbund mit mythologischen oder historischen Stoffen wurde sie moralisch kaschiert. So hatte der von Verne geschätzte Bildhauer Auguste Clésinger 1847 seine Liegendstatue, die eine sich in Wollust windende junge Dame zeigt, einfach Femme piquée par un serpent (Frau, die von einer Schlange gebissen wurde) genannt und damit den erotischen Gehalt vertuscht. Courbet hingegen versuchte nicht einmal, dies zu verbergen. Die Tatsache, dass er eine als »echt« anzusehende Frau darstellte, galt schlichtweg als vulgär.

Auch im Salon von 1857 sollte Courbet wieder vertreten sein und prompt den Ärger Jules Vernes auf sich ziehen. Denn obwohl Verne gestehen muss, dass Courbet technisch ein großer Maler sei, hält er das Bild Les Demoiselles des bords de la Seine (Die Fräulein vom Ufer der Seine) schlichtweg für unschicklich: »Was die Fräulein vom Ufer der Seine angeht, so sind es in der Tat echte Fräulein; sie liegen auf dem Grase ausgestreckt, die eine auf der Seite, die andere auf dem Bauch; sie tragen Seidenkleider und Sommertücher; sie wälzen sich in all der zerknitterten Aufmachung, die wohl niemals ladenneu für sie gewesen ist; dem Publikum werfen sie unzweideutige Blicke zu. Wo sucht sich Herr Courbet bloß seine Modelle! Da sieht man, was er öffentlich ausstellt! Fräulein, die ihren Donnerstag dazu nutzen, sich auf dem Grase herumzulümmeln. Angefügt sei noch, dass die Zeichnung des Bildes grob und ungenau ist, dass die Farbe einen unangenehmen Gelbton hat und dass das Bild nach den Statuten der Polizei nur zwischen acht und elf Uhr abends gezeigt werden sollte.«


Courbets Fräulein vom Ufer der Seine verletzten Vernes Moralgefühl.

Dass es sich bei den beiden Fräulein auf dem grasigen Seine-Ufer wirklich um käufliche Mädchen handelt, ist für den heutigen Betrachter auf den ersten Blick nicht ersichtlich, für denjenigen des 19. Jahrhunderts jedoch ziemlich eindeutig. Im Zweiten Kaiserreich stieg die Prostitution in Paris enorm an und wurde auch an den Ufern der Seine ausgeübt. Die Szenerie der schlafenden Frauen beinhaltet Zeichen, die klar darauf verweisen, dass der Geschlechtsakt bereits stattgefunden hat: Im Boot liegt ein Strohhut, den ein Freier offenbar vergessen hat; die vordere der beiden wirkt erschöpft und trägt keine Handschuhe mehr, ihr Hut hängt im Busch hinter ihr. Vernes Moralgefühl war empfindlich verletzt, auf kein anderes Bild der Ausstellung reagierte er so heftig. Noch einige Jahre später wird er in seinem Roman Paris im 20. Jahrhundert dem Realismus Courbets einen Seitenhieb verpassen und dem Maler vorwerfen, eine hygienische Verrichtung gemalt zu haben, die zwar notwendig, aber überhaupt nicht elegant sei – wobei Verne die Eleganz besitzt, hier so vage zu bleiben, dass sich jeder selbst etwas darunter vorstellen muss.

Unverhohlene Bewunderung hegt Verne für die kleinformatigen Genreszenen Meissoniers, für die Glaneuses (Ährenleserinnen) von Edmond Hédouin, die unter dunklem Himmel vor einem dräuenden Gewitter über das Feld flüchten, für Louis Duveaus Le Viatique (Letzte Kommunion) wegen des tiefen Glaubens auf der Physiognomie der Figuren und der wahrhaft christlichen Inszenierung, die Meisterschaft in der Farbgestaltung von Paul Baudry und den Loup garou (Werwolf) von Maurice Sand wegen seiner eindrucksvollen Fantastik.

Ausführlicher widmet er sich Jean-Léon Gérôme, einem der bedeutendsten Repräsentanten der akademischen Malerei seiner Zeit, der 1857 bereits zu einer festen Größe im Salon geworden war, seit er zehn Jahre zuvor mit Hahnenkampf eine goldene Medaille gewonnen hatte. Verne ist ganz angetan von dem Bild Suites du bal masqué (Folgen des Maskenballs): »Ein Pierrot und ein Harlekin sind aneinander geraten; sie haben den Ball verlassen, sich unter hohe Bäume in der Nähe begeben, wo der Nebel aufsteigt; es ist Nacht, die Erde ist von Schnee bedeckt; sie haben sich mit dem Degen duelliert, und der unglückliche Pierrot hat einen tödlichen Hieb erhalten.

