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DREI

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Ich brauchte ein paar Tage, um mich von dem Kampf zu erholen. Die Mädchen in der Kranichstraße waren dabei sehr hilfreich: Whirlpool, Massage, Einsalben, Wundversorgung oder nur ein liebes Lachen, jede tat, was sie konnte und ich zuließ.

Nur Stina Nereni ließ sich eine Weile nicht blicken. Als sie wiederkam, lächelte sie süßsauer. »Den hast du ja ganz schön fertiggemacht.«

»Und dein Traum?«, fragte ich.

»Ich muss halt zusehen, dass ich zu einem Werksteam komme.« Sie war hart im Nehmen. »Kann ich mir den Jaguar mal ansehen?«

Ich reichte ihr den Schlüssel. »Pass auf, die Kiste ist ganz schön bissig.«

»Sind Raubkatzen immer.« Vorfreude strahlte durch ihre Traurigkeit hindurch. Kurz darauf hörte ich den Motor des Jaguars aufheulen. Als Stina ihn auf die Straße lenkte, blubberte der Achtzylinder, um dann fauchend in Richtung Bundesstraße zu verklingen.

Lydia erzählte mir später, dass Stina den Wagen mit rotem Gesicht und breitem Grinsen zurückgebracht habe. Sie habe von Rennfahrwerk, Kompressor, Keramikbremsen und Chiptuning geredet wie die anderen Mädchen von Lippenstift und Nagellack.

Am Freitag fuhr ich noch mal nach Stuttgart. Ich ließ den Klappenauspuff offen, als ich hinter Kollege Wandenberg in die Tiefgarage fuhr. Er hatte schon einen unfreundlichen Kommentar auf den Lippen, als ich aus dem F-Type ausstieg, verkniff ihn sich dann aber. Vermutlich hatte ihn mein vom Kampf noch immer leicht gezeichnetes Gesicht gebremst. Vielleicht weil ihm dämmerte, dass man in der Praxis andere Fähigkeiten brauchte als in seinem überdimensionierten Großraumbüro. Ich holte mir mein Briefing ab, verabschiedete mich ins Wochenende und war in einer Stunde wieder in Friederichsburg.

Am Samstag besuchte ich Nadija – oder eigentlich eher David. Ich hatte Stina im Schlepptau, die David den Wagen erklärte, und dann drückte ich ihr den Schlüssel in die Hand. »Zeig ihm mal, was der Wagen kann.«

Stina grinste schelmisch und fragte Nadija: »In Hockenheim ist die Strecke offen. Dürfen wir?«

Nadija wusste um Stinas Leidenschaft für das Rennfahren. Bei unserem letzten Fall hatte sie Stina, nachdem diese einer Vergewaltigung zum Opfer gefallen war, sehr feinfühlig befragt und hatte seither eine besondere Aufmerksamkeit für sie.

Trotzdem rangen in Nadijas Brust zwei Herzen miteinander, die Angst um ihren Sohn und das Wissen darum, welche Freude sie ihm bereiten würde. Der Gedanke an die Freude gewann. »Bringt euch nicht um.«

Da hüpfte Stina ihr an den Hals, sagte Danke und winkte David dann so eilig in den Jaguar, als hätte sie Angst, Nadija könnte es sich sonst anders überlegen.

Nadija und ich gingen einkaufen und kochten dann zusammen. Ich machte einen gefüllten Rollbraten und Nadija Rosenkohl mit Maronen, dazu gab es Kartoffelgratin und einen frischen Salat.

Aus dem Wohnzimmer klang Norah Jones leise herüber, und wir gönnten uns einen französischen Merlot, obwohl es erst Nachmittag war. Nadija erzählte mir, dass sie die beiden Männer, die bei Mike Schneller gewesen waren, überprüft hätten. »Die wollten seinen Rennstall sponsern. ›Schneller Racing‹ will nächstes Jahr in der GT3 mitfahren, da ging es um je zwanzig Millionen.«

»Deshalb hat er sich für die zum Affen gemacht«, überlegte ich laut.

»Ja, hat aber nichts genützt, nach dem Kampf sind sie abgesprungen.«

Das war teuer, dachte ich, Auto und vierzig Millionen verloren. Aber Nadija erzählte noch, dass nicht ganz klar sei, woher die Millionen stammten. Sie habe die Sache an die Kollegen vom LKA weitergeleitet wegen des Verdachts auf Geldwäsche.

