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Wir fanden Mr Anselm im untersten Stock der Ausstellungsräume des Wachsfigurenkabinetts. Er war ausgesprochen verwundert, uns schon so rasch wiederzusehen. Seine Brille hatte er immer noch auf den Kopf geschoben, und ich fragte mich, ob er sie überhaupt benutzte, oder ob sie nicht vielmehr eine Art modisches Accessoire war.

Er erklärte uns ungefragt sein Vorhandensein im Ausstellungsraum: »Die Besucher werfen immer mit irgendwelchen Sachen nach Hitler.«

»Bisschen spät«, grunzte Merridew.

»Sehen Sie, hier. Die Nase ist schon wieder ramponiert.«

In der Tat hatte irgendein Wurfgeschoss deutliche Spuren im Gesicht des Diktators hinterlassen. Anselm war mit provisorischem Flickwerk beschäftigt, während die Besucher des Museums vorbeigingen und sich schaudernd der morbiden Atmosphäre des Horrorkabinetts hingaben.

»Und hier unten wird wohl auch mein Freund, Lord Merridew zu stehen kommen?«, fragte ich keck.

Merridew warf mir einen böse funkelnden Blick zu. »Keine blöden Witzchen, Nigel. Ich gehöre ja wohl eher zu den gekrönten Häuptern weiter oben!«

Aber Anselm gefiel der Spaß. »Ihr Freund hat irgendwie recht. Gleich neben Crippen und Christie, das wäre doch was. Ihre Klientel, oder nicht?«

»Pah! Denen hätte ich zu ihrer Zeit jedenfalls schneller das Handwerk gelegt!«

Ich beschloss, das Gespräch in die richtige Bahn zu lenken: »Wir haben eine Bitte, die Ihnen vielleicht ein wenig ungewöhnlich vorkommen mag. Wissen Sie wohl, wo sich Miss Markham zurzeit aufhalten könnte? Wir würden gerne mit ihr sprechen.«

»Miss Markham? Cathy?«

»Ganz recht«, sagte Merridew in betont unverfänglichem Tonfall. »Wir müssten ihr ein, zwei klitzekleine Fragen stellen.«

»Seltsam, dass Sie sich nach ihr erkundigen. Sie ist heute nicht aus der Mittagspause zurückgekommen.« Anselm machte ein ernstes Gesicht. »Eigentlich wäre das hier ihre Aufgabe.«

»Ist sie krank geworden?«

»So scheint es«, sagte Anselm. »Ich hoffe, es ist nichts Ernstes, denn wir haben im Moment einen kleinen personellen Engpass.«

»Eine plötzliche Übelkeit.« Die Stimme kam von der anderen Assistentin, die überraschend aus dem Dunkel trat. »Es kam wie angeflogen. Cathy wurde von einem Moment auf den nächsten sehr blass und bat darum, nach Hause gehen zu dürfen.«

Anselm wedelte mit der Hand in ihre Richtung. »Miranda Fowley haben Sie ja heute Morgen schon kennengelernt.«

Erst jetzt betrachtete ich sie genauer. Ihre Züge waren ausgesprochen hart, fast unweiblich, die Augenbrauen dunkel und streng zusammengeschoben.

Merridew konnte die Aufregung in seiner Stimme nicht verbergen, als er fragte: »Hat Miss Markham jemanden, der … Miss ist doch korrekt, oder?«

Während Anselm nur unwissend mit den Schultern zuckte, nickte die junge Frau zustimmend. »Sie ist nicht verheiratet.«

»Ist sie sonst wie liiert?«, führte ich die Frage meines Freundes fort.

»Nein, schon eine ganze Weile nicht mehr. Überhaupt gibt es da kaum Männerbekanntschaften. Vor zwei Jahren war da mal einer aus Camden Town, aber das endete in einer Katastrophe.«

»Inwiefern?« Merridew stellte seine Fragen weniger schroff und fordernd als üblich, mit nahezu sanftem Tonfall. Bei Frauen zeitigte das häufig die erhoffte Wirkung. »Was war denn so katastrophal?«

»Der Kerl hatte sich nicht unter Kontrolle. Cathy musste oft das Haar offen tragen, und mal saß der Scheitel links, mal rechts, damit die Locke über das jeweilige Auge … Sie verstehen schon …« Ihre Handbewegung machte deutlich, was vorgefallen war.

»Heute Morgen, da war ein Mann auf dem Hof«, sagte ich.

»Crippen!«, lachte Miranda Fowley auf. »Bei Gott, nein!«

»Crippen?«

Ihr Finger deutete in eine Ecke des Raumes irgendwo hinter mir. Als ich mich umwandte, sah ich das wächserne Abbild des Mörders Dr. Hawley Crippen, und ich konnte eine Ähnlichkeit mit dem Mann, den ich gesehen hatte, nicht verhehlen. Das Abbild eines verklemmten Einzelgängers. Das Gegenteil eines Mannes, der Frauen mit seinem Charme anzuziehen vermochte.

