Читать книгу Schwarzwälder Schweigen - Ralf Kühling - Страница 9
ZWEI
ОглавлениеMein Zug kam erst nach halb zehn in Friederichsburg an. Rund um den Bahnhof war die Stadt dunkel und menschenleer, aber der Abend war mild, daher entschied ich mich, zu Fuß zu Nadija zu laufen. Sie würde um die Zeit sicher noch wach sein, und ich wollte sie nicht erst im Präsidium zum ersten Mal wiedersehen.
Sie stand lässig an die Tür ihrer Wohnung gelehnt, als ich die Treppe hochkam, und erwartete mich, als hätte ich nur eben was aus dem Keller geholt. Ich begrüßte sie etwas zurückhaltend. »Hi.«
Sie nahm mich still in den Arm und schaffte es auf ihre eigene Art, der sehr freundschaftlichen Umarmung einen kleinen Schuss Sex-Appeal zu geben. Erst nachdem sie die Tür hinter mir geschlossen hatte, sagte sie: »Schön, dass du noch vorbeikommst.« Und ich war wieder ihr Freund und Partner, als wäre ich nie zusammengebrochen und weg gewesen.
Sie rief: »Hey, David, wenn du noch nicht schläfst, guck mal, wer da ist.«
Ihr Sohn sah vorsichtig aus seinem Zimmer, und dann hing er auch schon an meinem Hals und zog mich einen Augenblick später hinter sich her in sein Zimmer. »Ich muss dir was zeigen, sieh mal, sieh mal.«
Stolz präsentierte er mir die Sammlung seiner Spielzeugautos, die beträchtlich gewachsen war, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte.
David war ein zarter zwölfjähriger Junge mit einem etwas zu großen Kopf, wodurch er ein bisschen grotesk aussah. Als ich ihn kennenlernte, hatte er sehr schüchtern gewirkt und wie zurückgeblieben, da er in vielen Dingen etwas langsam war. In der Schule wurde er gehänselt, wegen seines Aussehens und weil er Schwierigkeiten mit dem Lesen, Schreiben und Rechnen hatte. Das war Nadijas großer Kummer. Dafür war David immer ehrlich und freundlich, ein richtiger Sonnenschein, wenn er seine Scheu erst einmal überwunden hatte. Seine große Leidenschaft waren Autos, er wusste alles über Autos, was man nur wissen konnte.
Auf einem Tisch, so groß wie eine halbe Tischtennisplatte, standen alle Modellautos wie auf einem Parkplatz in Reihen geparkt. Sie bildeten dabei kleine Gruppen, deren Sortierung sich mir nicht auf den ersten Blick erschloss.
»Das sind Wörter, du Dummer, das sieht man doch«, sagte David und zeigte der Reihe nach auf die Autogruppen. »Am – Morgen – des – 12. – April – ist – eine – Gruppe – von – Unbekannten … Habe ich aus der Zeitung abgeschrieben.« Er sah mich mit großen, erwartungsvollen Augen an. Und dann begann ich zu kapieren. Audi plus Mercedes gleich »Am«, Mercedes plus Opel plus Renault plus G-Klasse plus Espace plus Nissan gleich »Morgen« und so weiter.
Vor ein paar Monaten hatte ich ihm das Rechnen mit Autos nahegebracht und den Tipp mit dem Lesen gegeben. Weil er doch die Autos alle kannte, konnte er sie für die Buchstaben einsetzen.
»Hey, cool«, sagte ich erstaunt. »Ist das nicht eine Menge Arbeit?«
»Nö«, meinte David und begann, in Windeseile einen Teil der Autos umzusortieren. Und schon stand da: »Herzlich willkommen«. »Manchmal muss ich mogeln. Es gibt keine Us und so.«
Während er mir erzählte, dass er auch auf ganz normalen Parkplätzen lesen konnte, natürlich meistens nur Blödsinnsätze, beobachtete Nadija uns still und zufrieden vom Flur aus. Als David in dem für ihn ganz untypisch langen Redefluss eine kleine Pause machte, hakte sie ein: »Ich glaube, für heute hat Carl genug Autos gesehen, und für dich ist es längst Zeit fürs Bett.«
David murrte natürlich wie jeder Zwölfjährige, er sei noch überhaupt nicht müde, aber dann schickte er sich doch an, ins Bett zu gehen. »Kommst du jetzt öfter?«
»Ja, unbedingt. Bin jetzt wieder da.«
»Kann ich dich auch noch mal besuchen?«, fragte er an Nadija vorbeiblickend, die ihn gerade zudecken wollte.