Nadija wechselte abrupt das Thema und fragte, wie es mir gehe. Ich wich dem aus, denn mir war nicht klar, ob ihr Interesse mehr das einer Vorgesetzten, einer Freundin oder einer Liebenden war. Obwohl sie ihre Fragen geschickt stellte, erkannte ich doch bald, dass sie nicht nur meine Einsatzfähigkeit prüfen wollte. Wohl eher versuchte sie herauszufinden, ob ich meine Frau noch liebte und ob ich noch an Rayana Bakthari dachte, jene rätselhafte afghanische Schönheit, die wir aus den Fängen einer Mädchenhändlerbande befreit hatten.

Ich trank mein Glas leer und schenkte uns beiden von dem Merlot nach. Langsam sickerte der Geist des Weines in mein Empfinden, beruhigte und entspannte mich. Nadija ließ mir Zeit. Sie war einfach da, beschäftigte sich mit den alltäglichen Verrichtungen des Kochens. Es hatte etwas so Beruhigendes, so Festes und Sicheres, neben ihr zu arbeiten, ohne Hast, mit den geübten Handgriffen.

Und dann, als der Braten im Ofen war, setzte ich mich an den Küchentisch, schwenkte den Merlot im Glas und sagte zu Nadija, die noch den Salat wusch: »Ich glaube, mit Julia ist es wie mit einem Lieblingsbuch. Du kommst an die letzten Seiten, du weißt, dass es bald zu Ende sein wird, und vermisst schon den Helden und all die anderen Figuren, die du über so viele Seiten begleiten durftest. Du wirst das Buch zuklappen, es ins Regal stellen und ein neues beginnen, aber du wirst es nicht vergessen, es ist ein Teil von dir geworden, ein Teil deines Lebens. Jedes Mal, wenn du daran denkst, fragst du dich, ob es je eine Fortsetzung geben wird. Du fragst in den Buchgeschäften danach, aber niemand weiß etwas davon, wird je etwas davon wissen. Dir bleibt nur deine Erinnerung an ein altes, oft gelesenes Buch, dessen Seiten langsam verblassen.«

Nadija war mit dem Salat fertig und hatte sich beim Zuhören die Hände abgetrocknet. Einen Moment ließ sie meine Worte nachklingen, dann sagte sie: »Das war jetzt aber sehr sentimental, Carl.«

Ich sagte entschuldigend: »Daran ist der Merlot schuld. Warum gibst du mir auch am Nachmittag schon –« In dem Moment wurde mir klar, dass sie ein ganz schön geschicktes Luder war.

Und sie wusste, dass ich es wusste. Deshalb blieb ihr nichts anderes übrig, als ganz direkt zu fragen: »Und Rayana, was ist mit ihr?«

Ich hatte das Gefühl, es könnte Nadija verletzen, wenn ich in dieser Hinsicht zu ehrlich war. Deshalb sagte ich: »Ich sehe mir gelegentlich die Bilder auf meinem Handy an, die du mir geschickt hast. Wenn Julia ein altes Lieblingsbuch ist, ist Rayana vielleicht eine von den verlockenden Neuerscheinungen, aber sie scheint nur in Sprachen auf den Markt zu kommen, die ich nicht lesen kann.«

Ich hatte Rayana Bakthari einfach in eine Reihe von beliebigen Möglichkeiten eingeordnet. Aber Nadijas weibliche Intuition war zu gut, als dass ich sie hätte täuschen können. Für einen Augenblick hatte sie ihr Mienenspiel nicht im Griff, dann sah sie mich wieder freundschaftlich an und sagte: »Ah, so schlimm ist es«, und drehte sich um, vielleicht um die Salatsoße zuzubereiten.

Kurz darauf kamen Stina und David zurück. Autonarren unter sich. Ihre Begeisterung ließ Nadijas Wohnung erstrahlen wie eine Hundert-Watt-Glühbirne einen Schuhkarton. David hielt Stina für die beste Rennfahrerin seit Niki Lauda und Michael Schumacher zusammen.

»Stina hat alle Porsches überholt, echt alle!«

Nadija war entsetzt.

