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Fokussierung

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Einmal im Jahr schickte die Labora GmbH ihre Manager zum Managementtraining. Diese jährlichen Schulungen wurden allgemein als großer Erfolg betrachtet, denn sie boten allen Beteiligten erhebliche Vorteile. Die Labora hatte sich auf diesem Wege zu Recht den Ruf eines erfolgs- und zukunftsorientierten – kurz: eines modernen – Unternehmens erworben, das sich stets auf Augenhöhe mit den jüngsten Entwicklungen im Management befand.

Da von der Geschäftsführung der Labora stets nur ein Mitglied zum Training erschien, das dann aber nach einem Grußwort und einer Tasse Kaffee schon bald wieder ging, boten die Seminare die Gelegenheit, eindrucksvoll zu demonstrieren, dass die Unternehmensleitung ein derartiges Training nicht nötig hatte. Das war für alle Beteiligten durchaus nachvollziehbar, denn immerhin hatten diese Damen und Herren bereits die oberste Führungsebene erreicht, was jedoch kaum möglich gewesen wäre, wenn sie Schulungsbedarf gehabt hätten.

Genau diese grundlegende Erkenntnis bestärkte wiederum die Manager, die am jährlichen Training teilnahmen, in ihrer Überzeugung, dass sie dort etwas lernen, was ihnen auf dem weiteren Weg nach oben von Nutzen sein würde. So war es nur allzu verständlich, dass es inzwischen als Auszeichnung galt, zu diesen Seminaren eingeladen zu werden, und es wäre niemandem in den Sinn kommen, die Einladung abzulehnen, was allerdings ohnehin nicht vorgesehen war.

Das Human Resources Department und insbesondere Frau Schön als dessen Leiterin sahen wiederum in den Fortbildungsveranstaltungen eine willkommene Gelegenheit zu demonstrieren, dass ihre Abteilung keineswegs nur für Gehaltsabrechnungen, Personalstatistiken und Urlaubsanträge zuständig war. Nein, was da gemeinhin – und meistens eher despektierlich, wie Frau Schön gelegentlich bedauernd feststellte – als Personalabteilung bezeichnet wurde, war bei näherer Betrachtung die treibende Kraft hinter dem großen Erfolg der alljährlichen Managementtrainings. Davon war Frau Schön überzeugt und in dieser Überzeugung fühlte sie sich auch immer wieder durch die zahlreichen Managementtrainer bestärkt, die mit der Labora inzwischen in engem Kontakt standen und Frau Schöns Offenheit gegenüber neuen Entwicklungen im Management und entsprechenden Seminarthemen außerordentlich zu schätzen wussten.

So war das jährlich stattfindende Managementtraining bei der Labora GmbH zu einer guten Tradition geworden und man hätte gar von einer perfekten Win-win-Situation sprechen können, wenn da nicht die Mitarbeiter gewesen wären, die jedes Mal, wenn die Manager von ihrem Training zurückkehrten und spontan begannen, ihr neu erworbenes Managementwissen in die Praxis umzusetzen, unter einer gewissen Orientierungslosigkeit litten. Diese nach jedem Training wiederkehrende Herausforderung wurde noch dadurch verstärkt, dass die Themen der Seminare von Jahr zu Jahr wechselten.

Vor zwei Jahren hatte das Thema gelautet: Auf die Helikopterperspektive kommt es an. Der Blick des Managers für das große Ganze, war als Untertitel hinzugefügt worden. Es war ein durchaus erfolgreiches Training gewesen. Die Manager hatten das Gelernte nach ihrer Rückkehr schnell in die Praxis umgesetzt und kümmerten sich fortan nicht mehr um Kleinigkeiten. Ja, sie hatten verstanden, dass es im Management auf die große Linie ankommt. Davon konnte die Beschäftigung mit Details nur ablenken. Mitarbeiter, die sich trotzdem mit unbedeutenden Kleinigkeiten und sonstigen Feinheiten an ihre Manager wandten, wurden umgehend belehrt: auf das große Ganze kommt es an!