Nadija war sauer gewesen, als ich ihn das erste Mal zu Lydia und den Prostituierten mitgenommen hatte. Sie schüttelte jetzt den Kopf, aber ich sagte: »Klar.«
Nadija rollte mit den Augen, aber David ließ sich zufrieden zudecken.
Das Wohnzimmer war nett eingerichtet, ein bisschen IKEA, ein bisschen fast Antikes vom Sperrmüll und ein teures Sofa, das dem Ganzen Glanz verlieh, viel Mühe und Geschmack, wenig Geld, was sollte sie auch machen als Alleinerziehende?
Sie hatte mir einen Tee gekocht und sich einen doppelten Whiskey eingeschüttet, dann berichtete sie vom K11, deren Leiterin sie nun war. Unsere Ex-Kollegen Uwe Gerl und Norbert Oppermann waren aus dem Verkehr gezogen worden, weil sie Ermittlungen verhindert und zugunsten der Täter manipuliert hatten. Daher war ihrem Team ein alter Hauptkommissar zugeteilt worden, der schon nächstes Jahr in den Ruhestand gehen würde, und zudem ein Praktikant direkt von der Polizeischule, der bald in den regulären Dienst übernommen werden sollte.
»Na, und dich Teilzeit-Ordnungshüter habe ich ja auch noch«, sagte sie und fand, dass das für ein Kommissariat für Gewaltverbrechen natürlich lächerlich sei, aber für Friederichsburg vollkommen ausreichend. Seit ich weg war, hatte sie zwei ungeklärte Todesfälle, die sich aber als Unfälle entpuppt hatten, und zwei schwere Körperverletzungen, beides häusliche Gewalt, aufgeklärt. Und noch den üblichen Kleinkram: Morddrohungen, Schlägereien und so weiter.
Ich erzählte von der Kur und meinem ersten Tag bei VIM.
»Und deine Frau?«, fragte sie.
»Scheidung läuft. Die Kinder haben mich noch zweimal besucht. Ich sehe sie am Wochenende in Stuttgart.«
Nadija sah mir tief in die Augen, dann nahm sie mich in den Arm, und es tat gut. Ich fühlte ihren trainierten Körper, der so leidenschaftlich sein konnte, und dachte an meine Frau, eine andere Umarmung, als wir jung gewesen waren und die Kinder klein, ihr Lachen, das vergangen war und das ich noch immer vermisste.
Dann schob Nadija behutsam, aber bestimmt einen Arm zwischen uns beide. »Ich denke, es ist besser, wenn du dann mal nach Hause gehst.«
Auch wenn wir uns sehr mochten, war das ihre Bedingung gewesen: Partner im Beruf oder im Bett, beides ging nicht. Außerdem war sie jetzt die Chefin vom K11, meine Chefin.
Ich hatte mir ein Taxi nehmen wollen, aber um die Zeit gab es keines mehr in Friederichsburg, also musste ich zur Kranichstraße laufen. Es hatte leicht zu nieseln begonnen, und ich war gezwungen, die Hängeregistratur von Wandenberg zu schleppen, die auf die Dauer ganz schön schwer wurde. Deshalb war ich ziemlich schlecht gelaunt, als ich zu Hause ankam.
Bei Lydia war noch reichlich Betrieb. Auf dem Parkplatz fünf Autos, davon zwei Porsches und ein Jaguar F-Type. Meine Stimmung sackte noch tiefer in den Keller. Erst war ich von Nadija weggeschickt worden und hatte laufen müssen. Und jetzt waren da ein paar reiche Schnösel, die sich die Mädchen einfach so kauften. Mich ekelte es vor den arroganten, schmierigen, selbstgefälligen Freiern, als ich sie mir vorstellte.