Es gibt in seiner Einfachheit nichts Dramatischeres als diesen Kampf zweier junger Menschen in ihrem Karnevalskostüm; die weißen Kleider des Opfers sind mit rotem Blut befleckt; der Harlekin ergreift erschrocken die Flucht. Die Zeichnung von Herrn Gérôme ist großartig, die Bewegung seiner Figuren stets einfach und wahr; er hat bei diesem Werk ein unbestreitbares Talent gezeigt.«


Gérômes Folgen eines Maskenballs hielt Verne für große Kunst.

Vernes Schlüsselbegriffe lauten Einfachheit, Dramatik, Komposition, Zeichnung, Wahrheit, und fasst man weitere Aussagen noch zusammen, dann sind ihm Farbe, Kontrast und Details wichtig. Insgesamt existieren in Vernes Auffassung von Malerei akademische und romantische Ästhetik harmonisch nebeneinander. Hatten sich im Pariser Salon von 1827 – ein Jahr vor Vernes Geburt – die Geister noch an Ingres’ klassizistischer Apotheose Homers und Eugène Delacroix’ romantischem Tod des Sardanapal geschieden, so stellen sie dreißig Jahre später offenbar keineswegs mehr Gegensätze dar. An der Akademie scheint Verne die Klarheit der Komposition und die Genauigkeit der Zeichnung zu lieben, an der Romantik hingegen die Rolle der Farbe, der Bewegung und die exotischen Motive.

Nun stellt sich die Frage, ob Vernes Kunsturteile dabei helfen, seine späteren Werke zu verstehen. Ich glaube, dass in seiner geschmacklichen Synthese aus Klassizismus und Romantik bei gleichzeitiger Ablehnung des Realismus aus moralischen Gründen eine Formel liegt, die sein Romanschaffen in hellerem Lichte zeigt, als es allein dessen Verortung auf dem literarischen Feld zu leisten vermag. Vernes Romane über den Umweg der Malerei synästhetisch zu betrachten, schärft weiterhin den Blick dafür, dass er die klassizistischen Motive romantisch überwindet und zugleich die Auswüchse der Romantik klassizistisch zügelt.

Dies sollte auch bei seiner Auseinandersetzung mit dem Werk Edgar Allan Poes deutlich werden, das er offenbar Anfang der 1860er für sich entdeckte und das einen entscheidenden Impuls zur Entwicklung des wissenschaftlichen Romans gegeben hat. Zusammengefasst hat Verne seine Gedanken in einem Essay, das 1864 unter dem Titel Edgard Poë et ses œuvres (Edgar Poe und seine Werke) im Musée des familles erschienen ist. Charles Baudelaires Übersetzungen – die Histoires extraordinaires von 1856 und die Aventures d’Arthur Gordon Pym von 1858 – hatten Poe in Frankreich bekannt gemacht und auch Verne in ihren Bann geschlagen, der Poe als Schöpfer einer neuen Gattung und als »Kopf der Schule des Unheimlichen« ansah. Vernes Poe-Lektüre ist einerseits eine Mischung aus literarhistorischen und literaturkritischen Überlegungen, andererseits aber auch diejenige eines Schriftstellers auf der Suche nach Inspiration.

Literaturgeschichtlich ordnet Verne Poe zwischen der Gothic-Autorin Anne Radcliff und dem Romantiker E. T. A. Hoffmann ein. Während Radcliff Schreckensgeschichten verfasst habe, die jedoch allesamt eine natürliche Erklärung fänden, stehe Hoffmann für die reine Fantastik jenseits von Vernunft und Physik. Poes Figuren hingegen seien zwar nicht unrealistisch, aber exzessiv in ihrem Intellekt und ihrer Vorstellungskraft, die es ihnen erlaube, aus den unbedeutendsten Details zu den tiefsten Wahrheiten zu gelangen. Die intellektuelle Tätigkeit des Deduzierens zelebriert Poe vor allem in den drei Erzählungen Die Morde der Rue Morgue, Der Goldkäfer und Der stibitzte Brief, die das moderne Detektivgenre begründeten. Begeistert ist Verne von der Innovation, welche der Prototyp des Detektivs – Auguste Dupin – in die Literatur einbrachte. Die Welt als Zeichensystem zu verstehen, das man zu entziffern lernen musste, das hatten zwar schon Coopers Romane am Beispiel der Natur vorgeführt, Poe aber konzentrierte dies auf wahre Rätselaufgaben in Form von Kryptogrammen wie in Vernes Lieblingserzählung Der Goldkäfer. Auch Vernes spätere Figuren sollten episodisch in Detektive verwandelt werden, wenn sie in Reise zum Mittelpunkt der Erde oder den Kindern des Kapitän Grant Schriftstücke zu entschlüsseln hatten.

