Читать книгу Noch ein Mord, Mylord - Ralf Kramp - Страница 15
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ОглавлениеNoch nie zuvor in meinem Leben war ich in einem Filmstudio gewesen. In der Wochenschau hatte ich schon einmal den ein oder anderen Einblick in die großen Londoner Studios bekommen. Es war aus Elstree berichtet worden, aus Twickenham, Shepperton und Ealing, aber als wir uns jetzt vor den Fachwerkgiebeln des Eingangsgebäudes der Pinewood Studios in Iver im Westen Londons wiederfanden, war ich doch etwas aufgeregt. Smith empfing uns vor der Pförtnerloge mit tief herunterhängenden Mundwinkeln und winkte unseren Wagen durch. Zur Rechten standen zahlreiche andere Autos auf einem Parkplatz, auf dem wir den Nash-Healey abstellten.
Mit großen Schritten kam Smith auf uns zu. »Ich bleibe dabei, das ist keine gute Idee«, knurrte er. »Wenn einer von euch auch nur ein einziges falsches Wort sagt, wittern die gleich was.«
Merridew lachte süffisant. »Wer trügen will, kann einen Schein wohl stehlen!«
»Kein Sterbenswort über die Entführung!«
»Machen wir doch mal eine Frage draus«, konterte Merridew. »Hat es schon ein Sterbenswort über die Entführung gegeben?«
Smith schüttelte den Kopf. »Nichts. Alle denken, sie liegt in Parkside in der Heia.« Er bedeutete uns mit einer Handbewegung, ihm zu folgen.
Wir gingen eine belebte Straße entlang. Arbeiter kamen Kisten schleppend oder mit Gabelstaplern vorbei, schwatzende Personengruppen standen mit oder ohne Kostüm herum, teilweise in Zivil, teilweise als Weltkriegssoldaten ausstaffiert … es war ein buntes Durcheinander. Smith führte uns zwischen großen Gebäudekomplexen und an kleinen Parkanlagen vorbei, und vor dem Eingang zu einer großen Halle zeigte er einen Ausweis und sagte zu einem Uniformierten barsch: »Gehören zu mir«, woraufhin wir passieren konnten.
Die Decke im Inneren des gewaltigen Gebäudes war in unerreichbarer Höhe, die Seitenwände waren in weiter Ferne zu erahnen. Schwarze Vorhänge verhinderten größtenteils den Durchblick, und überall wanden sich dicke Kabelstränge auf dem Boden herum.
Bei jedem Schritt mussten wir jemandem ausweichen, der uns entgegenkam. Wenn wir irgendwo stehen blieben, standen wir unweigerlich irgendwem im Weg.
Metallisches Hämmern war zu hören und großes Stimmengewirr in der Ferne.
»Wenn es irgendwie geht, halte ich mich von diesem Chaos fern.« Roger Smith machte ein Gesicht, als müsse er sich durch einen Käfig voller Aussätziger kämpfen. »Alles Verrückte, wenn ihr mich fragt.«
Irgendwie kamen wir nicht an das eigentliche Set heran. Aktuell stellte es nach Smiths Angaben den rotvioletten Salon in der Botschaft des fiktiven Balkanstaats Karpathia dar. Ich hätte zu gern einen Blick darauf geworfen, aber ich hatte den Verdacht, dass Smith uns in konzentrischen Kreisen drum herum führte, weil er fürchtete, wir könnten jemandem begegnen, bei dem wir uns verplappern könnten.
»Sagen Sie mal, Smith, wann kommen wir denn endlich an? Ostern?«, rief mein Freund Merridew. »So finden wir ja nie einen, den wir befragen können!«
Smith fuhr herum und legte verärgert den Finger auf die Lippen. »Schschscht! Sprechen Sie nicht von befragen! Erwähnen Sie auch nicht so was wie Indizien oder Alibi! Am besten, es merkt niemand, dass Sie überhaupt hier sind!«
»Na, da brat mir doch einer nen Storch! Merridew!«, ertönte laut eine Stimme hinter uns. Wir fuhren herum und sahen uns einem großgewachsenen Mann im mittleren Alter gegenüber, der in einer über und über mit Goldlitze und Troddeln verzierten Paradeuniform steckte. Sein schmallippiger Mund war zu einem breiten Lächeln verzogen, und unter der langen, spitzen Nase hatte man ihm einen künstlichen Schnurrbart angeklebt.