Ich sah noch schnell bei Lydia rein. »Hi, ich bin wieder da.«
Lydia merkte sofort, dass ich angekäst war. »Was ist dir denn über die Leber gelaufen?«
»Es regnet«, offenbarte ich nur die halbe Wahrheit.
»Willst du ein Bad? Der Whirlpool ist frei.«
»Nee, ich geh schlafen.«
Aber an Schlaf war so schnell nicht zu denken. Über mir war richtig was los. Das Zimmer über meinem Schlafzimmer hatte eine junge Polin, die noch nicht so lange bei Lydia war. Sie hieß Pauline, hatte die Haare schwarz gefärbt, war tätowiert und hatte Piercings an den unmöglichsten Stellen. Sie sprach noch nicht so viel Deutsch, obwohl sie zweimal in der Woche zum Sprachkurs ging.
Ich hatte die Fenster zum Garten offen, die Stimmen von oben waren deutlich zu hören. Pauline konnte unmöglich mit einem Freier alleine so viel Lärm machen. Ich glaubte, mehrere Männerstimmen unterscheiden zu können. Eine Weile lag ich im Dunkeln und lauschte dem Treiben, dann schloss ich die Fenster. Jetzt hörte ich die Balken und Dielen der Decke rhythmisch knarzen, und Putzkrümel rieselten aus dem Riss in der Zimmerdecke auf den Boden vor meinem Bett. Wird ja irgendwann mal Schluss sein, dachte ich. Aber dann hörte ich Pauline jammern und schluchzen und die Männer lachen. Da stand ich auf.
Ich streifte meine Jeans drüber und ging zu Lydia. »Was ist denn bei Pauline los?«, fragte ich und winkte Lydia in den Flur, wo man ganz leise die Geräusche von oben hörte.
»Die hat einen Dreierpack mit aufs Zimmer genommen. Ich hab sie gewarnt, sie soll’s nicht tun, aber die haben ihr ganz schön was geboten.« Lydia machte ein bekümmertes Gesicht.
»Okay, ich glaube, das läuft aus dem Ruder«, sagte ich und war schon auf dem Weg nach oben. »Welche Mädchen haben gerade nichts zu tun? Kannst du sie holen?«
Während Lydia Selma, Yvette und Melissa einsammelte, klopfte ich an die Tür von Paulines Zimmer. Von drinnen kam nur ein geknurrtes »Nicht stören!« und Paulines ersticktes Jammern.
Lydia stand hinter mir. »Die haben bestimmt gesoffen und Viagra genommen, und jetzt wollen sie’s wissen.«
Die Tür war abgeschlossen. Ich rüttelte daran und rief: »Aufmachen, es brennt. Feuer! Kommen Sie raus, alle raus!«
»Hat mal eine von euch Feuer?«, fragte ich die Mädchen.
Lydia gab mir ein Feuerzeug. In dem Zimmer rumorte es. Ich zupfte eine Blume aus einem verstaubten Strohblumenstrauß im Flur und zündete sie an. In dem Moment, wo ich den Schlüssel im Schloss hörte, schlug ich sie aus, dass die Funken stoben. Die Tür wurde gerade in den Funkenregen hinein geöffnet. Ich schrie: »Es brennt, alle raus, raus hier«, und trieb Lydia und die Mädchen vor mir her.
Es funktionierte. Die drei Freier drängelten sich aus dem Zimmer und rannten hinter uns her. Im unteren Flur ließen wir ihnen den Vortritt, und sie stürzten auf den Parkplatz hinaus. Die Mädchen blieben in der Tür stehen und lachten sich schlapp über die drei halb bekleideten Idioten mit ihren Habseligkeiten in der Hand.