Kritisch hingegen sah Verne, dass Poe es mit den physikalischen Gesetzen nicht immer ganz genau nahm. In der Erzählung Das unvergleichliche Abenteuer eines gewissen Hans Pfaall, in der ein Ballon zum Mond aufsteigt, monierte er, dass Poe sich über Physik und Mechanik einfach hinwegsetze, obwohl er alles durch ein paar Erfindungen hätte viel wahrscheinlicher machen können. Weiterhin vermisst Verne den Eingriff der Vorsehung, des Transzendenten, der doch gerade bei den extremen Thematiken Poes zu erwarten gewesen sei. Leider erweise sich Poe darin als ein weiterer »Apostel des Materialismus«, aber Verne beschwichtigt: »Ich vermute, dass dies weniger die Schuld seines Temperaments denn des Einflusses der rein pragmatischen und industriellen Gesellschaft der USA ist.« Hier stimmt Verne in den Ton jener europäischen Amerika-Skepsis ein, in der sich Ablehnung und Faszination miteinander vermischen und die auch in Vernes Amerika-Bild immer wieder anklingen sollte.

Die Deduktion als narratives Verfahren, die Einhaltung physikalischer Gesetze im Sinne der Wahrscheinlichkeit und die Überwindung des reinen Materialismus, so könnte man die Orientierungspunkte zusammenfassen, die Verne aus seiner Auseinandersetzung mit Poes Werken gewinnt. Aber mit der Zusammenfassung und Ordnung der expliziten Aussagen ist es hier noch nicht getan. Verne kann nicht umhin, auch von der Wirkung der Erzählungen auf ihn zu schwärmen. Nachdem Verne beschrieben hat, wie Dupin in Die Morde der Rue Morgue seine Schlussfolgerungen vorträgt, hält er inne: »Ich gebe zu, dass mir bei dieser Stelle des Buches … ein Schauer über den Rücken lief! Sehen Sie nur, wie sehr dieser erstaunliche Erzähler von einem Besitz ergreift! Ist er der Herr über unsere Vorstellungskraft? Hält er einen im Pulsschlag seiner Erzählung gefangen?« Und nach der Besprechung des Goldkäfers kommt er zu dem Schluss, dass die Erzählung »ungewöhnlich, erstaunlich, spannend durch bisher unbekannte Mittel, voller Beobachtungen und Schlussfolgerungen der höchsten Logik« sei. Die Faszination Poes entzündet sich somit vor allem an der elektrisierenden Wirkung, die seine narrativen Innovationen auf Verne haben.

Was Poe in die Literaturgeschichte eingebracht hat, waren somit einerseits neue Motive und Stoffe, welche die bis heute lebendige Kriminalliteratur maßgeblich geprägt haben, andererseits aber auch eine radikale Wirkungsästhetik, die Poe selbst in seinem Essay Die Methode der Komposition von 1846 zusammengefasst hat. Dort führt er am Beispiel seines Gedichts Der Rabe vor, wie kalkuliert er seine Kunst rückwärts entwickelt, das heißt immer von der Auflösung aus, die der Autor nie aus dem Blick verlieren dürfe. Er macht deutlich, dass sich kein einziger Moment des Textes auf Zufall oder Intuition zurückführen lässt, ja, »dass das Werk Schritt um Schritt mit der Präzision und strengen Folgerichtigkeit eines mathematischen Problems seiner Vollendung« entgegengeht. Dabei orientiert sich das Kunstwerk für Poe an den jeweiligen Effekten, die es hervorrufen soll, so dass das Kunstwerk in letzter Konsequenz als eine Abfolge von Wirkungen verstanden werden kann. Auch wenn Verne die Methode der Komposition nicht gelesen haben dürfte, hat er doch sehr genau gespürt, wie Poe seine Leser über eine Staffelung von Wirkungen fesselt und aus ihrem Alltag herausreißt. Diese Lektion war unterschwellig genauso wichtig wie Poes neue Erzählmotive.

Über die Vermittlung des befreundeten Schriftstellers Alfred de Bréhat wurde Verne 1861 mit dem Verleger Pierre-Jules Hetzel bekannt. Er bot ihm seinen Reisebericht Voyage en Angleterre et en Écosse an, für den Hetzel sich zwar nicht interessierte, er erkannte aber Vernes Erzähltalent und riet ihm, sich eine außergewöhnlichere Reise vorzunehmen. Mit Poe im Hinterkopf machte Verne sich mit Verve daran, das Thema der Ballonfahrt weiter auszuarbeiten. Als kleine Hommage an den Amerikaner nannte er seinen Ballon »Victoria« nach demjenigen aus Poes Erzählung Der Ballon-Jux. Dass in eben dieser Erzählung Poes auch der Begriff der »außergewöhnlichen Reise« fällt, klingt im Rückblick wie ein Schicksalswink. Jetzt musste Verne nur noch den Verleger überzeugen. Die Zeit drängte, denn privat wurde es immer eiliger, sich eine gesicherte finanzielle Existenz aufzubauen: In der Nacht vom 3. zum 4. August 1861 war Vernes einziges Kind, sein Sohn Michel, geboren worden. Damit stieg Vernes familiäre Verantwortung noch einmal deutlich an.

Jules Verne

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