In der Folgezeit hatte es dann allerdings einige unerwartete und leider auch unerwünschte Entwicklungen gegeben, die die Leitung der Labora zunächst noch als Kollateralschäden eines neuen Managementbewusstseins abgetan hatte. Ein paar Kleinigkeiten waren übersehen worden. Nun ja, das konnte passieren. Man konnte nicht alles sehen, wenn man von da oben aus dem Hubschrauber schaute. Aber die große Linie stimmte natürlich trotzdem. Zumindest anfangs. Erst als sich kritische Fälle häuften, war es selbst aus dem noch höher fliegenden Hubschrauber der Geschäftsleitung nicht länger zu übersehen, dass es da Verwerfungen gab im großen Ganzen. Frau Schön wurde deshalb gebeten, dieser Situation bei der Auswahl des nächsten Seminars Rechnung zu tragen und ein Thema zu wählen, das der unerwünschten Entwicklung entgegensteuern würde.

So trafen sich die Manager der Labora im folgenden Jahr zu einem Seminar unter dem Titel: Details nicht aus den Augen verlieren. Zum besseren Verständnis hatte Frau Schön auch diesmal einen Untertitel hinzugefügt. Der Blick des Managers für Feinheiten, stand dort und versprach ein interessantes Seminar. Die Geschäftsleitung konnte sich gemeinsam mit Frau Schön auch diesmal darauf verlassen, dass das Seminar ein Erfolg würde. Ein Paradigmenwechsel war vorhersehbar. Nach zwei Tagen intensiver Vorträge, Rollenspiele und anderer Übungen war allen Teilnehmern klar geworden, dass ein Manager sich den Blick für Details bewahren musste, wenn er nicht plötzliche Überraschungen erleben wollte. Aber natürlich durfte er sich nicht mit zu vielen oder gar mit allen Kleinigkeiten beschäftigen, sondern nur mit den wichtigen. Eine Antwort auf die Frage, wie man als Manager eigentlich erkennt, welche Details wichtig und welche unwichtig sind, war nicht im Seminarpreis enthalten und blieb weitgehend unbeantwortet. In der abschließenden Befragung zur Beurteilung des Seminars führte dies zu leichten Punktabzügen beim praktischen Nutzen, wodurch sich das Gesamturteil geringfügig verschlechterte und nur sehr gut statt exzellent lautete.

Die Mitarbeiter stellten verwundert fest, für welche Kleinigkeiten sich die Manager nach der Rückkehr vom Seminar plötzlich interessierten. Es waren Dinge, die bisher in den Händen der Mitarbeiter bestens aufgehoben waren. Doch nun waren sie unerwarteten Managementeinflüssen ausgesetzt, obwohl da doch nach ihrer Ansicht gar kein Handlungsbedarf bestand. Wer allerdings schon länger bei der Labora beschäftigt war, war mit den Auswirkungen von Managementseminaren vertraut und nahm es gelassen hin. Da war es auch irgendwie naheliegend, dass die Manager nicht nur einfach verstehen wollten, wie all die Details abliefen und zusammenhingen. Details nicht aus den Augen verlieren, hatte das Seminar geheißen und deshalb wollten sie nun mitreden. Immerhin waren sie Manager. Da wollten die Mitarbeiter, in deren Händen die Details bisher bestens aufgehoben waren, nicht länger im Wege stehen und überließen Detailentscheidungen in Zukunft ihren Managern.

Die Manager kompensierten ihre immer noch begrenzte Detailkompetenz durch ihre grenzenlose Durchsetzungskraft und trafen zunehmend fragwürdige Entscheidungen, deren Auswirkungen allerdings lange Zeit verborgen blieben, weil sich niemand für das große Ganze interessierte. Erst als die zunehmende Schieflage der Labora nicht mehr zu übersehen war, bat die Geschäftsführung Frau Schön um die Organisation des nächsten Managementseminars, das doch bitte schon bald stattfinden sollte. Man würde einfach mal vom jährlichen Rhythmus abweichen. Die Sache sei dringend.