Merridew riss die Arme hoch und hätte beinahe mit seinem Stock einem Requisiteur die Vase in den Händen zertrümmert. »Wattis, Donnerwetter! Sagen Sie bloß, Sie machen bei diesem Hokuspokus mit!«
Natürlich kannte ich Richard Wattis. Sein erkahlender Schulmeisterschädel mit der runden Brille tauchte irgendwann in nahezu jedem Film auf, der in unserem Land gedreht wurde. Dass er zu Merridews Bekanntenkreis gehörte, war mir allerdings neu.
Er trat näher, strich mit seinen dünnen Fingern über das Revers meines Jacketts und schnurrte süßlich: »Und eine stattliche Begleitung hast du mitgebracht, Merridew.«
Merridew stellte mich vor und erklärte, dass uns sein alter Freund Smith einen Rundgang am Set versprochen hatte.
Wattis ließ die dünnen Augenbrauen in die Höhe wandern, wandte sich an Smith, der nervös auf der Unterlippe kaute, und sagte tadelnd: »Na, na, na! Das sollte Sir Larry wohl besser nicht erfahren. Sie wissen doch, dass Olivier … na, dass wir eigentlich alle ein bisschen unter Strom stehen. Diese Dreharbeiten sind ein Desaster. Der Film dürfte eigentlich gar nicht gedreht werden. Monroe und Olivier! Du meine Güte, das sind Sonne und Mond, aber fragt mich nicht, wer wer von beiden ist. Die begegnen einander auch nie, und das hat seinen guten Grund, möchte ich meinen.« Er fasste mich beim Arm und schob mich stellvertretend für alle in Richtung Ausgang. »Kommt mit, Ihr Buben, wir gehen eine qualmen.«
Wenige Minuten später befanden wir uns wieder draußen vor der Halle. Smith blickte ununterbrochen die Studiostraße hinauf und hinunter.
Wattis hielt uns seine Zigarettenschachtel hin, aber keiner von uns griff zu. Der Schriftzug Olivier war auf die Schachtel gedruckt.
»Larrys eigene Sorte bei Benson und Hedges. Er kriegt zwei Pence pro tausend verkaufte Stück, hat alle zwanzig Wochen 500 Päckchen zur freien Verfügung und verteilt sie an uns, als wären’s Sahnebonbons. Schmecken scheußlich.« Wattis inhalierte tief, legte den Kopf in den Nacken und flatterte dramatisch mit den Wimpern. »Noch zwei Monate und der Albtraum ist vorüber.«
Plötzlich zuckte er zusammen und sah Merridew mit weit offenem Mund an. »Bist du etwa beruflich hier, Merri Mouse? Sag schon, hat jemand Marilyn ermordet?«
Smith unterdrückte ein Stöhnen und rieb sich in einer verzweifelten Geste durchs Gesicht.
Mein Freund lachte auf. »Ach was, Dickie, wo denkst du hin! Mein Freund hier wollte mal Filmluft schnuppern. Er ist ein großer Cineast, weißt du?«
Nun galt Wattis’ Aufmerksamkeit wieder ganz mir. »Oh wirklich, ist das so?«, säuselte er. »Nun, ich könnte Ihnen allerhand erzählen, mein lieber Nigel. Und auch zeigen …«
Ich räusperte mich nervös und schoss die erste Frage ab, die mir durch den Kopf ging und halbwegs sinnvoll erschien: »Gäbe es denn wohl Menschen, die Marilyn Monroe etwas antun könnten?«
»Na, ich zum Beispiel!«, rief Wattis aufgebracht. »Mir wäre es wirklich egal, wenn Marilyn morgen tot umfallen würde. Wir zwängen uns jeden Tag frühmorgens in diese abscheulichen, steifen Kostüme mit den brettharten Krägen und schwitzen uns da drinnen halb zu Tode. Und sie schläft gemütlich aus oder kommt einfach überhaupt nicht. Ihr Leben besteht aus Pillen, Sprit, Sex, noch mehr Pillen …« Er seufzte sehnsüchtig. »Mein Gott, das muss wundervoll sein.«
Merridew kicherte tonlos in sich hinein. Sein gewaltiger Bauch zitterte vor Vergnügen.
»Ist sie denn hier?«, fragte ich aufs Geratewohl.