Leider konnte Stina nicht zum Abendessen bleiben. »Ich muss noch arbeiten, es ist ja Samstag«, sagte sie und ging mit leuchtenden Augen. Ihr Traum lebte – noch immer.

Am Sonntag fuhr ich um elf nach Stuttgart zu der Verabredung mit meinen Kindern. Ich war gespannt, was mein Sohn zu dem Jaguar sagen würde. Um es vorwegzunehmen: Er sagte zunächst gar nichts.

Aber zuerst überraschte mich meine Frau, nachdem ich an der bronzenen Pforte ihrer Eltern geklingelt hatte. »Hallo, Carl. Die Kinder sind noch nicht fertig. Willst du so lange reinkommen?«

»Hallo, Julia.« Ich gab ihr, etwas verlegen, einen Kuss auf die Wange. »Du siehst gut aus.«

Sie ließ es geschehen. »Danke, komm rein.«

Sie ging vor mir her in das Wohnzimmer mit dem Granitfußboden und den holzgetäfelten Wänden. Aus dem Fenster, das fast eine ganze Wand einnahm, hatte man eine wunderbaren Blick über Stuttgart. Es war ein herrlicher Frühsommertag. Der Himmel war blau, und die Schatten der wenigen weißen Wölkchen zogen langsam durch das Tal und die Weinberge hinauf. Julia schenkte mir, ohne zu fragen, ein Glas Wasser ein. Wie oft hatte sie gesagt, dass ich nicht nur Alkohol und Kaffee trinken solle. Sie ging ans Fenster und sah hinaus.

Ich trat neben sie. »Schön hier, tolle Aussicht.«

»Ich ziehe in eine Wohnung, unten in der Stadt.«

»Das ist doch gar nicht so einfach in Stuttgart.«

»Es ist besser für die Kinder, da haben sie es nicht so weit zur Schule.«

Wohnungen in Stuttgart waren sauteuer, aber sicher unterstützten ihre Eltern sie. Als hätte sie meine Gedanken gelesen, sagte Julia: »Ich arbeite wieder, im Sozialministerium.«

Julia hatte Soziologie studiert und ihre Diplomarbeit über interkulturelle Spannungen und Kriminalität geschrieben. Ihre Stelle im Ministerium war zunächst auf eineinhalb Jahre begrenzt, ein Projekt in der Integrationsforschung, aber sie freute sich sehr darüber. Ich freute mich mit ihr. Wahrscheinlich war sie auch wegen der neuen Stelle weicher und versöhnlicher als bei all unseren zurückliegenden Treffen. Ein warmes Gefühl der Verbundenheit kroch langsam aus meinem Bauch weiter hinauf und breitete sich in mir aus. Meine Julia, die frühen verrückten Jahre, ihr Lachen, die Kinder, als sie klein waren und unsere Welt noch heil.

Julia strich zärtlich über die letzten Spuren des Boxkampfes in meinem Gesicht. »Wie habe ich dich früher bewundert, wenn du mit blauen Flecken und Wunden, aber siegreich nach Hause kamst.«

Sie hatte mir Eisbeutel aufgelegt und mich mit Pflastern versorgt, und wir hatten uns geliebt.

»Jetzt«, fuhr sie fort, »finde ich es nur noch schrecklich.« Sie ließ die Hand sinken und sah traurig hinunter ins Tal. Der Zauber verflog, und ich war zurück in der Wirklichkeit.

»Ich habe jemanden kennengelernt«, sagte sie zu dem Tal, der Stadt, der Landschaft, den Bergen.

Das tat weh. Meine Julia. »Ziehst du zu ihm?«

Sie sah mich an. Dieses Gesicht kannte ich so gut. Jetzt war es voller Freude und Schmerz und Mitleid. Sie presste die Lippen aufeinander und nickte immer wieder, bis es ihr gelang, ein trauriges, unmissverständliches, unumstößliches, absolutes »Ja« hervorzubringen. »Tut mir leid. Es tut mir wirklich leid.«

Immerhin wusste sie, dass sich dieses Ja anfühlte wie ein Messer, das mein Herz durchdrang. Ich nahm sie in den Arm, küsste sie auf den Kopf und sagte: »Viel Glück … Wirklich.«

Das war genug für heute. Ich klappte mein Lieblingsbuch zu, die letzte Seite war gelesen, und stellte es in den Schrank zu den anderen Erinnerungen. »Sind die Kinder nicht bald fertig?«

»Doch. Ich hole sie.«

Und dann stand ich alleine da und genoss die Scheiß-Aussicht.

