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In der Tube herrschte an diesem Vormittag drangvolle Enge, so wie an jedem Arbeitstag. Berufspendler mischten sich mit Touristen aller Hautfarben. Im Sommer war London bis zum Rand gefüllt mit einem quicklebendigen Vielvölkergemisch, das es schaffte, uns steife Briten mit unseren Bowler Hats, den schwarzen Businessanzügen und dem am Arm baumelnden unentbehrlichen Schirm noch mürrischer aussehen zu lassen als sonst. Man versteckte seine griesgrämigen Gesichter hinter dem Daily Mirror, dem Guardian, der Times oder der Daily Mail, je nach politischer Gesinnung. Doch wohin ich auch blickte, in diesen Tagen schien es für sämtliche Zeitungen lediglich zwei Themen zu geben, die es wert waren, die Titelseiten zu dominieren: Die sich anbahnende Suez-Krise und der Besuch der berühmtesten Schauspielerin der Welt.

Premierminister Eden hatte sich vorgenommen, den ägyptischen Präsidenten Abdel Nasser zu stürzen, und es schien durchaus möglich, dass zu diesem Zweck schon bald Bomben auf Alexandria fallen würden. Eine Bombe der ganz anderen Art hingegen war Marilyn Monroe, die im Juli über den großen Teich gekommen war und nun schon seit zwei Monaten zu Gast in unserem Land war. Der Grund ihres Aufenthalts waren Dreharbeiten zu einem Film in den Pinewood Studios. An der Seite unseres berühmten englischen Shakespearedarstellers Sir Laurence Olivier spielte sie in einer romantischen Komödie ein Revuegirl, und seit sie ihren Fuß auf englischen Boden gesetzt hatte, war ganz England verliebt in sie.

Der Sommer war so regnerisch gewesen wie schon lange nicht mehr, aber der September schien nachholen zu wollen, was nachzuholen ging. Es war heiß. Und in der Tube war es schier unerträglich. Ich war froh, an der Station Baker Street endlich wieder aussteigen und mich von der Rolltreppe ans Tageslicht hinaufbefördern lassen zu können.

Ich hatte eine Verabredung mit meinem Freund Reginald Lord Merridew, der mich ohne Angabe von Gründen mit einer knappen Notiz hierher beordert hatte, wie das so seine Art war. Auf der anderen Seite der mehrspurigen Marylebone Road sah ich ihn bereits stehen und mir mit seinem Gehstock zuwinken. Ich schlängelte mich mutig durch den unablässig fließenden Verkehr und begrüßte ihn schon wenige Minuten später. Mein helles Sommerjackett hatte ich mir über die Schulter gehängt. Merridew steckte in einem sandfarbenen Anzug mit maisgelber Weste und weinroter Fliege.

»Mein lieber Junge«, rief er fröhlich. »Was für ein wunderbarer Tag, da werden Sie mir doch zustimmen, oder?«

Ich wackelte vage mit dem Kopf. »Für September ist es ziemlich heiß. Aber Sie blühen doch sonst erst im Nieselregen so richtig auf. Was macht Sie so fröhlich, Merridew? Die Freude quillt Ihnen ja aus allen Knopflöchern.«

»Hatten Sie nicht vorgestern Geburtstag?«

»Ja, allerdings. Ein paar Freunde haben mich zum Dinner ins Bianchi’s in der Frith Street entführt, und hinterher sind wir im Gargoyle Club gelandet, einem Tanzschuppen in Soho.«

»Haben Sie sich davon erholt?«

»Gerade so. Wo gehen wir hin?«

Er fasste mich am Arm und lenkte mich mit sanfter Gewalt in die Richtung eines großen Gebäudes, das wohl jeder nur allzu gut kennen dürfte, und vor dessen Eingangstür eine große Menschenschlange geduldig darauf wartete, hineingelassen zu werden.

»Jetzt kommt mein Geburtstagsgeschenk für Sie, mein alter Knabe.«

»Madame Tussauds?«, fragte ich ungläubig. »Sie haben doch nicht etwa vor, mich in dieses Wachsfigurenkabinett zu schleppen?«

Er lachte kollernd. »Das überrascht Sie, was? Nein, nein, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Es soll ja ein Vergnügen für Sie werden.«

»Ich kann mir wirklich etwas Unterhaltsameres vorstellen, als mir all diese versteinerten Gesichter mit den starren Augen und dem gequälten Lächeln anzugucken.«

»Ich weiß, ich weiß. Und ich teile Ihre Aversion durchaus, aber heute gibt es für Sie etwas ganz Besonderes!« Er ließ mich nicht los und streckte die Hand mit dem Gehstock nach vorne, den er hin und her schwingen ließ als sei er eine Machete, der Bürgersteig der afrikanische Dschungel und die Passanten gefährliche Schlingpflanzen.