»Ach so …« Wattis musterte mich jetzt abschätzig. »Sie kommen wohl nur wegen ihr, stimmt’s? Alle kommen immer nur wegen ihr. Die haben ja keine Ahnung.«
»Sie ist gar nicht so übel wie alle tun«, murmelte Smith in einem schwachen Versuch, die Hollywood-Diva zu verteidigen. Ich glaubte ihm. Er war ein abgebrühter Bursche mit einem Blick für das Wesentliche. Wenn er einen Funken Sympathie für seine Schutzbefohlene verspürte, kam das nicht von ungefähr.
Wattis ruderte mit einem Kopfwackeln zurück. »Na gut, mag ja sein. Aber sie ist hier einfach fehl am Platz. Frag da drinnen mal jemanden. Da gibt es keinen, der mit ihr was zu tun haben will. Außer der Maskenbildnerin, aber die ist seit zwei Tagen auch weg.«
»Weg?« Merridew hob den Kopf.
»Gefeuert. Fristlos. Hat Requisiten mitgehen lassen, um sie zu verhökern. Das muss man sich mal vorstellen.«
Auch Smith sah ihn verwundert an. »Hab ich gar nicht mitgekriegt.«
»Peabody, die kleine, pummelige mit dem schiefen Mund«, erklärte Wattis. »Man hat einen von Marilyns langen, weißen Handschuhen aus der Ballszene bei ihr im Auto gefunden. Zack – kurzer Prozess.«
»Peabody?«, fragte Merridew. Auch er hatte sich offenbar gleich an den Namen erinnert, den Mrs Wilberforce in ihrer Aufzählung von Cathy Markhams Bekanntschaften erwähnt hatte.
»Ja, Belinda Peabody aus Watford. Langweilige Person, ein richtiges Pflänzchen Rührmichnichtan. Nicht, dass ich ihr irgendwelche Avancen gemacht hätte … Wir haben ab und zu hier draußen gestanden und gepafft. Sie war so verschlossen wie eine Auster. Na, die kann froh sein, wenn sie überhaupt noch mal einen Job kriegt.«
Merridew sah mich auffordernd an. »Zeigen Sie unserem Freund Dickie doch mal die Zeichnung, mein lieber Nigel.«
Ich holte das Blatt Papier aus der Innentasche meines Jacketts und faltete es auseinander.
»Den kenne ich!«, rief Richard Wattis aufgeregt. »Der streunt hier ab und zu rum. Die Aufseher haben ihn schon ein paar Mal rausgeworfen, aber die Peabody scheint ihn irgendwie immer wieder reingeschmuggelt zu haben! Ich weiß nicht, ob er bei ihr landen konnte. Hab sie mal mit dem Auto in Hampstead Heath rausgelassen. Da war sie, glaube ich, mit dem verabredet.« Er nahm die Skizze und blickte noch einmal genauer hin. »Ja, doch, ich bin mir ganz sicher. Das ist der Kerl. Schmieriger, kleiner Bursche, oder?« Er legte plötzlich die Stirn in Falten. »Ich glaube fast, der hat sich nur an die Peabody rangemacht, um hier reinzukommen. Und wisst Ihr auch, warum ich das glaube?«
Wir zuckten mit den Schultern.
»Wartet hier mal einen Moment!« Er huschte durch die Tür ins Innere der Filmhalle.
»Merri Mouse?«, fragte ich. »Habe ich richtig gehört? Merri Mouse?« Ich konnte ein Lachen kaum unterdrücken.
Merridew schnaufte nur und ging nicht weiter darauf ein. Er wandte sich zu Smith um und redete sehr energisch auf ihn ein. »Belinda Peabody aus Watford – aufschreiben, den Namen! Sie sollten schleunigst versuchen, etwas über diese Frau herauszukriegen!«
»Aber wie denn?«
»Ihre ehemaligen Kollegen? Da gibt es doch bestimmt jemanden, der Ihnen noch was schuldig ist!«
»Wie kommen Sie denn ausgerechnet auf diese Maskenbildnerin?«
Merridew erzählte ihm in groben Zügen, was wir bei Mrs Wilberforce in Erfahrung gebracht hatten, und als er damit fertig war, erschien auch schon wieder Richard Wattis und wedelte mit einem großen, braunen Umschlag. »Habe ich aus Larrys Garderobe.« Er sah sich rasch nach allen Seiten um, bevor er ihn öffnete und ein paar großformatige Fotografien herausholte.
Der Anblick des eng beieinanderstehenden Trios amüsierte mich: Wattis und Smith gaben sich mit hin und her gehenden Köpfen überaus geheimniskrämerisch und mein Freund Merridew stellte ganz unverhohlen seine Neugier zur Schau, indem er mit vorgereckter Adlernase die Fotos betrachtete.