Kai Christin und Carl Julian passten nicht beide in den Jaguar, deshalb fuhr ich zuerst mit Kai zum Fernsehturm. Ich hatte oben einen Tisch reserviert, und sie sollte dort so lange warten, bis ich mit Carl nachkam. Wir aßen zusammen Mittag, und ich fragte die Kinder nach den Dingen, die sie so den ganzen Tag machten und ob sie sich auf ihr neues Zuhause freuten. Kai nickte und erklärte mir, dass sie es cool fand, in der Stadt zu wohnen. Carl sagte, der Mann – er benutzte seinen Namen nicht – habe ein ganzes Zimmer voll mit einer Eisenbahn und Flugzeugmodellen und sie würden sie mal zusammen fliegen lassen.

Nach dem Essen gingen wir noch eine Weile spazieren. Ich hielt beide an der Hand. Es war, als wäre es ein ganz normaler Tag, und das war das Beste daran. Carl kletterte eine Zeit lang auf einem Spielplatz herum, während Kai neben mir auf ihrem Handy tippte. Dann zeigte sie mir ein paar Fotos von ihren Freundinnen, die auch alle in der Stadt zur Schule gingen. Später rief sie Julia an, um ihr zu sagen, dass sie von dem Waldparkplatz in der Nähe abgeholt werden wollte, weil sie keine Lust hatte zu warten, bis ich Carl nach Hause gebracht hätte.

Während wir auf Julia warteten, fragte Carl: »Warum hast du einen Jaguar?«

»Findest du ihn nicht toll?«

»Er hat nur zwei Sitze, das ist nicht praktisch, jetzt muss Mama extra kommen.«

»Er ist sehr schnell«, versuchte ich Carl zu begeistern. »Ich habe ihn bei einem Boxkampf gewonnen.«

Carl verzog das Gesicht, und dann begannen die Tränen zu fließen. »Scheiß-Jaguar«, schluchzte er und rannte los, weil in dem Moment Julias Golf auf den Parkplatz fuhr.

»Was ist denn jetzt schon wieder?«, fragte ich und sah ihm hilflos hinterher.

»Mann, Papa«, sagte Kai, »du musst immer kämpfen, kannst du dir nicht einfach ein Auto kaufen, ein ganz normales?«

»Es ging doch gar nicht ums Auto. Ich musste doch –«

»Das ist doch egal. Immer musst du schießen oder boxen. Ich wette, du hältst es kein halbes Jahr aus, ohne jemanden zu verprügeln!«

Jetzt war auch Kai dem Heulen nahe, konnte aber vor lauter Wut die Tränen noch zurückhalten. »Wenn du nicht so blöd wärst, könnten wir noch alle zusammenwohnen!«

Dann war auch sie ins Auto gestiegen und schlug die Tür zu. Julia sah mich böse an und gab Gas.

»Doch, ich schaff das«, rief ich hinter dem Auto her. »Ich muss nicht immer kämpfen. Ich beweise es euch. Ich werde es euch beweisen.« Ich betete es mir selbst vor. Am Ende war es nur noch ein Flüstern, und die roten Bremslichter des Golfs verschwammen durch meine Tränen, noch bevor Julia auf die Hauptstraße abbog und verschwand.

Die Rückfahrt verbrachte ich auf der rechten Spur. Wie gerne hätte ich meinen Frust mittels Gaspedal abgebaut, aber ich schätzte, dass meine Konzentration höchstens bei fünfzig Prozent war. Also, lieber schön langsam nach Friederichsburg zurück. Dabei ließ ich mir von der Soundanlage eine therapeutische Dosis Led Zeppelin auf die Ohren geben. Entsprechend laut meldete sich mein Handy über die Freisprechanlage.

»Mann, ich hab’s schon tausendmal versucht. Wo bist du?« Das war Nadija.

