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Schopenhauer

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Am nächsten Tag fuhr Karl mit dem Zug nach Frankfurt am Main, wo er seinen Freund Arthur besuchen wollte, der eine wunderschöne Wohnung direkt am Mainufer gegenüber der Maininsel hatte. Sie hatten sich viele Jahre nicht gesehen und Karl verspürte das dringende Bedürfnis, mit ihm über dessen zweite Betrachtung ‚Bei erreichter Selbsterkenntnis Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben‘ zu diskutieren. Karl liebte es, mit Arthur und dessen Pudel stundenlang am Main spazieren zu gehen und zu philosophieren.

Sie waren seit vielen Jahren miteinander befreundet, obwohl ihre Weltanschauungen vollkommen unterschiedlich waren; während Karl der Meinung war, dass die Philosophen die Welt immer nur unterschiedlich interpretiert hätten, es aber darauf ankäme, die Welt zu verändern, war Arthur ein Philosoph durch und durch, der eben genau der Meinung war, dass die Philosophie immer nur theoretisch sein könne: ‚Die Philosophie kann nirgends mehr thun, als das Vorhandene deuten und erklären, das Wesen der Welt‘. Karl will also eine neue Welt schaffen, während Arthur die Welt nur verstehen will.

Im Gegensatz zu Karl, der ja sieben Kinder gezeugt hatte, von denen jedoch leider nur drei überlebt hatten, war Arthur ein Einzelgänger, der die Ehe sogar verabscheute, denn er war der Meinung, ‚Heiraten heißt das Mögliche thun, einander zum Ekel zu werden‘. Auch seine grundsätzlichen Anschauungen über die Frau zeugen nicht gerade von einer positiven Einstellung, wenn er die Frau als ‚sexus sequior‘ bezeichnete, die ‚bloße Aefferei, zum Behuf ihrer Gefallsucht‘ ausübe, selbst die Liebe beruhte seiner Meinung nach ausschließlich auf dem Geschlechtstrieb. Arthur liebte seinen Pudel mehr als die Menschen, genauer gesagt, das Wesen seines Pudels, denn wenn sein Hund starb, war er nicht besonders traurig, sondern er kaufte sich einen neuen Hund und war überzeugt, dass das Wesen seines Pudels ewig existiere. Wenn sein Hund gelegentlich nicht gehorchte und weglief, dann beschimpfte Arthur ihn mit den Worten ‚Du Mensch!‘.

Einig waren sich Karl und Arthur eigentlich nur in der Überzeugung, dass es nichts Übersinnliches gebe, also Begriffe wie ‚das Absolute‘, ‚das Unendliche‘, ‚der Urgrund‘ lehnte er vollkommen ab und bezeichnete dies als ‚Gefasel‘ und als ‚Wolkenkuckucksheim‘. Nach seiner Überzeugung gab es in dieser Welt weder ein ‚Woher‘, noch ‚Wohin‘, noch ‚Warum‘, sondern ausschließlich ein ‚Was‘, das nach dem ewig gleichen Wesen der Welt fragte und dieses ewig gleiche Wesen war für ihn der ‚Wille‘ oder auch der ‚Wille zum Leben‘, was für ihn absolut identisch war, und die sichtbare Welt war für ihn nur ein ‚Spiegel des Willens‘, sodass auch das Individuum nur eine vorübergehende Erscheinung des Willens zum Leben ist: Es kommt aus dem Nichts und kehrt durch den Tod in das Nichts zurück, ohne dass sich dadurch an dem Willen zum Leben irgendetwas ändern würde. Raum, Zeit und Kausalität sind lediglich die Bedingungen unter denen der Wille zum Leben sichtbar wird, ohne dass Geburt und Tod, also diese Individuation des Willens zum Leben in irgendeiner Form den Willen selbst berühren würde, da es der Natur vollkommen egal ist, ob ein Individuum stirbt oder nicht.

Karl fuhr mit dem Intercity bis zum Frankfurter Hauptbahnhof, wo er in den Regional-Express zum Ostbahnhof umstieg und von dort nahm er ein Taxi in die Schöne Aussicht, wo Arthur wohnte. Nachdem er mehrmals vergeblich bei Arthur geklingelt hatte, sah er ein, dass es wohl doch besser gewesen wäre, seinen Besuch anzukündigen. Doch da es noch früh am Nachmittag war und die Sonne vom Himmel strahlte, schlenderte er über die Alte Brücke hinüber zum Portikus, der Ausstellungshalle der Frankfurter Städelschule auf der Maininsel; er hatte gehört, dass dort eine kanadische Künstlerin namens Hajra Waheed eine beeindruckende Klanginstallation eingerichtet hatte.