Da traf es sich gut, dass Frau Schön gerade ein passendes Angebot von Dr. Trinkaus auf dem Tisch hatte. Fokus hieß der Titel und darunter stand: Der Blick für das Wesentliche. Dieses Seminar würde sich weder um das große Ganze noch um Details kümmern. Vielmehr würde es auf das Wesentliche fokussieren, sagte Dr. Trinkaus, der Frau Schön dieses Seminar aus seinem reichhaltigen Katalog mit Seminarangeboten empfahl. Er könne allerdings auch ein sehr interessantes Seminar anbieten unter dem Titel: Auf das große Ganze kommt es an. Oder wie es vielleicht mit einem Seminar zum Thema Detailkompetenz wäre? Auf Wunsch könne er auch alle drei Themen im Paket als Seminarreihe anbieten – zum Sonderpreis, wie er noch hinzufügte. Das hätte Frau Schön gerne früher gewusst, aber nun ging es ja weder um das große Ganze noch um Details, sondern um den Blick auf das Wesentliche. Dr. Trinkaus würde das Seminar selbst leiten.

Dr. Trinkaus hatte einst ein Studium der Betriebswirtschaftslehre absolviert und entgegen allen Vorhersagen seine Promotion nach vielen Jahren schließlich doch noch abgeschlossen. Gerade so, wie einige Beobachter anmerkten, aber immerhin. In Anbetracht der gezeigten Leistungen hatte sein Professor ihm allerdings schon früh den wohlmeinenden Rat gegeben, sich vom praktischen Management fernzuhalten. Dr. Trinkaus hatte sich deshalb direkt nach seiner Promotion bei einer bedeutenden Unternehmensberatung beworben, die ihn gerne einstellte, weil promovierte Berater ein höheres Honorar rechtfertigten. Die Klienten, die Dr. Trinkaus übernahm, hatten ihn dann allerdings nach ersten Erfahrungen mit seiner Beratungstätigkeit in seiner Idee unterstützt, ein eigenes Beratungsunternehmen zu gründen. Dr. Trinkaus hatte die ermutigenden Worte zu schätzen gewusst und machte sich schon bald selbstständig. Seine Hoffnung, die Kunden, die er bislang beraten hatte, auch für sein eigenes Unternehmen zu gewinnen, erfüllte sich dann aber doch nicht. Das konnte das Geschäft jedoch nicht beeinträchtigen. Im Gegenteil. Mit seiner professionell positiven Grundeinstellung und seinem stets optimistischen und jovialen Wesen gewann er schnell neue Kunden, und es war keineswegs überraschend, dass er schließlich auch bei der Labora Interesse an seinen Seminaren wecken konnte.

Nun stand Dr. Trinkaus selbstbewusst und mit einem optimistischen Lächeln im Trainingsraum seiner noch recht jungen und doch erfolgreichen Dr. Trinkaus Management Akademie. Vor ihm saß das Management der Labora und sah ihn erwartungsvoll an. Herr Ernst als Vertreter der Geschäftsführung hatte bereits ein Grußwort überbracht und einige Minuten referiert. Sein Thema war groß auf der Leinwand hinter ihm zu sehen: Was tun? Was tun! Es war eine überzeugende Aufforderung, die Geschicke der Labora nicht nur aktiv, sondern proaktiv voranzutreiben und dabei den richtigen Fokus zu entwickeln. Denn darauf käme es an. Fokus! So hatte Herr Ernst zum Abschluss seiner Einführung in das diesjährige Managementtraining es noch einmal bedeutungsschwanger auf den Punkt gebracht, und es schien fast so, als würde das Wort in der Dr. Trinkaus Management Akademie widerhallen: Fokus! Fokus!

Nun würde wohl auch der letzte Teilnehmer verstanden haben, dass hier eine kleine Revolution bevorstand. Ein Paradigmenwechsel sozusagen. Ein Wendepunkt in der Geschichte der Labora GmbH. Herr Ernst nutzte die nachdenkliche Stille, die seine Worte hinterlassen hatten, und nahm noch einen Schluck Kaffee, obwohl der doch schon kalt war. Dann übergab er das Wort an Dr. Trinkaus und ging. Er wusste, dass das weitere Training in guten Händen sein würde.

Dr. Trinkaus stand auf, damit ihn jeder gut sehen konnte. Breite rote Hosenträger boten seinen Designerjeans den notwendigen Halt, den ein Gürtel an seinem Bauch nicht gefunden hätte. Er spannte die Hosenträger und ließ sie knallend zurückschnellen. Es war wie der Startschuss zu einem großen Ereignis. An diese roten Hosenträger würden sich alle Teilnehmer auch noch nach Jahren erinnern, sagte er. Sie würden vielleicht vergessen, was er hier vortrage, aber die Hosenträger würden sie für immer in Erinnerung behalten. Das sei ein Beispiel für Fokussierung.