»Hi, Nadija. Schön, dich zu hören.« Das meinte ich wirklich, ihre Stimme gab mir das Gefühl, dass meine Einsamkeit nicht so elementar war, wie ich sie gerade gefühlt hatte. »Ich war bei meinen Kindern, da hatte ich das Gerät ausgeschaltet, sorry.«

»Ja, schon gut, und wo bist du jetzt gerade?« Sie klang etwas genervt, zu streng für Sonntagnachmittag.

»Auf der Autobahn, bei Ehningen, ich fahre gleich raus.«

»Das ist gut. Wir haben einen Toten. Wäre schön, wenn du kommen könntest. Ich bin auch schon unterwegs.«

»Was für einen Toten? Wohin?«

»Vermutlich erschossen, Genaueres weiß ich noch nicht. Er liegt in der Nähe des Waldsees von Berneck. Das ist bei Altensteig. Am besten, du fährst bis Rottenburg die A 81 weiter und dann über Nagold.«

»Okay, das finde ich. Also Berneck – und dann?«

»Zum Sportplatz hoch, noch zwei-, dreihundert Meter geradeaus in den Wald und dann einen wenig befahrenen Waldweg links rein. Bis gleich.«

»Bin gleich da. Tschau!«

Eine Mordermittlung, wenn es denn Mord war, war nichts, worauf man sich freuen sollte. Aber in diesem Moment war es genau die Ablenkung, die ich gebrauchen konnte. Ich setzte den Blinker nach links und gab Gas. Das Navi errechnete fünfunddreißig Minuten Fahrtzeit. Der F-Type fraß die Kilometer bis zur Abfahrt Rottenburg, als sei die Raubkatze lange nicht gefüttert worden, und die Serpentinen von Berneck zum Sportplatz auf den Berg hoch hätten richtig Spaß gemacht, wäre mein Reiseziel nicht ein Toter gewesen.

Ab dem Sportplatz war der Waldweg gesperrt. Ich parkte neben einem Streifenwagen. Fünfundzwanzig Minuten. Den Rest ging ich zu Fuß.

Schon von Weitem erkannte ich Nadijas Auto, daneben noch zwei Polizeiwagen. Ich duckte mich unter dem Absperrband hindurch und ging die Zufahrt zum Waldsee entlang. Der Weg durch die Schonung mit dicht stehenden, vielleicht zehn, fünfzehn Jahre alten Douglasien endete an einem Steg, der einige Meter in den See ragte. Ich grüßte den Schutzpolizisten, der den Weg bewachte. Nadija hockte in Spusi-Schutzkleidung auf dem Steg neben dem Toten. Ich hockte mich neben sie.

»Und?«

»Hi. Ein Einschuss.« Sie deutete auf die Brust des Toten, direkt über dem Herzen. Der Tote lag flach auf dem Rücken, alle viere von sich gestreckt, der Kopf war zur Seite gekippt. Junger Mann, vielleicht Mitte dreißig, gut aussehend, sportliche Figur, casual Businesskleidung, festes Schuhwerk, patschnass. Abgesehen von dem Loch in der Brust sah er fast gesund aus, konnte noch nicht lange im Wasser gelegen haben.

»Was denkst du?«, fragte ich Nadija.

»Wer macht so was? Das denke ich immer als Erstes. Der sah wirklich gut aus, so frisch, als hätte er noch ganz viel von seinem Leben erwartet. Gepflegt. Privilegiert. Und dann will ich wissen, warum.«

»Ja, warum. Ist das hier auch der Tatort?«

»Ich denke, ja. Er lag im Wasser, wurde aber anscheinend nicht transportiert. Die Spusi und der Rechtsmediziner kommen aus Stuttgart beziehungsweise Tübingen, da werden wir mehr erfahren. Komm, wir sehen uns mal um.«

Ich richtete mich auf und blickte über den See. Man konnte einhundert bis zweihundert Meter weit sehen. Am anderen Ufer rechts stand ein Hochsitz, weiter links eine kleine Hütte mit Bootshaus. Rundherum nur alter Tannenwald. Also was man so Tannenwald nennt: Tannen, Fichten, Douglasien, Kiefern und so weiter.

»Das war ein Jäger«, sagte ich zu Nadija, die schon ein Stück am Ufer entlanggegangen war.

»Meinst du?«

Ich wies auf den Hochsitz.