»Wir nennen den Kerl Crippen, weil Cathy uns seinen richtigen Namen nicht nennen mag. Er hat sie schon ein paar Mal hier aufgesucht, und das scheint ihr irgendwie unangenehm zu sein. Sie sagt, er sei ein entfernter Verwandter.« Miranda Fowley begann, Anselms Werkzeuge aufzulesen und in einer ledernen Tasche zu verstauen.

Anselm legte nachdenklich den Finger an die Unterlippe. »Ich habe sie einmal in Hampstead Heath gesehen. Sie saßen zu zweit auf einer Bank und blickten auf London herunter. Sah irgendwie nicht nach einem trauten Tête-à-Tête aus.«

Ich versuchte, mir noch einmal die Szene vom Vormittag ins Gedächtnis zurückzurufen. Der Mann hatte sie beim Kinn gefasst. Oder war es die Wange gewesen?

»Aber warum interessiert Sie das eigentlich alles?« Anselm lächelte unsicher. »Hat der Kerl was verbrochen?«

»Man weiß es nicht«, murmelte Merridew nachdenklich und rieb sich mit dem Zeigefinger die Spitze seiner krummen Nase. »Man weiß es nicht. Wo wohnt Miss Markham? Ich fürchte, wir haben Grund, ihr schleunigst einen Besuch abzustatten.«

Die beiden sahen uns alarmiert an.

»Denken Sie etwa, sie ist in Gefahr?«, fragte Anselm.

Statt einer Antwort deutete Merridew nun auf die Ledertasche. »Haben Sie Papier da drin?« Die einfühlsame Befragung war abrupt beendet, und er schlug wieder seinen üblichen Kommandoton an: »Zwischen ihrem ganzen Wachsklimbim werden Sie doch sicher einen Block und einen Bleistift da drin haben.«

»Sicher«, stammelte Anselm. »Stift … Block …, aber, äh …«

Seine Assistentin hatte schon mit flinken Fingern beides hervorgeholt.

»Heute Morgen haben Sie ja ein paar halbwegs akzeptable Skizzen von mir fabriziert. Und nun zeichnen Sie uns doch mal ganz flott ein brauchbares Portrait dieses Kerls mit dem Hut, wenn ich bitten darf.«


An Cathy Markhams Adresse, die Miranda Fowley in der Registratur erfragt hatte, fanden wir ganz in der Nähe der King’s Cross Station, am Ende der Frederica Street ein zweigeschossiges, freistehendes Backsteinhäuschen mit zwei großen Dacherkern. Ein Schild wies es als Pension aus. Auf unser Klingeln hin öffnete eine kleine, alte Dame mit silbernem Dutt und rosigen Bäckchen. Sie stellte sich uns als die Pensionswirtin Mrs Wilberforce vor.

»Miss Markham? Aber gewiss, die wohnt bei mir. Ich fürchte, ich kann Ihnen jedoch keinen Besuch bei ihr erlauben. Herren haben dort oben keinen Zutritt.«

Merridew blickte auf die kleine Gestalt hinab. »Aber was denken Sie denn von uns, Madam?«

»Ganz egal, wie respektabel Sie auch erscheinen mögen, meine Herren, ich mache da keine Ausnahme!« Sie führte uns in ihr Wohnzimmer, das eng und plüschig war, mit üppig grünen Pflanzen, schweren, gerafften Vorhängen, Borte und Litze überall und dicken Orientteppichen – und mit drei Papageien, die auf Stangen und in Käfigen vor sich hin plapperten und flatterten.

Mrs Wilberforce wies auf das mit rotem Samt bespannte Sofa. »Überhaupt möchte ich eigentlich nur noch ungern Herren in dieses Haus lassen. Ich habe in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen gesammelt. Miss Markham ist da mit mir einer Meinung. Ein anständiges Kind. Setzen Sie sich hin.«

»Hinsetzen!«, befahl ein Papagei.

Trotz ihrer schildkrötenhaften Statur wirkte Mrs Wilberforce ungeheuer resolut, und wir fügten uns notgedrungen und nahmen Platz.

»Ist Miss Markham denn wohl zuhause?«, fragte Merridew.

»Sie sollte auf der Arbeit sein. Sie hat eine Anstellung auf der Marylebone Street als …«

»Wissen wir«, grunzte Merridew. »Dort ist sie aber nicht. Wir wollen wissen, ob sie in ihrem Zimmer ist.«

»Nun, sie könnte vorhin gekommen sein, als ich hinterm Haus nach den Kürbissen gesehen habe, und …«

»Würde Sie wohl bitte nachsehen, ob sie da ist?«

»Wenn Sie die Güte hätten, mir zuerst einmal zu sagen, welche Legitimation Sie überhaupt …«

»Himmelherrgott«, platzte es aus Merridew heraus. »Gehen Sie jetzt rauf, und schauen Sie nach, ob sie in ihrem Zimmer ist!«

Die alte Frau stemmte die Hände in die Seiten und schob trotzig das Kinn vor. »Sie mögen einen feinen Zwirn tragen und eine goldene Uhrkette haben, Ihre Fliege mag aus reiner Seide sein, und Ihre Schuhe sind vermutlich aus der Savile Row, aber all das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Ihre ungehobelten Manieren auf eine höchst fragwürdige Kinderstube schließen lassen, mein Herr.«

Ein Papagei flatterte mit den Flügeln und rief: »Kinderstube!«

Dann wandte sie sich um und trippelte auf die Zimmertür zu. »Sie rühren sich nicht vom Fleck, Gentlemen!«

»Nicht vom Fleck!«, schnarrte ein Papagei. Und bevor die Pensionswirtin hinausging, wandte sie sich noch einmal zu uns um. »Sind Sie musikalisch?«

Wir schüttelten beide simultan den Kopf.