Die Teilnehmer schwiegen beeindruckt. So hatten sie das ja noch gar nicht gesehen. Dr. Trinkaus war zufrieden mit sich und der Wirkung seiner Worte und setzte gleich noch einen drauf. Die Teilnehmer sollten sich ja gar nicht an seine Hosenträger erinnern, sondern an das, was er ihnen in diesem Seminar vermitteln würde. Gerade deshalb sei es so wichtig, richtig zu fokussieren. Man kenne das ja vom Fotoapparat. Das hätte ja sicherlich jeder schon mal erlebt, wenn er ein Bild von seiner Liebsten gemacht hat. Wenn man da nicht aufpasse, sei die Landschaft scharf und die Liebste völlig unscharf. Dr. Trinkaus wusste, wie sehr ein Lacher am Anfang zum Erfolg eines Seminars beitrug, selbst wenn danach nicht mehr viel kam. Frau Schön lachte am lautesten. Toll, wie der das Seminar gestaltete. Sie war zufrieden mit ihrer Entscheidung für diesen Trainer. Oder hatten die Teilnehmer etwa nur aus Höflichkeit gelacht? Womöglich so, wie sie es auch taten, wenn ihre Bosse versuchten, mal einen Witz zu machen?

Fokus, sagte Dr. Trinkaus und machte damit klar, dass es nun zur Sache gehen würde. Fokus, das komme aus dem Lateinischen und habe ursprünglich nichts anderes bedeutet als häuslicher Herd. Das sei also die Stelle, wo’s brenne. Und dafür müsse ein Manager einen Blick entwickeln, indem er seine Aufmerksamkeit auf Schwachpunkte und Verbesserungspotenziale fokussiere, damit da gar nicht erst etwas anbrenne. Wie man das mache, das würden die Damen und Herren Manager in diesem Training lernen. Ach ja, Training. Dazu fiel Dr. Trinkaus auch etwas ein. Training käme ebenfalls aus dem Lateinischen. Einst habe es bedeutet, dass man eine Pflanze dazu bringe, sich in der gewünschten Form zu entwickeln. Im Training wird man also zurechtgestutzt, fügte er hinzu und hatte sich damit einen weiteren Lacher gesichert. Frau Schön sah nacheinander in die Gesichter der Teilnehmer und war zufrieden. Ja, das Training entwickelte sich gut. Allerdings hätten die Teilnehmer nun doch gerne mal gewusst, was denn nun eigentlich so bemerkenswert am Fokus sei, dass man damit einen ganzen Tag füllen könne.

Fokus, begann Dr. Trinkaus noch einmal, Fokus sei ein Ausdruck von Aufmerksamkeit. Wer schlafe sei alles andere als aufmerksam. Nur wenn man wach sei, könne man aufmerksam sein. Dann stelle sich allerdings die Frage, worauf man seine Aufmerksamkeit fokussiere. Da könne man völlig entspannt vor sich hin träumen oder aber die Aufmerksamkeit ganz gezielt auf etwas richten. Das könnten Kleinigkeiten sein ebenso wie die große Linie. Das sei die hohe Kunst des Managements, die Aufmerksamkeit richtig zu fokussieren. Fokussieren wiederum bedeute, Ablenkungen auszublenden.

Woher man denn eigentlich wisse, worauf man am besten fokussiere, wollte einer der Teilnehmer wissen. Darauf hatte Dr. Trinkaus eigentlich erst später eingehen wollen, aber nachdem die Frage nun im Raum stand, wolle er sie doch schon einmal in den Fokus rücken. Was denn die anderen Teilnehmer dazu sagen würden? Man könne das ja mal diskutieren, denn das sei eine ganz entscheidende Frage.