»Kann sein.« Sie ließ es offen, ob sie meine Meinung teilte.

Spusi und Ballistik würden da mehr Anhaltspunkte liefern, also erst mal abwarten.

Abwarten war aber gar nicht mein Ding. Die meisten Morde werden innerhalb von achtundvierzig Stunden nach der Tat geklärt, mit jedem Tag mehr reduziert sich die Chance, den Täter zu kriegen, zumindest wird es mühsamer. Ich ging zu den umstehenden Polizisten und den wenigen Schaulustigen, die es hierher verschlagen hatte, zumeist Spaziergänger mit Hund.

»Kennt den einer von euch?«

Alle schüttelten den Kopf.

Einen Polizisten sprach ich direkt an: »Was ist? Fußballverein, Feuerwehr oder so was?«

»Ich bin nicht von hier. Aus Pforzheim.«

»Ist denn einer der Kollegen von hier?«

»Nein. Der Rentschler, glaube ich, Armin Rentschler, aber der ist nicht da.«

»Wo ist der?«

»Der fährt in Pforzheim.«

»Wieso das denn?«

»Dienstplan.«

Toller Dienstplan, die Leute kreuz und quer durchs Land zu schicken. Wo war nur der gute alte Dorfpolizist, der jeden kannte?

»Gehen Sie mal rüber, machen ein Bild von dem Toten und schicken das dem Rentschler per WhatsApp. Vielleicht kennt der ihn ja. Ansonsten müssen wir rumgehen und überall klingeln.«

»Das bringt doch nichts, wir wissen ja gar nicht, ob er überhaupt aus der Gegend ist«, sagte Nadija, die zu uns getreten war.

»Stimmt, aber es ist einen Versuch wert, könnte die Sache ziemlich beschleunigen.«

Mit einem Nicken schickte Nadija den Polizisten zu dem Toten. Kurze Zeit später kam er zu uns.

»Rentschler kennt den auch nicht, er hat ihn aber schon mal hier gesehen, kann also sein, dass er in Berneck wohnt.«

Ich sah Nadija an.

»Dann nehmen wir uns zuerst das Neubaugebiet oberhalb von Berneck vor. Du fängst vorne an, ich gehe nach hinten, und Mehmet und Robert machen zusammen den Rest unten«, bestimmte sie.

Das ist kein leichter Job, mit dem Bild von einem Toten auf dem Display von Haustür zu Haustür gehen.

»Guten Tag, Polizei Friederichsburg, kennen Sie diesen Mann?«

Fünfmal: »Nein, nie gesehen.« Dann: »Das ist doch der von da vorne, also da aus dem modernen Haus der. Was ist denn mit dem? Ist da was passiert?«

»Nee, alles okay. Danke.« Die Neugier war verständlich, hier waren ja wirklich Hund und Katze begraben, ging mir aber trotzdem auf die Nerven.

Das moderne Haus, Flachdach, viel Glas, große Terrasse mit Blick ins Tal und zu der Burg rüber. Idyllisch, mondän, eigenwillig und unangepasst. Große Doppelgarage, ein Porsche Macan davor. Ich rief Nadija an, zwei Minuten später klingelten wir an der Haustür mit dem Schild »Thomas und Eileen Bach«. Eine junge Frau öffnete die Tür. Sie trug einen fast schwarzen Hausanzug aus einem leichten Stoff mit weiten Hosenbeinen und tiefem Ausschnitt, zu dem ihre helle Haut und die fast weißblonden Haare einen starken Kontrast bildeten.

»Frau Bach?«, fragte Nadija. »Wir sind von der Kriminalpolizei aus Friederichsburg, können wir kurz reinkommen?«

Wenn man sich bei nahen Angehörigen eines Mordopfers befindet, fallen einem die ersten Worte immer schwer, und man kann nie wissen, wie sie reagieren und was als Nächstes passieren wird. Klar, es gibt Schulungen. Aber am Ende helfen nur ein gutes Einfühlungsvermögen, Erfahrung, Improvisationsfähigkeit und auch ein dickes Fell. Ich war froh, dass Nadija das Gespräch übernahm.