»So, Jungs«, sagte ich zu den Männern. »Pauline hat Feierabend für heute.«
Die Kerle waren angetrunken und aufgeheizt. »Hey, wer bist du denn? Verpiss dich«, sagte einer.
Ein anderer, eigentlich gut aussehender Mann Anfang dreißig kam auf mich zu. »Wir haben gezahlt, dreitausend. Für so lange, wie wir wollen, egal was. Das war der Deal.«
»Ja«, sagte ich, »aber da kam ja leider das Feuer dazwischen.«
Die Mädchen konnten sich nicht halten vor Lachen. Das war zu viel für die Kerle, sie stürzten durcheinanderschimpfend auf mich los. Ich war zu müde für eine Rauferei und zog meinen Dienstausweis.
»Lasst den Scheiß, Jungs. Sonst findet der Rest der Nacht in einer Zelle statt. Geht nach Hause, morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.«
Die zwei im Hintergrund waren etwas älter und nicht so gut in Form wie der Wortführer, aber offensichtlich musste er ihnen was beweisen. Sie stachelten ihn auf: »Lässt du dir das gefallen von einem, der sich hinter einem Pappkärtchen versteckt?«
Da wurde er angriffslustig, ging in Kampfhaltung und sagte: »Na los, Bulle, steck deinen Ausweis weg und sei ein Mann.«
Ich dachte schon, jetzt komme ich nicht mehr drum herum, aber da trat Lydia vor. »Na, na, meine Herren, das ist jetzt wirklich nicht die Zeit und der Ort für einen ordentlichen Kampf. Wenn Sie wirklich kämpfen wollen, können Sie das immer noch morgen machen.«
Lydia konnte sehr bestimmend sein, aber die Kerle gaben nicht einfach klein bei. »Okay«, sagte einer der beiden Sekundanten, »aber wenn der Herr Beschützer verliert, kommen wir wieder und kriegen einen Freifahrtschein für den Laden hier.«
Lydia wollte schon antworten, aber Melissa baute sich vor ihr auf. »Ey, du Arschloch, Carl wird nicht verlieren. Aber wenn ihr wiederkommt, machen wir euch auf unsere Art fertig. Und jetzt zieht Leine.«
Für einen Moment schwiegen alle Beteiligten mit unterschiedlich grimmigem Blick. Die Mädchen im Eingang, zu denen sich noch ein paar andere gesellt hatten, gruppierten sich hinter Melissa.
Eine hielt die verheulte Pauline im Arm und streichelte ihr über den Kopf. »Die sollen nur kommen, denen werden wir den Spaß gründlich verderben.«
Bevor noch was anderes passieren konnte, stieg ich die Eingangstreppe hinunter und drängte den Wortführer auf den Parkplatz zurück. Wir kamen uns dabei so nahe, dass unsere Nasen fast aneinanderstießen. Ich fühlte, er war ein Kämpfer, ein Alphamännchen, das es nicht gewohnt war zu unterliegen. Ich fragte mich, warum er sich von den beiden anderen so aufstacheln ließ. Noch immer Stirn an Stirn presste ich in einem Ton heraus, der keinen Widerspruch duldete: »Pass auf, das ist der Deal: morgen, elf Uhr, Boxclub Mühlenweg, du und ich. Wenn du gewinnst, kriegt ihr den Freifahrtschein, wenn ich gewinne, kriege ich deinen Wagen.«
Ich spürte, wie er zuckte und protestieren wollte. Dann brach er plötzlich die Konfrontation ab und schubste die beiden anderen zu ihren Porsches. »Los, wir gehen.« Bei seinem Jaguar drehte er sich noch einmal zu mir um und zeigte drohend auf mich. »Morgen bist du dran.«
Die beiden anderen honorierten seinen Mumm, stiegen in ihre Protzkarren und ließen die Motoren röhren. Ich seufzte. Ohne blödes Macho-Männer-Machtgehabe wäre vieles einfacher.
»Ey, du Pfeife«, rief ich dem Kerl hinterher, bevor er die Tür seines F-Type schließen konnte, »wenn du Mumm hast, sehe ich dich morgen. Und vergiss den Fahrzeugbrief nicht.« Die Macho-Nummer beherrschte ich schon lange.