Zu meiner Überraschung ließen wir die Warteschlange rechts liegen, und er dirigierte mich links in den Allsop Place. Dann ging es rechter Hand in die York Terrace, und nach ein paar Metern passierten wir eine Toreinfahrt und fanden uns in einem großen Hinterhof wieder, auf dem ein paar Autos und Lieferfahrzeuge parkten. Wir befanden uns auf der Rückseite des weltberühmten Wachsfigurenkabinetts.

»Kein roter Teppich, kein Empfangschef in Livrée, aber dennoch ist es nicht immer ein Abstieg, wenn man den Hintereingang nimmt«, plauderte Merridew fröhlich, während er sich von den zahlreichen Nebeneingängen und Türen eine auswählte, die ihm die richtige zu sein schien. Er öffnete sie, und vor uns führte eine Treppe hinauf.

»Lord Merridew!«, rief eine junge Frau im weißen Kittel erfreut. »Wie schön, dass Sie es heute einrichten konnten!« Sie hatte ihr malzbraunes Haar zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, der keck auf und ab tanzte, als sie uns auf der Treppe entgegenkam.

Sie musterte mich und schenkte mir ein strahlendes Lächeln.

»Mein Freund Nigel Bates hatte jüngst Geburtstag, und er wünschte sich nichts sehnlicher, als bei unserer kleinen Unternehmung Mäuschen spielen zu dürfen.«

»Dann gratuliere ich noch nachträglich.« Sie reichte mir ihre Hand. »Mein Name ist Cathy Markham. Selbstverständlich darf er zuschauen. Wir wollen ihm doch seinen sehnlichsten Wunsch nicht abschlagen.« Ihr Lachen war bezaubernd wie überhaupt ihre ganze Erscheinung, und ich konnte nicht umhin, mir ihre schlanke Figur unter dem unförmigen Kittel vorzustellen, als sie vor uns die Treppenstufen hinaufstieg. Ich wurde immer begieriger, herauszufinden, welches denn wohl mein großer Geburtstagswunsch war. Eine Ahnung, worum es sich dabei handeln konnte, hatte ich immer noch nicht.

Wir folgten einigen Gängen, bogen ein paar Mal rechts und links ab, bis wir schließlich in einen Raum eintraten, in dem es chemisch roch. In zahlreichen Regalen stapelten sich Kisten, Körbe, Pakete aus braunem Packpapier, Dosen und Kartons unterschiedlicher Größe. Es gab künstliche Hände, Schachteln voller Glasaugen, Perücken, und auf zwei von mehreren großen Tischen lagen künstliche Körper ohne Köpfe. Wir waren augenscheinlich in der Werkstatt des Wachsfigurenkabinetts gelandet.

»Mr Anselm kommt gleich«, sagte Cathy und bot uns Sitzplätze an. Zwei ziemlich alte, zerschlissene Sofas waren mit Überwürfen aus geblümtem Vorhangstoff halbwegs einladend hergerichtet worden.

»Möchten Sie einen Tee?«

Oh ja, den mochten wir. Und als sie entschwand, um uns diesen Wunsch zu erfüllen, wäre sie in der Tür beinahe mit einem bärtigen Mann im schlabbrigen, gestreiften Pullover zusammengestoßen. Seine Brille hatte er hinaufgeschoben, sodass sie beinahe in seinem lockigen, grau melierten Haar verschwand.

»Frederick Anselm«, stellte er sich uns mit Handschlag vor. »Schön, dass Sie herkommen konnten. Ich verspreche Ihnen, dass es auch gar nicht wehtut.« Er machte den Eindruck eines zerstreuten Professors. Mit ausgestrecktem Arm dirigierte er Merridew auf einen drehbaren Hocker ohne Lehne. »Es ist wichtig, dass Sie aufrecht sitzen. Das kommt der späteren stehenden Position am nächsten. Hat Cathy Ihnen die Skizzen gezeigt?«

Merridew verneinte, und Anselm holte einen flachen Karton aus einem der Regale, dem er mehrere Fotografien und ein paar Zeichnungen entnahm, die er auf dem Tisch vor Merridew ausbreitete. »Nun, was sagen Sie?«

Die Fotos zeigten allesamt meinen Freund in unterschiedlichen Posen. Es waren Pressefotos, die bei verschiedenen Anlässen aufgenommen worden waren. An einige der Ereignisse konnte ich mich sogar erinnern.