»Das sind Fotos von Marilyns Ankunft im Juli«, erklärte Wattis. »Am Abend gab es eine große Pressekonferenz im Savoy in London.«
Auf den Fotos waren fast ausnahmslos Sir Laurence Olivier und Marilyn Monroe zu sehen. Auf einigen aber auch ihre Ehepartner Vivien Leigh und Arthur Miller.
»Guckt mal hier, sogar ihr hat er sein Kraut aufgedrängt.« Olivier zündete Marilyn auf einem der Bilder eine Zigarette an. Ein Foto, das scheinbar große Intimität widerspiegelte – oder sie vielmehr vortäuschte, wenn ich all das bedachte, was ich inzwischen über dieses Filmprojekt erfahren hatte.
»Hier!« Richard Wattis wedelte mit einem Foto. »Hier ist es!«
Die Aufnahme war von irgendjemandem gemacht worden, der bei der Pressekonferenz ungewöhnlicherweise hinter den beiden weltberühmten Schauspielern gestanden hatte. Man sah ihre Hinterköpfe und ihre Rückenpartien. Vor allen Dingen aber sah man vor ihnen eine ganze Meute von Journalisten, deren Köpfe hinter den Fotoapparaten verborgen waren. Sie schienen alle gleichzeitig auf den Auslöser zu drücken, weil das Motiv, das sich ihnen in diesem Augenblick bot, offenbar besonders lohnenswert war. Alle schossen dasselbe Bild.
Nur einer nicht.
Einer von ihnen hielt seine Kamera mit dem Objektiv nach unten. Er dachte nicht daran, ein Foto zu machen. Er starrte nur in Richtung der platinblonden Kino-Göttin, die gerade erst über den großen Teich nach England gekommen war. Es gab keinen Zweifel: das war der Mann, den ich am Vormittag in London gesehen hatte.
Merridew fingerte aufgeregt in seiner rechten Westentasche nach einer kleinen, ausklappbaren Lupe im Lederetui, die an einer Kette hing. Als er sich damit über das Foto beugte, gab er ein zufriedenes Brummen von sich, so wie ein Bär, der doch tatsächlich das verflixte Honigglas aufgeschraubt bekommen hat.
»Oho! Der Presseausweis an der Brust … Daily Mail!«, murmelte er. »Na bitte, wer sagt’s denn! A. Gilchrist.« Er sah zu uns auf und strahlte mit rot glänzenden Wangen. »Dickie, damit machst du uns eine große Freude.«
»Ich merke es«, sagte der Schauspieler mit zusammengekniffenen Augen. »Und ich fresse einen Besen samt knackigem jungem Straßenfeger, wenn du hier nicht doch in irgendeiner Sache ermittelst, Merri!«
Merridew senkte vertraulich seine Stimme, und ich merkte, wie Smith zur Salzsäule erstarrte. »Weil ich dich nun mal so gut leiden mag, Dickie, verrate ich es dir. Es geht …« Diesmal blickte er sich vorsichtig um. Smith biss sich auf die Fingernägel. »… um eine Bande von räuberischen Film-Devotionalien-Händlern!«
»Ha! Wusste ich’s doch!«
»Jede Menge Taschentücher, Schlipse und Manschettenknöpfe von Danny Kaye sind in Umlauf. BHs und falsche Wimpern von Diana Dors. Und ein Rasierapparat von Dirk Bogarde ist gerade für fünfhundert Pfund verhökert worden! Alles von den Filmsets gemopst!«
»Dirk Bogarde?«, hauchte Wattis ergriffen. »Der dreht gerade hier in Halle drei. Hach, da wäre ich lieber. Ein Weltkriegsdrama und nicht so ein Kostümtingeltangel!« Er zündete sich eine neue Zigarette an.
Merridew klopfte ihm auf die Schulter. »Bleibt aber unter uns.«
»Selbstredend.«
Als wir gingen, rief Wattis noch: »Ach, und Nigel … Wenn Sie doch mal Lust auf ein Ründchen durch Soho haben – Merri Mouse hat meine Nummer!«
Kurz darauf saßen wir wieder in meinem Auto und verließen das Studiogelände auf dem Weg, auf dem wir gekommen waren. Mein erster Besuch in einem Filmstudio hatte keine prägenden Eindrücke hinterlassen. Dazu hatten wir einfach nicht tief genug ins Herz des cineastischen Kreißsaals vordringen können
Smith war unterwegs zu Scotland Yard. Widerwillig zwar, doch überzeugt davon, dass es von großer Wichtigkeit war, alle Quellen anzuzapfen, derer er habhaft werden konnte.