Der Motor des Jaguars heulte auf, und der Kies vom Parkplatz spritzte unter den Reifen hervor, bis der Wagen schlingernd und mit quietschenden Reifen auf die Straße driftete. Die beiden Porsches folgten ihm kaum langsamer. Ich hoffte, dass die Kerle durch den Streit genug Adrenalin im Blut hatten, um den Alkohol zu kompensieren.
Nach nur vier Stunden Schlaf wusste ich Lydias Kaffee sehr zu schätzen, genehmigte mir gleich zwei Tassen davon, lieh mir ihren Wagen und fuhr ins Präsidium. Nadija war auch gerade erst gekommen. Als sie Lydias alten Granada erkannte, wartete sie, bis ich ausgestiegen war.
»Boah, du siehst ja fertig aus«, sagte sie spontan.
»Danke«, antwortete ich und klemmte mir die Hängeregistratur unter den Arm.
»Haben die Mädchen dir diese Nacht keine Ruhe gelassen?«, fragte sie.
Ich fand den schnippischen Unterton unangebracht, aber süß. »Irgendwie nicht, war ziemlich aufregend.« Ich ließ sie im Ungewissen und genoss ihre unsichere Verlegenheit. Sie hatte mich doch gern, beschloss ich.
Ich bekam meinen alten Arbeitsplatz, mit Blick zur Wand, ein bisschen abseits. Den Schreibtisch in meinem Rücken hatte Nadija belegt. Wenn ich mich umdrehte, konnte ich unter dem Pferdeschwanz, den sie bei der Arbeit meistens trug, ihren reizenden Nacken sehen. Ihr gegenüber saß Robert Schuler, der auf seine alten Tage aus Karlsruhe nach Friederichsburg versetzt worden war, weil sein Herz nicht mehr so mitmachte.
»Bisschen mehr Ruhe und gute Luft«, erklärte er, als wir uns bekannt machten. Er hatte genug Erfahrung, um zu wissen, was wichtig beziehungsweise eilig war – »was nicht immer das Gleiche ist«, meinte er – und was man getrost erst mal zur Seite legen konnte.
Nadijas alten Platz hatte der Praktikant Mehmet Sivrikozoglu bekommen. Als er kurz nach uns hereinkam, strahlte er über beide Backen wie ein Staubsaugervertreter, stürzte auf mich zu, schüttelte mir kräftig die Hand und trompetete mit einer kräftigen, markanten Stimme: »Hey, Sie sind Moderski, habe ich recht? Ich hab schon sooo viel von Ihnen gehört. Toll. Toll, dass wir zusammenarbeiten.«
Ich hob die Augenbrauen.
»Äh, ich meine, dass ich mit Ihnen zusammenarbeiten kann.«
»Ich freu mich auch«, sagte ich und klopfte ihm mit der Linken auf die Schulter, ohne seine Rechte loszulassen. »Junges Blut tut immer gut. Du hast bestimmt ’ne Menge bei deiner Ausbildung gelernt, wovon man bei uns noch keine Ahnung hatte.«
Er war sichtlich stolz, spielte es aber etwas herunter.
»Sivrikozoglu«, sagte ich, »ist das griechisch oder türkisch?«
»Türkisch, aber ich bin Deutscher.«
Er war etwas kleiner als ich, dunkler Typ, kurze Haare, sehr drahtig, und in Jeans, T-Shirt und Motorradjacke sah er mit seinen circa fünfundzwanzig Jahren ziemlich smart aus.
Als ich mich auf meinen Platz setzte, neigte ich mich etwas zu Nadija rüber. »Was für dich?«
Sie drehte sich mit ihrem ganzen Stuhl zu mir um, biss sich etwas versonnen auf die Unterlippe und meinte: »Wer weiß, vielleicht.«
Damit waren wir quitt.