»Hm, man könnte denken, Sie hätten mit Absicht die unvorteilhaftesten Bilder ausgewählt«, sagte Merridew mit einem angedeuteten Naserümpfen. Er sah mich an. »Was meinen Sie, Nigel?«

Nun, da ich endlich begriffen hatte, worum es bei unserem Besuch ging, lachte ich ihn frech an. Er tat so, als sei es das größte nur denkbare Vergnügen, anwesend zu sein, wenn eine Wachspuppe dieses aufgeblasenen Aristokraten angefertigt wurde. Ich deutete auf eine Bleistiftzeichnung, die den großen, massigen Körper meines Freundes darstellte. Es waren nur die Gliedmaßen und der grob skizzierte Kopf. Er sah aus wie eine aufgeblähte, unbekleidete Schaufensterpuppe. »Das sind Sie, wie Sie leiben und leben. Vor allen Dingen, wie Sie leiben. Dieser Bauch, das Doppelkinn … Das sind Sie, Merridew.«

Cathy kam mit dem Tee.

»Für mich zwei Stück Zucker«, sagte ich.

Merridew wehrte ab. »Ich muss ein bisschen auf mein Gewicht achten.« Das konnte nur ein soeben spontan gefasster Vorsatz sein. Dergleichen hatte ich noch nie von ihm gehört.

»Kürzlich saß noch Marlon Brando auf diesem Platz«, erklärte Cathy mit einem gewissen schwärmerischen Ton in der Stimme.

Merridew grunzte verächtlich. »Sie sind ja nicht gerade wählerisch.«

Dann machten sich Anselm und seine Assistentin ans Werk und begannen, meinen Freund minutiös zu vermessen. Ich unterdrückte ein Gähnen. Es gab durchaus spannendere Darbietungen.

Maßbänder wurden um die Unterschenkel und Oberarme geschlungen, Zahlen wurden notiert, mit einem großen Feldzirkel wurden die Abstände zwischen Scheitel und Kinn, zwischen den Mundwinkeln und den Pupillen erfasst.

Irgendwann kam eine andere junge Frau im Kittel und rief Cathy zur Tür. Dann tuschelten sie miteinander, und Cathy verließ wortlos den Raum, ohne sich zu uns umzusehen.

»Ich übernehme für einen Moment«, sagte die Frau zu Mr Anselm gewandt und lächelte uns freundlich zu.

»Kommen etwa alle Aspiranten persönlich hierher, um sich vermessen zu lassen?«, fragte ich.

»Nein, eher wenige«, sagte Anselm beiläufig und kritzelte sehr konzentriert etwas auf seinen Block.

Ich tippte auf eine herumliegende Zeitung. »Was ist mit Marilyn Monroe?«

»Oh ja, ist in Vorbereitung. Kommt aber auch nicht persönlich. Wir mussten zu ihr. Wie gesagt, die Wenigsten besuchen uns hier. Umso schöner, dass Lord Merridew uns die außerordentliche Ehre zuteilwerden lässt.«

Während die Assistentin mit einer Schieblehre Merridews Ohren vermaß, begann Anselm Detailskizzen des Kopfes anzufertigen.

Mit meiner Teetasse schlenderte ich an den Regalen entlang und musterte die Gliedmaßen und Köpfe. Einige kamen mir bekannt vor. Mit anderen konnte ich nichts anfangen. Die starren Blicke der Glasaugen waren mir unheimlich. Schließlich gelangte ich zur breiten Fensterfront und blickte in den Hof hinunter.

Dort unten sah ich Cathy Markham, die die Hände tief in den Taschen ihres weißen Kittels vergraben hatte und mit gesenktem Kopf den Hof überquerte.

Zwischen den geparkten Autos trat in diesem Moment ein Mann in einem dunkelblau karierten Jackett und Hut hervor. Ich konnte ihn nicht genau erkennen, dazu war die Entfernung zu groß. Ich sah eine runde Hornbrille und einen kleinen, zwei Finger breiten Schnurrbart. So steif, wie er dort stand, erinnerte er mich an eine Wachspuppe.

Cathy blieb vor ihm stehen und hielt den Kopf in einer Art Büßerhaltung gesenkt. Offenbar wurden nicht viele Worte gewechselt. Irgendwann streckte der Mann seine rechte Hand aus und fasste nach dem Kinn der jungen Frau. Er zwang sie, ihren Kopf zu heben, um ihm in die Augen zu sehen. Kurz darauf wandte sie sich wieder um und ging mit weit ausholenden Schritten zurück zum Gebäude. Der Mann mit dem Hut verschwand im gleichen Moment auf dieselbe unauffällige Art und Weise, auf die er zuvor erschienen war.