Bei aller Anteilnahme musste man trotzdem kriminalistisch und distanziert bleiben. Nadija lobte die Einrichtung und die Aussicht und fragte dann: »Ist Ihr Mann auch da?« Wir wussten ja noch nicht, ob es sich hier tatsächlich um das Haus des Toten handelte oder ob der Tote ihr Mann war.

»Mein Mann ist auf Dienstreise. Er ist heute Morgen nach Peking geflogen. Worum geht es denn überhaupt?«

Ich hatte ein kleines Ensemble aus drei Bilderrahmen mit Fotos gefunden. Ich hielt eines davon hoch. »Ist das Ihr Mann?«

Frau Bach bestätigte das. »Ja.« Und lächelte.

Nadija bat sie, am Esstisch Platz zu nehmen, setzte sich dazu und ergriff die Hand der jungen Frau. »Frau Bach, wir haben heute Morgen einen Mann am Waldsee gefunden, von dem wir annehmen, dass es sich um Ihren Mann handelt. Der Mann ist durch einen Schuss getötet worden. Es liegt nahe, dass Ihr Mann einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen ist.«

Die Hand der Frau krampfte sich um Nadijas Hand, sonst blieb sie ruhig. »Das kann nicht sein, mein Mann ist doch nach China geflogen.«

Ein Ermittler hat in so einer Situation naturgemäß einen ganzen Katalog von brennenden Fragen. Nadija bemühte sich, nahe bei der Frau zu bleiben und trotzdem behutsam die eine oder andere dieser Fragen zu stellen. Ich holte für beide je ein Glas Wasser aus der Küche und fragte, ob ich mich ein wenig umsehen könne, dann rief ich Robert und Mehmet an und öffnete ihnen kurz darauf die Haustür. Mehmet blieb als Zeuge unaufdringlich in der Nähe der Frauen und machte Gesprächsnotizen. Robert und ich sahen uns im Haus um, nicht wie bei einer Hausdurchsuchung, sondern dezent, pietätvoll, aber doch so, dass wir möglichst einen ersten Eindruck von dem Leben des Opfers und seinem Umfeld bekamen.

Als wir wieder in den großen Wohn-Ess-Bereich kamen, stand Nadija mit Frau Bach an dem bodentiefen Panoramafenster. Rechts oben leuchtete über allem die von mehreren Scheinwerfern angestrahlte Burg. Die Kopfsteinstraße, die steil vom Dorf zur Burg aufstieg, und die kleinen, pittoresken Häuschen, die sie säumten, waren durch die Straßenlaternen in regelmäßigen Abständen in sanftes Licht getaucht. Hinter den dunklen Silhouetten einiger Häuser und großer Bäume im Tal glitzerte der Mond auf der gekräuselten Oberfläche des Mühlsees.

»Diesen Ausblick hat Thomas geliebt«, sagte Frau Bach gerade. »Das war einer der Gründe, warum wir hierhergezogen sind.« Sie weinte still und rang mit ihrer Fassung, um weiterreden zu können. »Er sagte immer, das ist Postkarte – so was gibt es nicht wirklich. Und dann nahm er mich in den Arm … Er war so stolz, dass wir … Wissen Sie«, sie wandte sich ein wenig zu Nadija hin, »das ist doch ein Traum, wenn man so wohnen darf, wenn man aus der Stadt kommt, aus einem Arbeiterviertel.«

Nadija nickte. »Frau Bach, haben Sie jemanden, der für Sie da ist? Den Sie anrufen können?«

»Nein, ich kenne hier niemanden, meine Familie wohnt in Berlin … Kann ich ihn sehen?«

»Ja, natürlich. Er wird inzwischen in der Rechtsmedizin in Tübingen sein. Hauptkommissar Moderski wird Sie begleiten und auch wieder zurückbringen.«

Um so was reißt sich keiner, doch was sollte ich machen, Nadija musste zu David. Robert bot sich zwar an, uns zu begleiten, aber ich hatte ja nur zwei Sitze.

Wenig später saß ich mit Eileen Bach im Jaguar. Sie war in sich gekehrt, hatte den Kopf an die kalte Seitenscheibe gelehnt und sah hinaus in den Straßengraben, in ihre Welt, die bis vor ein paar Stunden noch heil gewesen war. Postkarte, das gab es nicht wirklich.

Schwarzwälder Schweigen

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