Schon beim Betreten des Portikus wurde klar, dass es sich hier nicht um eine gewöhnliche Ausstellung handelte, denn Karl wurde gebeten, seine Schuhe auszuziehen; der unmittelbare Kontakt zu dem weichen Teppich, verbunden mit den wunderschönen mysteriösen Klängen, versetzte ihn sofort in eine andere, eine sakrale Welt. Aus den von der Decke hängenden Lautsprechern ertönten die Stimmen von Frauen und Männern, die die einzelnen Melodien summten, doch obwohl auf diese Weise eine himmlische Atmosphäre geschaffen wurde und Karl sich deren Schönheit nicht entziehen konnte, war sehr schnell klar, dass es hier durchaus um gesellschaftliche Probleme ging, um Unterdrückung und Widerstand, genau das Thema, mit dem Karl sich sein Leben lang beschäftigt hat.

Es handelte sich um kurdische Volkslieder, die daran erinnerten, dass Menschen in der Türkei für Jahrzehnte ins Gefängnis kamen, nur weil sie sich bei öffentlichen Auftritten ihrer Muttersprache bedient hatten. Es ging um die Rohingya in Myanmar, denen man die Staatsbürgerschaft verweigert und die deshalb Unterdrückung und Verfolgung ausgesetzt sind, sodass sie sich ständig auf der Flucht befinden und der Internationale Gerichtshof in Den Haag sogar von Völkermord gesprochen hat. Es ging um die Bürgerbewegungen in der arabischen Welt genauso wie um pakistanische und sudanesische Revolutionsdichter und Sänger.

Karl hatte den Eindruck, sich in einer anderen Welt zu befinden und diese Klänge vermittelten ihm das Gefühl, dass es eine andere Möglichkeit geben könnte, eine Welt, in der Frieden und Gerechtigkeit herrschte, eine humane Welt, die nicht von Gewalt, Brutalität, Schmerz und Unterdrückung geprägt war. Auch wenn er das Wort in seinen von Sachlichkeit geprägten politischen und wirtschaftlichen Analysen nicht sehr schätzte, so hatte er doch in dieser harmonischen Atmosphäre das Gefühl, dass die Liebe eine Chance verdient hatte, dass es vielleicht doch die Möglichkeit gab, all das Hässliche in der Welt zu überlieben.

Eine ganze Stunde war Karl schon gedankenverloren durch diese Klanginstallation geschwebt, als er glaubte, in diesen sphärischen Klängen seinen Namen zu hören, erst ganz leise, so als gehörte er zu diesen Klängen, doch allmählich wurde die Stimme immer lauter, sodass er schließlich aus seinen Träumen in die reale Welt zurück geholt wurde; er drehte sich um und konnte es kaum fassen: hinter ihm stand sein Freund Arthur, der genau wie er selbst außerordentlich überrascht war, hier so unvermittelt auf seinen Freund zu treffen. Nach einer kurzen von körperlicher Distanziertheit geprägten Begrüßung verließen sie gemeinsam den Portikus, denn in diesen heiligen Hallen waren Unterhaltungen natürlich nicht erwünscht.

Nachdem Karl und Arthur gemeinsam einen Spaziergang am Main entlang gemacht und anschließend in einem nahe gelegenen Restaurant zu Abend gegessen hatten, verbrachten sie den Rest des Abends bei einem Glas Wein in Arthurs Wohnung.

„Ich habe dir ja schon bei unserem letzten Treffen erklärt, dass ich der Überzeugung bin, dass nur der Spiegel des Willens, also die sogenannte reale Welt dem Gesetz vom vierfachen Grund unterworfen ist, nicht aber der Wille selbst; die Erscheinung des Willens ist eine Individuation unter den Bedingungen von Raum, Zeit und Kausalität. Diese Realität gibt es allerdings nur in der Gegenwart, denn noch nie hat ein Mensch in der Vergangenheit gelebt und es wird auch niemals ein Mensch in der Zukunft leben, Leben findet immer nur in der ausdehnungslosen Gegenwart statt. So wie dem Willen das Leben, so ist dem Leben die Gegenwart vollkommen sicher, Leben bedeutet Gegenwart ohne Ende, ich zitiere aus meinem letzten Aufsatz: ‚Wen daher das Leben, wie es ist, befriedigt, wer es auf alle Weise bejaht, der kann es mit Zuversicht als endlos betrachten und die Todesfurcht als eine Täuschung bannen, welche ihm die ungereimte Furcht eingibt, er könne der Gegenwart je verlustig werden‘.