»Sie spielen kein Instrument?«

Erneutes Kopfschütteln.

»Gut«, sagte sie. »Das spricht für Sie.«

»Eins ist schon mal sicher«, sagte ich, als sie verschwunden war, »hier hat der Mann mit Hut bestimmt keinen Zutritt. Kein Wunder, dass er Cathy Markham auf der Arbeit belästigt.«

»Warum flüstern Sie?«

»Wir werden belauscht«, sagte ich leise und zeigte auf unsere gefiederten Bewacher.

»Papperlapapp«, knurrte Merridew ungeduldig. »Ich hoffe, die alte Schachtel legt einen Zahn zu, sonst mache ich ihr eine Federboa aus ihren drei Krummschnäbeln.«

»Nicht so ruppig, Merridew. Glauben Sie wirklich, Cathy Markham ist in Gefahr?«

»Vielleicht wollte sie ja diese Entführung verhindern. Wenn man nur wüsste, mit wem sie telefoniert hat.« Er knetete seine Hände, die er auf dem Knauf seines Gehstocks gefaltet hatte. »Mrs Wilberforce!«, rief er schließlich laut, sodass die alte Frau es gewiss bis in den ersten Stock gehört haben musste. Die Papageien flatterten alle drei aufgeregt mit den Flügeln.

Und fast im selben Augenblick erschien die kleine Gestalt der Pensionswirtin wieder im Türrahmen. »Bedaure, aber sie ist nicht da, Gentlemen.«

»Haben Sie geklopft?«

»Ja, das tat ich!«

»Haben Sie ins Zimmer hineingesehen?«

»Auch das habe ich gemacht!«

Merridew sprang vom Sofa auf. »Jetzt reicht’s aber! Wir müssen sofort einen Blick in das Zimmer der jungen Dame werfen!«

Jetzt war es mit der Geduld der Alten endgültig vorbei. »Das werden Sie keinesfalls tun, Gentlemen! Miss Markhams Zimmer betreten Sie nur über meine Leiche!«

»Da müssen wir ja nicht mehr lange warten«, entfuhr es meinem Freund.

Einen kurzen Moment blickten die beiden Kontrahenten einander starr in die Augen.

Ehe wir’s uns versahen, hielt Mrs Wilberforce plötzlich einen Regenschirm in der Hand und erhob zitternd die Stimme. »Zeter und Mordio werde ich schreien, hören Sie! Man kennt mich auf der hiesigen Polizeistation, und im Nu wird jemand kommen und Sie verhaften! Verlassen Sie auf der Stelle mein Haus. Hören Sie, auf der Stelle!«

»Auf der Stelle!«, krähte einer der Papageien hinter uns her, während wir das Wohnzimmer verließen.

Merridew drehte sich noch einmal um und versuchte es ein letztes Mal: »Können Sie uns wenigstens sagen, wo Miss Markham sein könnte, wenn sie nicht auf der Arbeit oder in ihrem Zimmer ist?«

»Darüber kann ich Ihnen keine Auskunft geben!« Sie hatte die Schirmspitze immer noch auf uns gerichtet. »Sie hat keine Verwandten. Vielleicht ist sie bei einer ihrer Freundinnen. Bei Miss Peabody oder Miss Menzies oder Miss Fitzwilliam womöglich.«

»Oder bei diesem Mann?« Geistesgegenwärtig hatte ich die Zeichnung hervorgeholt, die uns Mr Anselm kurz zuvor angefertigt hatte.

Sie warf nur einen flüchtigen Blick darauf. »Ich sagte bereits, dass Miss Markham keine Männerbekanntschaften pflegt!«

»Kennen Sie den Mann?«

»Nein! Macht er Musik?«

»Das wissen wir nicht. War er schon mal vor dem Haus?«

»Nein! Gehen Sie jetzt!«

»Gehen Sie jetzt!«, echote es von nebenan.

Wir gaben uns schließlich geschlagen und stolperten auf die Straße hinaus.

»So ein zähes, altes Reptil«, zischte Merridew wütend. Es geschah nur sehr selten, dass es ihm nicht gelang, verstockte Zeugen zum Reden zu bringen, aber an dieser hartleibigen Alten hatte er sich zweifellos die Zähne ausgebissen.

»Da vorne ist ein Telefon, Nigel. Kommen Sie, wir rufen Smith an. Vielleicht hat der inzwischen etwas herausgekriegt, das uns weiterbringt.« Und dann stapfte er mit so gewaltigen Schritten auf die rote Telefonzelle zu, als wollte er sie umstoßen.

Noch ein Mord, Mylord

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