Nadija gab mir einen Stapel alter Fälle von Gerl und Oppermann, um sie auf Unregelmäßigkeiten überprüfen zu lassen. Unsere ehemaligen Kollegen waren ja nach unserem letzten Fall vom Dienst suspendiert worden.
»Hat das Zeit?«, fragte ich. »Ich muss mich noch in die Akten von VIM einarbeiten. Außerdem habe ich gleich um elf einen Termin.«
»Was ist das für ein Termin, musst du zum Arzt?«
Und da sie weiß, wann man lügt, erzählte ich ihr lieber gleich, wie es zu dieser Verabredung gekommen war.
»Ich geh mit«, entschied sie und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.
Als wir um kurz vor elf bei dem Boxclub ankamen, sah ich Stinas tiefergelegten Golf und ein paar andere Autos der Frauen aus der Kranichstraße. Ich parkte den Granada ein Stückchen entfernt, neben zwei Porsches. Robert Schuler und Mehmet sahen sich die Wagen noch an, bevor sie uns in den Club folgten. In diesem Club gab Nadija auch Selbstverteidigungskurse für Schülerinnen. Sie grüßte mehrere Leute vom Personal und unterhielt sich dann mit dem Betreiber. Ich ging mich umziehen.
Als ich wieder rauskam, nahm Nadija mich zur Seite. »Ivo kennt den Typen.«
»Wer ist Ivo?«, fragte ich.
»Ihm gehört der Club. Dein Gegner heißt Michael Schneller. War schon ein paarmal da zu privaten Kämpfen. Er trainiert in Stuttgart. Ivo sagt, du sollst ihn nicht unterschätzen, er ist schnell und aggressiv, ein Heißsporn. Er hat hier noch nie verloren.« Nadija klopfte mir aufmunternd auf die Schulter. »Ich geh mal rüber und seh, ob ich was machen kann.«
Sie wollte den Kampf verhindern. Ich wusste nicht, ob aus Sorge um mich oder weil sie solche Kämpfe generell nicht billigte. Ich hatte Lydia und alle anderen schon begrüßt, doch während ich mich aufwärmte, kam Stina zu mir. Sie sah sehr bedrückt aus und druckste erst nur rum. »Was ist los?«, fragte ich, während ich auf der Stelle trabte.
»Weißt du, wer das ist? Das ist Mike Schneller.«
»Habe ich gehört, Hobbyboxer.«
Stina sah mich mit großen, jetzt traurigen Augen an. »Ja, und Rennstallbesitzer. Er baut Jaguare auf, fährt Rennen in Europa, Arabien und den USA. Ich hab gelesen, dass er nächstes Jahr in der GT3 groß einsteigen will.«
Also daher weht der Wind.
Ich hatte aufgehört zu traben. »Und du denkst, wenn ich ihn jetzt vermöbele, kannst du bei ihm keinen Job mehr kriegen.«
Aus Stinas großen Augen kullerte eine Träne, sie zitterte am ganzen Körper. Dann ließ sie den Kopf hängen und sagte: »Bei keinem mehr«, und ging fort.
»He«, rief ich ihr hinterher, »willst du denn bei so einem Mistkerl arbeiten?«
»Er ist in Ordnung, cooler Typ. Die anderen sind die Arschlöcher. Sagt auch Pauline.«
Ich machte mich weiter warm. Dabei drosch ich meine Schläge mit der ganzen Wut auf diese verzwickte Situation in den Sandsack. Kämpfte ich nicht oder verlor ich, fielen diese chemisch verstärkten Möchtegern-Potenzprotze über die Mädchen her. Gewann ich, platzte Stinas Traum.
Und dann stand Schneller plötzlich in der Ringecke, einer von Ivos Leuten machte den Ringrichter. Bei mir lief die Routine ab. Ich kletterte in den Ring, ging in meine Ecke, konzentrierte mich.