Während also die einzelne Erscheinung des Willens zum Leben anfängt und wieder aufhört, bleibt doch der Wille zum Leben an sich davon unberührt, er ist zeitlos und der Tod hebt lediglich die Täuschung wieder auf, die die Individuation von dem Willen an sich trennt.“

„Mein lieber Arthur, wenn das stimmen würde, was du da sagst, dann gäbe es ja gar keine historische Entwicklung und es wäre für den Einzelnen auch vollkommen sinnlos, seine Zukunft zu planen und das kann ich auf gar keinen Fall akzeptieren. Du warst doch auch gerade in der Ausstellung im Portikus. Ist dir denn da nicht deutlich geworden, dass es in dieser Welt ungeheure Ungerechtigkeiten gibt, die man auf gar keinen Fall einfach akzeptieren darf; vielmehr, und das haben ja gerade diese revolutionären Dichter und Sänger deutlich gemacht, kommt es darauf an, sich gegen die Unterdrücker in dieser Welt zu wehren und wenn es sein muss, auch mit Gewalt zu wehren. Es ist zwar richtig, dass wir nur in der Gegenwart leben können, aber unser Verhalten in der Gegenwart bestimmt unsere Zukunft, die wir eines Tages als Gegenwart erleben werden.“

„Es kommt nicht auf irgendwelche gesellschaftlichen Veränderungen an, sondern darauf, mein eigenes Wesen anhand meiner Individuation zu erkennen und zu bejahen und also den vorher ohne Bewusstsein existierenden Willen zum Leben durch die Erkenntnis zu bereichern und mein Leben als von mir gewollt zu betrachten, sodass der blinde Drang nun durch Bewusstheit ersetzt wird. Wenn jedoch nach der Erkenntnis das eigene Wollen endet, so handelt es sich um die Verneinung des Willens zum Leben, mit anderen Worten, der Wille ist vollkommen frei, sodass er auch die Möglichkeit hat, sich selbst aufzuheben.“

Wie ich bereits sagte, hat in der Natur, in der Welt der Erscheinung alles einen Grund und eine Folge, es gilt uneingeschränkt der Satz vom Grunde, da der Wille zum Leben, also das Ding an sich, gar nicht in Erscheinung tritt, ist er auch nicht dem Satz vom Grunde unterworfen, er kennt weder Grund noch Folge, für ihn gibt es absolut keine Notwendigkeit, sodass er vollkommen frei ist, denn die Freiheit ist ja nichts anderes als das Nichtvorhandensein einer Notwendigkeit, wie ich auch geschrieben habe ‚Jedes Ding ist als Erscheinung, als Objekt, durchweg nothwendig: dasselbe ist AN SICH Wille, und dieser ist völlig frei, für alle Ewigkeit‘.

Einzig und allein der Mensch ist unter allen Erscheinungen des Willens zum Leben von einem so hohen Grad an Erkenntnis geprägt, dass er eine absolute und reine Spiegelung des Wesens der Welt darstellt. Aber er ist sich bewusst, dass er als endliches Individuum sich in einem unendlichen Raum und einer unendlichen Zeit befindet, sodass die Erkenntnis seines Wesens immer nur relativ und niemals absolut sein kann: ‚sein Ort und seine Dauer sind endliche Theile eines Unendlichen und Gränzenlosen. – Sein eigentliches Daseyn ist nur in der Gegenwart‘.“

„Es tut mir leid, mein lieber Arthur, aber hier kann ich dir auf gar keinen Fall folgen, denn deine letzten Ausführungen kommen mir jetzt doch zu sehr in die Nähe des Religiösen und du weißt ja, dass ich die Religion einmal als Opium fürs Volk bezeichnet habe und dieser Überzeugung bin ich nach wie vor.

In unserer modernen Gesellschaft haben sich die Produktionsmittel in wenigen Händen konzentriert, wohingegen die Produktionskräfte, die den Mehrwert erzeugen und für wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt sorgen, einzig und allein in den Händen der Arbeiter, des Proletariats liegen. Der moderne Arbeiter kann jedoch nur so lange leben, wie er Arbeit findet, ist also vollkommen abhängig von der Bourgeoisie, der er seine Arbeit stückweise als Ware anbieten muss.