»Ist es wieder dieser Kerl?«, knurrte Anselm der jungen Frau an seiner Seite halblaut zu, während er die Bleistiftspitze über das Papier huschen ließ.

Seine Assistentin bejahte. »Es sei sehr dringend, hat er gesagt.«

»Ich werde Cathy darauf hinweisen müssen, dass sie kostbare Arbeitszeit vergeudet.«

»Darf ich atmen?« Merridews Blick traf den meinen, und er sah sogleich, dass ich gerade eine interessante Beobachtung gemacht haben musste. Ich zuckte bedeutsam mit den Augenbrauen, um ihm zu verdeutlichen, dass ich ihm später Bericht erstatten würde.

»Aber warum nicht. Atmen Sie ruhig, Mylord«, sagte Anselm. »Wir wollen doch, dass Sie gesund und munter bleiben. Für die Besucher unseres Hauses ist es ein umso größerer Spaß, dass es sich bei den ausgestellten Personen um quicklebendige Prominente handelt, denen man sich sonst nur schwerlich nähern kann.«

»Diese Menschen werden mich doch wohl nicht … anfassen?«

»Es gibt Absperrungen. Bei Alan Ladd mussten wir den Abstand vergrößern. Die jungen Frauen sind immer drübergeklettert, um sich mit ihm fotografieren zu lassen.«

»Schauderhafte Vorstellung.« Merridew verzog angewidert den Mund.

Im Folgenden wurden noch ein paar Fotografien angefertigt, und dann war die Vorstellung auch schon beendet.

Als wir nach unserer Verabschiedung wieder die Treppe hinuntergingen, kamen wir an einer halb offen stehenden Tür vorbei.

Die tränenerstickte Stimme, die wir ganz unerwartet dahinter vernahmen, war allem Anschein nach die von Cathy Markham.

»Er tut es, er tut es! Wenn ich es dir doch sage!«, schluchzte die Person hinter der Tür. Es handelte sich offenbar um ein Telefonat, denn eine Erwiderung war nicht zu hören. »Du kennst ihn, er schreckt vor nichts zurück.« Wieder folgte eine Pause. »Ja, aber sicher, man muss es beim Namen nennen: Mord!«

Mord? Merridew weitete alarmiert den Blick und legte den Finger auf die Lippen.

»Am Bootshafen in Datchet«, sagte die junge Frau und schniefte. »Um halb zwei. Oh Gott, ich kann es immer noch nicht glauben!«

Ein Wort des Abschieds war nicht zu hören, wohl aber das Klacken eines Telefonhörers auf der Gabel.

»Mord.« Merridew wisperte ganz leise in mein Ohr. Es folgte eines seiner unvermeidlichen Shakespeare-Zitate: »Wie fällt doch ein Geheimnis den Weibern schwer! Kommen Sie Nigel, wir gehen rasch raus, und Sie erzählen mir, was Sie vorhin am Fenster gesehen haben.«

Wir gingen schnell die letzten Stufen hinunter, verließen das Gebäude durch die Tür, durch die wir hineingekommen waren, und auf dem Hof beschrieb ich ihm die kleine stumme Szene, deren Zeuge ich vorhin unfreiwillig geworden war.

Merridew zog die Nase kraus und kratzte sich hinterm Ohr. »Nun, ich hoffe, der erste Teil meines Geburtstagsgeschenks hat Ihnen schon mal ein bisschen Vergnügen bereitet.«

»Der erste Teil?« Ich konnte nicht verhehlen, dass mir der Sinn nicht nach einer weiteren Demonstration von Merridews unbeschreiblicher Egozentrik stand.

»Ja, ganz recht. Wir sind noch nicht fertig. Ich denke mir, dass Sie vor Freude ganz aus dem Häuschen sein werden, wenn ich Ihnen verrate, dass Sie heute Nachmittag mit mir einen kleinen Ausflug vor die Tore der Stadt machen dürfen!«

»Lassen Sie mich raten: Der Bootshafen von Datchet?«

Er nickte mit einem gönnerhaften Lächeln.

»Oh famos, das Wetter ist prächtig. Wir könnten mit offenem Verdeck fahren!«

»Momentchen, Momentchen! So ein Spaß hat seine Grenzen! Ich zwänge mich Ihnen zuliebe zwar ausnahmsweise in Ihr unbequemes kleines Spielzeugauto, um Ihnen eine Freude zu machen, aber wir wollen es doch nicht gleich übertreiben!«

Noch ein Mord, Mylord

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