Nadija trat zu mir. »Er will unbedingt kämpfen, war nichts zu machen. Aber du kannst schmeißen, und wir fangen sie bei Lydia mit der Sitte ab.«
Ich schüttelte den Kopf und nuschelte durch den Mundschutz: »Nee, die kennen bestimmt jemanden bei der Staatsanwaltschaft oder im Innenministerium, am Ende sind dann die Mädchen die Dummen. Überprüf mal die beiden Sekundanten. Stina sagt, das sind die Verursacher aller Probleme.«
Es gongte, Nadija verschwand. Ich ging in die Ringmitte zur Begrüßung. Dann sah ich nur noch Mikes Gesicht. Es bewegte sich vor mir, verschwand hinter der Deckung seiner Fäuste, tauchte ab, wich zurück, zuckte nach links oder rechts. Ich sah seine Schläge in seinen Augen, einen Bruchteil bevor er sie ausführte, wich ihnen aus, pendelte nach hinten weg, duckte mich und tanzte um ihn herum. Seine Nase schwoll an, das Jochbein wurde rot, wo es morgen blau sein würde. Meine linken Jabs taten ihre Wirkung. Ich wusste, das würde ihn aus der Fassung bringen, er sah gut aus, seine Nase war noch nie gebrochen worden. Er war wirklich ein Heißsporn, meine Gesichtstreffer machten ihn rasend. Er schlug auf meinen Körper, weil er meinen Kopf nicht treffen konnte. Zum Glück hatte ich in der Kur so hart gearbeitet.
»Warum bist du so ein Arschloch?«, fragte ich das Gesicht. »Fickst das arme Mädchen für so ’n bisschen Geld kaputt?«
Er antwortete mit zwei Haken gegen meine Rippen, die wehtaten. »Ich habe noch nie für Frauen bezahlt.«
Sein Gesicht erzitterte einmal mehr unter meiner linken Geraden. »Du warst dabei, also bist du genauso mies.«
Der Gong ertönte. Ich saß in meiner Ecke. Nadija redete. Ich sah sein Gesicht in der anderen Ecke, weit weg, sehr klein. Hinter ihm seine speckigen Sekundanten, ein paar Leute, die zum Training gekommen waren und jetzt zusahen. Dann gongte es wieder. Und da war wieder das Gesicht vor meinen Fäusten.
Er ging sofort heftig ran, bis er einen meiner Schläge mit seiner Nase fing. Das beruhigte ihn etwas.
»Also, wieso machst du so eine Scheiße, und wieso prügelst du dich für die Dicken, die selbst nicht genug Eier haben, in einen Ring zu steigen?«
»Ich boxe gerne«, antwortete er trotzig und griff wieder an. Für mich klang sein Trotz verräterisch nach Zweifel. Ich steckte einen Hagel von Schlägen auf meine Deckung ein. Als seine Schläge etwas langsamer kamen, sagte ich: »Ich nicht. Ich gewinne gerne.«
Dann streckte ich meinen linken Unterarm quer vor sein Gesicht, blockierte damit seine Deckung, die zu hoch war, weil er sein Gesicht schützen wollte, schob ihn mit der ganzen Kraft meines Körpers in die Seile und hämmerte ihm drei harte rechte Haken in den Solarplexus. Als ich den linken Arm wegnahm, fiel seine Deckung runter, ein linker Cross und ein rechter Aufwärtshaken schickten ihn auf die Bretter. Zum letzten Mal sah ich sein Gesicht. Er starrte mit leeren Augen und zitterndem Augenlid auf den Ringboden, der Mundschutz hing schief heraus, und Speichel und Blut tropften von seinen Lippen. Ich stieg aus dem Ring, nahm mir den Kraftfahrzeugbrief und die Schlüssel für den Jaguar aus seiner Ringecke und ging mich umziehen.
Nadija folgte mir in die Umkleide und half mir, die Bandagen von den Händen zu lösen. Wir sagten kein Wort, aber es war mehr Fürsorge und Zärtlichkeit in dem, was sie tat, als in mancher Liebesnacht. Sie wusste, dass ich traurig war. Und ich wusste, dass sie zwar stolz, aber ebenfalls traurig war. Denn auch Sieger tragen Narben, und wirklich stark ist nur, wer nicht kämpfen muss.