Nun ja, meldete sich einer der Teilnehmer zu Wort, worauf man die Aufmerksamkeit richten müsse, würde letzten Endes von der Geschäftsleitung entschieden. Man müsse da allerdings aufpassen, dass man keinen Tunnelblick entwickelte, sagte ein anderer. Denn das sei eine große Gefahr. Aber deswegen hätte die Labora ja ein Mission Statement. Beste Qualität zum Wohle unseres Unternehmens, der Kunden und der Mitarbeiter zu bieten, darum ginge es. Das könne man im Internet nachlesen. Und darauf müsse man fokussieren. Frau Schön nickte, wollte den Beitrag aber noch ergänzen und verwies darauf, dass die Labora nicht nur ein Mission Statement, sondern auch ein Vision Statement habe. Das müsse man im Kontext sehen, denn die Vision sei vielleicht noch weitreichender als die Mission. Es sei die Vision der Labora, dass sie zum Marktführer bei Inspirationen und Innovationen werden wolle. Da könne man ja keinesfalls von Tunnelblick sprechen. Das sei ja eher – um mal in der optischen Terminologie zu bleiben – ein Weitwinkelobjektiv, das leicht zu fokussieren sei. Obwohl man auch da nicht die Gefahr unterschätzen dürfe, dass das Bild am Ende unscharf würde.

Dr. Trinkaus meinte, dass man dies vielleicht alles am besten erklären könne, wenn man sich einmal mit der Struktur des menschlichen Gehirns beschäftige. Denn worauf sich die Aufmerksamkeit richtete, worauf man also fokussiere, das sei das Ergebnis komplexer Gehirnfunktionen. Manche Dinge würden im Gehirn unbewusst ablaufen, andere hingegen würden bewusst gesteuert. Man müsse deshalb verstehen, wie das alles verdrahtet sei, sagte er und begann einen längeren Vortrag über das Gehirn. Er sprach von 100 Milliarden Neuronen und noch viel mehr Synapsen, die das alles miteinander verbinden. Er hatte ein paar Ansichten vom Gehirn mitgebracht – seitlich, von unten und auch halbiert – und verwies auf die einzelnen Bereiche und wofür sie zuständig seien. Begriffe wie Neokortex, Frontallappen, Ganglien oder Amygdala gingen ihm locker über die Lippen.

Dr. Trinkaus konnte ziemlich sicher sein, dass ihm bei seinem abenteuerlichen Ausflug in die Neuropsychologie niemand ernsthaft widersprechen würde. Er selbst hatte sich ein paar Dinge mühsam angelesen und einige Fachbegriffe auswendig gelernt. Warum sollten also seine Zuhörer mehr davon verstehen? Außerdem hatte er als Unternehmensberater frühzeitig gelernt, auch Dinge zu vermitteln, von denen er selbst nichts verstand. Hier ging es nicht um Wissen, hier ging es um Rhetorik. Und die Rhetorik ließ es in diesem Kreis kaum zu, dass Verständnisfragen gestellt würden. Nein, Dr. Trinkaus wusste nur zu gut, dass Manager nur dann Fragen stellten, wenn sie beweisen wollten, dass sie es selbst viel besser wussten.

Damit nun aber die Betrachtungen der Gehirnfunktionen nicht zu abstrakt blieben, hielt Dr. Trinkaus praktische Ratschläge bereit, wie man seinen Fokus schärfte. Er hatte lange überlegt, wie viele Ratschläge er in seiner Präsentation geben sollte, und sich schließlich für sieben entschieden. Die Sieben hatte die nötige Symbolkraft. Das kannte man ja von den sieben Zwergen, den sieben Weltwundern und den sieben Wochentagen. Sieben Dinge konnten sich die meisten Menschen gerade noch merken. Dazu gab es Studien, darauf konnte man bauen. Und deshalb hielt Dr. Trinkaus sieben Ratschläge bereit, die beim Fokussieren helfen sollten. Zwar hätte es sich bei einigen Ratschlägen angeboten, sie zusammenzufassen, aber dann wären es nicht sieben geworden, denn weitere Ideen waren ihm nicht gekommen. Immerhin hatte er schon mal ein Konzept für ein Buch entwickelt, das sich mit diesem Thema ausführlicher beschäftigen würde. Fokus – die sieben Geheimnisse, so würde er es nennen. Er hatte auch schon Kontakt zu einem Verlag aufgenommen.

Entscheide selbst, was du für wichtig hältst. So lautete seine erste Maxime. Und dann: Lass dich nicht ablenken. Das leuchtete ebenfalls ein und auch der dritte Ratschlag überzeugte: Iss regelmäßig, denn ein leerer Magen lenkt ab. Da lag der vierte Ratschlag nahe: Iss nicht zu viel, denn ein voller Magen macht müde. Bleib entspannt und höre auf Deine innere Stimme, lauteten die nächsten beiden Ratschläge. Und schließlich der siebte Rat: Durchsetzungskraft entwickeln. Das leuchtete ein. Allerdings wurde das auch bisher schon von jedem Manager erwartet.