»Schon wieder Hampstead Heath«, sagte ich. »Ist es Ihnen aufgefallen?«
»Natürlich ist mir das aufgefallen. Ein blinder Einbeiniger ohne Ohren hätte das mitgekriegt. Das Männlein mit Hut pflegt seine Damenbekanntschaften mit Vorliebe auf die Heide zu entführen.«
»Ist ja auch schön dort oben.«
»Ja, aber auch eine reichlich züchtige Angelegenheit. Ziemlich belebt ist es da doch immer. Halt, Momentchen mal!« Er griff mir fast ins Steuer, als er rief: »Fahren Sie da vorne mal rechts.«
»Was? Nicht nach London? Wir wollten doch zur Daily Mail. Ich sagte Ihnen doch, dass mein alter Kumpel Clarence Philby dort arbeitet.«
»Keine Sorge, wir besuchen Ihren Clarence schon noch, aber ich möchte zuvor noch einen kleinen Umweg machen.«
Gehorsam setzte ich den Blinker und bog rechts ab. »Etwa noch mal nach Datchet?«, fragte ich, als ich kapierte, dass wir nun den Weg nahmen, den am Mittag auch Marilyn Monroe mit ihrem Fahrer genommen haben musste.
»So ungefähr. Ich möchte bei dieser Themsebrücke einen kleinen Halt machen.«
»Und was hoffen Sie dort zu finden?«
Er wackelte mit dem Kopf und schob die Unterlippe vor. »Hoffnung ist oft ein Jagdhund ohne Spur. Ich weiß noch nicht. Sachen … Dinge … irgendwas.«
Als wir wenig später auf die Brücke zufuhren, konnte ich mir nicht verkneifen, noch einmal auf das Treffen mit Wattis zurückzukommen: »Merri Mouse? Habe ich das vorhin richtig mitbekommen?«
»Das bereitet Ihnen Spaß, was? Ich versichere Ihnen, dass Dickie Wattis der einzige Mensch auf Gottes Erden ist, der mich so nennt. Gemeinhin sind meine Kosenamen deutlich passender.«
»Die da wären?«
»Mr Mystery, Murderdew oder einfach ganz bescheiden Mighty M! Da vorne! Sehen Sie die Einmündung?«
Gerade als die Brücke in Sicht kam, zweigte linker Hand zwischen dem Gestrüpp, das die Fahrbahn säumte, ein Weg ab.
»Da rein, los!«
Reflexartig bremste ich und bog links ab, was den Fahrer hinter uns zu lautem Hupen veranlasste.
Der Weg verlief ein paar Meter entlang der Straße und führte dann nach rechts unter der Brücke durch. Unter der Fahrbahn, am Brückenkopf, war ein breiter Streifen, auf dem mühelos ein Auto parken und sogar wenden konnte.
»Was denken Sie, Nigel, wäre das nicht ein famoses Plätzchen, um lästige Verfolger abzuschütteln?«
»Möglicherweise.«
»Fragen wir doch mal die Burschen da!«
Zwei Angler hockten ein paar Meter weiter auf ihren Klappstühlen am Ufer und hielten geduldig ihre Angeln ins Wasser.
Ich schaltete den Motor ab, und wir stiegen aus. Merridew ächzte und machte zur Lockerung demonstrativ ein paar rudernde Bewegungen mit den Armen. »Junge Junge, eine Schildkröte hat in ihrem Panzer ja mehr Platz!«, knurrte er und warf die Autotür mit mehr Schwung zu als nötig. »He, ho, die Herren da!« Er ging auf die beiden zu und winkte mit dem Gehstock. »Was angeln wir denn heute?«
Die zwei Männer blickten zuerst einander in die knorrigen Gesichter, bevor einer halblaut herauspresste: »Sie werden nicht drauf kommen: Fische.«
»Hohoho!« Merridews Lachen war so dröhnend, dass es die Wasseroberfläche zu kräuseln schien und sicherlich dem Erfolg dieses Angelausflugs wenig zuträglich war. »Was denn für Fische?«
Wieder suchten die beiden zuerst den Blickkontakt mit dem jeweils anderen, bevor einer sagte: »Sie wollen jetzt aber nicht die lateinischen Namen und all so was?«
»Hechte? Barben?«, fragte ich, da mein Vetter Olly mich zwei- oder dreimal im Jahr mit zum Angeln nahm.