Die Bourgeoisie ihrerseits bezahlt diese Ware jedoch so schlecht, dass die Arbeiter im Vergleich zu ihnen ein elendes Leben führen müssen. Damit die Arbeiter nicht eines Tages ihr Elend gewaltsam beenden, indem sie die Eigentümer der Produktionsmittel enteignen, werden sie von den Herrschenden auf einen Sankt Nimmerleinstag vertröstet, an dem sie angeblich das große Glück erwartet. Die Religion ist also nichts weiter als ein Machtinstrument der Herrschenden zur Unterdrückung des Proletariats.“

„Da hast du vollkommen recht, mein Eigentum ist immer dasjenige, das durch meine eigenen Kräfte bearbeitet wurde und deshalb ist die Ausbeutung der Arbeitskraft des Proletariats in jedem Fall ein Unrecht. Außerdem sprichst du einen anderen wesentlichen Punkt an, mein lieber Karl, nämlich das große Glück, nach dem angeblich alle Menschen streben; das Glück ist aber nichts weiter als die Befriedigung eines Wunsches, also die Beseitigung eines Mangels. Sobald dieser Wunsch erfüllt, also der Mangel beseitigt ist, hört natürlich auch der Wunsch auf zu existieren, sodass das Glück ebenfalls endet. Das Glück ist nichts weiter als die Befreiung von einem Mangel, von einem Schmerz, von einem Leiden, ist immer nur von negativer Natur und kann niemals von Dauer sein. Wenn man das ständige Streben nach Glück insgesamt betrachtet, ist es doch nichts weiter als nur ein Trauerspiel.

Aber ich möchte noch einmal zurückkommen auf meine Ausführungen über die Bejahung des Willens zum Leben, die natürlich auch die Bejahung des Leibes bedeutet; obwohl das Streben nach Glück immer mit der Beseitigung eines Mangels gleichzusetzen ist, bleibt deshalb dem Individuum doch nichts anderes übrig, als ständig seine Bedürfnisse zu befriedigen. Dazu gehört natürlich auch die Befriedigung des Geschlechtstriebes, wodurch nicht nur die eigene Existenz, sondern das Leben über den Tod des Individuums hinaus bejaht wird, sodass man sagen kann, dass die Genitalien der eigentliche Brennpunkt des Willens sind. Die Befriedigung des Geschlechtstriebes ist also nichts weiter als die Bejahung des Willens zum Leben, wohingegen sexuelle Enthaltsamkeit die Verneinung des Willens zum Leben bedeutet.“

„Jetzt erinnerst du mich doch schon wieder an die Religion, genauer gesagt an den Kirchenlehrer Augustinus von Hippo, diesen Heuchler, der sich den sexuellen Freuden über viele Jahre seines Lebens mit vielen Frauen hingegeben hat, nur um am Ende anderen Menschen diese Freuden zu verbieten, indem er diese natürlichen Freuden des Lebens als Begierlichkeit des Fleisches bezeichnete, die denjenigen Verderben bringt, die sich ihr hingeben. Doch damit nicht genug, er spricht sogar von der Begierlichkeit der Augen, worunter er auch die Erkenntnis und die Wissenschaft versteht.“

„Ja, das sind diese Moralapostel, die für ihre Moral überhaupt keine rechte Begründung haben, und eine solche Moral kann die Menschen auch nicht motivieren, sich daran zu halten. Eine Moral kann nur dann wirken, wenn sie sich an die Eigenliebe des Menschen wendet, aber dann wiederum hat sie überhaupt keinen moralischen Wert; es kommt vielmehr darauf an, dass der Mensch in seinem Gegenüber dasselbe Wesen erkennt wie in sich selbst, deswegen sprechen wir ja auch von Mitmenschen. Wer also seine Mitmenschen behandelt wie sich selbst, der besitzt wahre Tugend.“

„Nun, grundsätzlich kann ich dir da zustimmen, ich würde nur nicht von Tugend, sondern von Solidarität sprechen. Die Arbeiterklasse kann ihr eigenes Elend nur beenden, wenn sie solidarisch miteinander sind und sich gemeinsam gegen die Bourgeoisie auflehnen, um sich das Eigentum an ihrer Arbeitskraft zurückzuholen. Aber ich glaube, wir haben für heute genug philosophiert. Wenn du damit einverstanden bist, würde ich gerne noch ein wenig schlafen, da ich morgen schon sehr früh nach London zurückfliege. Ich verspreche dir, dass ich nicht wieder Jahre vergehen lasse, bis wir uns das nächste Mal wiedersehen. Die Diskussionen mit dir sind einfach immer sehr spannend und ich merke erst jetzt, dass ich sie wirklich vermisst habe.“


Juma

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