Aus diesen praxisorientierten Ratschlägen entwickelte sich schnell eine lebhafte Diskussion. Dazu konnte jeder Teilnehmer ein paar Beispiele aus seinem eigenen Erfahrungsschatz beitragen. Dr. Trinkaus schrieb wichtige Stichwörter an die Tafel, malte Kreise darum und dokumentierte Zusammenhänge mit dicken Pfeilen. Besonders wichtige Beiträge markierte er mit rotem Stift und dickem Ausrufezeichen. Und über allem stand in großen Buchstaben: Fokus! Ja, es war nicht zu übersehen, dass er sein Handwerk verstand.

Die Teilnehmer notierten die Ratschläge und Anmerkungen und waren begeistert, dass das Seminar so viel praktischen Nutzen bot. Das hatten sie Frau Schön zu verdanken, die darauf geachtet hatte, dass das Seminar praxisorientiert sein würde. Diese Ratschläge würde nun jeder in der täglichen Arbeit umsetzen müssen. Das würde so etwas wie eine Exzellenzinitiative innerhalb der Labora. Damit würden Exzellenzcluster geschaffen, die sich zur Keimzelle völlig neuer Qualitäten entwickelten. So würde sich aus Fokus schließlich Exzellenz entwickeln. „Exzellenz durch Fokus“, schrieb Dr. Trinkaus an die Tafel und unterstrich es doppelt. Diese Erkenntnis solle jeder mit nach Hause nehmen, dann befände sich die Labora GmbH auf einem guten Weg. Er würde die Labora gerne weiterhin auf diesem Weg mit Seminaren begleiten, sagte Dr. Trinkaus an Frau Schön gewandt. Er hätte da noch einige interessante Vorschläge, über die man vielleicht mal sprechen sollte.

Als die Manager der Labora GmbH am nächsten Morgen an ihre Schreibtische im Büro zurückkehrten, überlegten sie im Stillen, worauf sie denn wohl am besten ihren Fokus richten würden. Einer von ihnen hatte da eine Idee. Wie wäre es denn, dachte er sich, wenn man einfach mal all die obskuren Weisheiten und Ratschläge der Berater vergaß und sich auf sein Selbstvertrauen besann? Fokus auf Selbstvertrauen sozusagen. Er hatte ja recht klare Vorstellungen davon, worauf es in seiner Position ankam. Und er glaubte, seine Stärken und Schwächen zu kennen. Er müsste sich ja nur mal mit seinem eigenen Arbeitsbereich voller Neugier und zugleich kritisch auseinandersetzen, dann würden ihm da schon eine Menge Ideen kommen. Auch wenn die Arbeit delegiert war, so hatte er ja immer noch die Verantwortung. Die ließ sich nicht delegieren. Und deshalb wäre es gut, wenn er die Arbeitsprozesse verstehen und seinen Fokus auf die Mitarbeiter und alle anderen richten würde, von denen auf die eine oder andere Art der Erfolg seines Bereichs abhing.

Wo er gestern noch skeptisch gewesen war, war er nun überzeugt, dass ihm das Seminar die Augen geöffnet hatte. Er spürte geradezu so etwas wie Lust am Selbstvertrauen. Einfach mal all diese Consultants mit ihren Patentrezepten und Allheilmitteln vergessen und sich auf die eigenen Stärken besinnen. Warum eigentlich nicht?

Er spürte eine ungewohnte Leichtigkeit, die seine Gedanken beschleunigte. Fokus! Das war’s. Fokus auf die eigenen Fähigkeiten. Das fügte der Diskussion von gestern eine ganz neue Dimension hinzu. Er würde dies gerne seinen Kollegen vermitteln. Nein, nicht nur den Kollegen. Er würde ein Buch darüber schreiben und sich mit diesem Gedanken selbstständig machen. Eine Management Akademie gründen und diesen Gedanken als Trainer vermitteln. Er sah da einen erheblichen Markt. Und eine passende Farbe für die Hosenträger würde er sicherlich auch finden. Er hatte da schon eine Idee.

Inkompetenzkompensationskompetenz

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