Den beiden Männern erschien ich im Gegensatz zu meinem Freund ein akzeptabler Gesprächspartner zu sein – vielleicht auch weil ich meine Stimme etwas dämpfte. Sie deuteten auf ihre Eimer. »Paar Barben«, sagte der eine. »Und nur ein Aal.«
Der andere rümpfte die Nase. »Früher war hier mehr los. Da sprangen einem die Jungs von selber in den Eimer, wenn man da vorne um die Ecke kam.«
Der eine nickte mit grimmigem Gesicht und spuckte ins Wasser. »Ist heute zu viel Dreck im Fluss. Hier geht’s ja noch, aber ab London braucht man’s gar nicht mehr zu versuchen. Richtige Drecksbrühe ist das da.«
Aus den Augenwinkeln beobachtete ich meinen Freund, der unterdessen im Schatten der Brücke den unbefestigten Boden untersuchte. Er stocherte mit dem Stock zwischen den Brennnesseln herum und fuhr mit den glänzenden Schuhspitzen durch die dürren Grasbüschel. Das Fragen überließ er mir. Vermutlich steckte ihm noch der Besuch bei Mrs Wilberforce in den Knochen.
»Kommen hier viele angeln?«, plauderte ich also weiter.
»Kann man nicht sagen.«
»Sind Sie denn regelmäßig hier?«
»So ziemlich.«
»Immer an derselben Stelle?«
»Oft«, sagte der eine.
»Meistens«, der andere.
Was der Erste wiederum mit »Manchmal nicht« quittierte.
Ich atmete tief durch. Fabelhafte Zeugen mit Aussagen von bemerkenswerter Präzision und apodiktischer Bestimmtheit. Es war die helle Freude.
»Heute Mittag, so zwischen halb zwei und zwei, waren Sie da auch hier?«
»Wir gucken nicht auf die Uhr«, meinte der eine.
»Also nach eins? Kann schon sein« der andere.
»Möglich isses«, waren sie sich einig.
»Kam da vielleicht ein Auto unter die Brücke gefahren?«
Augenblicklich grinsten sie einander breit an.
»Kommen öfters Autos hier runter«, sagte der eine und kicherte anzüglich.
»Aber nicht zum Angeln.« Das dreckige Lachen, in das sie jetzt simultan ausbrachen und das sie mit wildem Schenkelklopfen begleiteten, vertrieb mit Sicherheit auch noch die letzten Fische.
»Und heute Mittag, war da eins?«
Sie nickten beiläufig, und während der eine begann, eine Pfeife zu stopfen, schnäuzte sich der andere in ein kariertes Taschentuch.
Mit dem ersten Paffen des Tabakqualms kam endlich die erhoffte Auskunft: »So was Türkises. Ford, glaub ich.«
»Aha!«, rief ich laut und blickte zu Merridew hinüber, der gänzlich unbeteiligt tat und sich gerade tief nach etwas bückte. »Konnten Sie denn sehen, wer darin saß?«
Der Angler mit dem Taschentuch deutete mit seinem krummen Daumen schräg hinter sich. »Können Sie nicht sehen, wenn der Wagen unter der Brücke steht. Zu schattig, gucken Sie doch.«
Er hatte recht. Aber ich wusste ja, wer in dem Auto gesessen hatte. Bemerkenswert erschien mir, dass es offenbar keinen Streit oder kein Handgemenge in dem Auto gegeben hatte.
Das hätten die beiden mit Sicherheit mitbekommen.
»Also dann Petri Heil«, sagte ich und ging zu Merridew hinüber.
»Sie haben ein Auto gesehen. Es war sicher der Ford Anglia, und ich wette …«
»Ja, ja, ja!«, winkte Merridew ab. »Habe alles mit angehört. Verdammt ausgefuchste Verhörtaktik haben Sie drauf, alter Knabe. Miss Monroe war also hier. Habe ich auch so schon herausgefunden.«
»Ach, und wie?«
Statt einer Antwort hielt er mir einen Zigarettenstummel unter die Nase. Ich konnte deutlich Spuren eines blassen Lippenstifts auf dem Filter erkennen, und außerdem stand mit winzig kleinen, goldfarbenen Buchstaben der Name Olivier darauf geschrieben.