Читать книгу Einführung in die Lehre von der Kirche - Ralf Miggelbrink - Страница 10
Оглавление2. Wesensbegriffe von Kirche
a) Die Wende zu einer normativen Ekklesiologie
Die Notwendigkeit eines theologisch-reflektierten Verhältnisses zur faktischen Kirche
Die Frage nach dem Wesen der Kirche könnte auch als die Fragestellung einer normativen Ekklesiologie umschrieben werden. Die Kirche begegnet zunächst als Gegebenheit, als Faktum, als historische Wirklichkeit. Christen finden sich immer schon in einer Beziehung zur Kirche, ja, ihr Christsein und Christwerden hängt ursprünglich in irgendeiner Weise mit irgendeiner Gestalt von Kirche zusammen. Insbesondere das katholische Denken betont die enge, genetische Verbindung zwischen dem Christsein und der Wirklichkeit der Kirche: Wer richtete denn das Wort Gottes den Menschen aus? Durch wen träte Gott in Zeichen und Gesten ihnen nahe? Wer trüge das Wort Gottes durch die Jahrhunderte, wenn nicht irgendeine Form von Kirche? Das protestantische Denken begegnet dieser Einschätzung mit Skepsis. Die Kirche ist ihm eine gegenüber dem persönlichen Glaubensakt immer sekundäre Größe. Der Glaubensakt aber wird ermöglichend getragen durch das ausgerichtete Wort Gottes. Die Kirche ist dann die Versammlung derer, die zum Glauben gekommen sind, ist „congregatio fidelium“. Wo aber wird das Wort Gottes vollmächtig ausgerichtet, wenn nicht in der Kirche? Schließlich drängt sich durch die exegetische Forschung zur Entstehung des Neuen Testamentes unabweisbar die Einsicht auf, dass das Neue Testament zu guten Teilen Glaubensreflexion der christlichen Gemeinde ist, dass der Kirche, zugespitzt gesagt, am Wort Gottes in Zeit und Geschichte eine Ko-Autorschaft zukommt.
Dennoch hat die protestantische Skepsis gegenüber der Kirche eine tiefe Bedeutung. Glaubende begegnen den immer kontingenten Gestalten der Kirche, die als solche keinen absoluten Anspruch erheben können. Insofern in diesen kontingenten Gestalten aber der absolute Anspruch des Gotteswortes ausgerichtet wird, führt die Begegnung mit der konkreten Kirche immer auch dazu, dass diese konkrete Kirche einen Maßstab vermittelt, an dem sie selbst gemessen wird. Als die Botin des Wortes Gottes führt die Kirche immer die Richtschnur ihres eigenen Gemessenwerdens mit sich. So ist sie dem ständigen Gemessen- und Bewertetsein ausgesetzt.
Wo dieses Gemessen- und Bewertetsein aber getragen ist von dem absoluten Maßstab des durch die Kirche ausgerichteten Gotteswortes, ist es niemals Verwerfung der Kirche, die ja gerade im Lichte jener Wahrheit als ungenügend erscheint, für die sie selbst die Augen geöffnet hat. Hier liegt die Wurzel der spezifisch-katholischen Mischung aus Distanzierung von der Kirche und Leiden an der Kirche einerseits und bleibend-treuer Grundsolidarität andererseits. Diese Mischung widerstrebender Motive in der Kirche ist möglicherweise ein Motor ihrer Wandlungs- und Entwicklungsfähigkeit.
Theologische Reflexion begleitet diesen Prozess der Distanzierung in der Grundverbundenheit, indem sie vom normativen Anfang des Christusereignisses nach den Grundnormen des Kircheseins fragt.
Denker des 19. Jahrhunderts und die geistige Dimension der Kirche
Für die katholische Theologie der Nachreformationszeit war die Kirche vor allem innerweltliche, konkrete Institution. Die kontroverstheologische Polemik richtete sich gegen die Verlagerung der Kirche in das Innenleben des Gläubigen, wo sie als geistige Größe ein unsichtbares Leben führt wie die platonischen Ideen. Das geflügelte Wort „ecclesia non est civitas platonica“ besitzt aber eine verräterische Zweischneidigkeit: Das Reich der Ideen ist in der Philosophie Platons nicht nur unsichtbar. Es ist eben auch des Reich der Wesenswahrheiten, die in den Erscheinungen der Wirklichkeit nur unvollkommen zu erkennen sind. Auf die Kirche angewandt bedeutet der Platonismus, dass die sichtbare Kirche ihr unsichtbares Urbild nur unvollständig abbildet, aber dennoch an die geistige Realität der Kirche erinnert und so eine Spur zu ihrer Erkenntnis legt.
Es ist die Philosophie des Deutschen Idealismus, die das Thema des Verhältnisses von geistigem Kern und historischer Erscheinung in der katholischen Theologie wieder aufleben lässt. Der Tübinger Theologe Johann Adam Möhler (1796–1838) entwickelt, beeinflusst von der Philosophie des Deutschen Idealismus, eine Vorstellung von der Identität der Kirche mit sich selbst im geschichtlichen Wandel. Möhler nimmt den geschichtlichen Wandel als Kontext der Kirche radikal ernst. Die Zeitgenossenschaft der Kirche macht sie zum Gesprächspartner vieler geistiger Bewegungen und Strömungen. So ist sie selbst immer in einem Prozess der Angleichung an die geschichtliche Wirklichkeit. Diese Angleichung ist ihr von ihrem Ursprung aus der Menschwerdung Gottes zugemutet. Die Kirche ist keine Größe, die für sich sein soll. Sie soll Anteil gewinnen an der ganzen Menschheit und so ihren Anteil verwirklichen am menschgewordenen Gott. Wie kann aber eine so ins Disparate hinein sich entäußernde Kirche eine und dieselbe sein?
Die Antwort auf diese Frage findet Möhler bei der Erfahrung, dass er die Theologie der Kirchenväter verstehen und aus tiefster Überzeugung bejahen kann. Dem äußeren Prozess einer Tradition der Texte im Abschreiben, Erlernen und Lehren entspricht ein verbindender, innerer, geistiger Prozess, der ein spontanes geistiges Verstehen der Kirchenväter durch den Theologen des 19. Jahrhunderts ermöglichend trägt. Der Heilige Geist ist nicht alleine eine erfahrungsjenseitige, himmlische, innergöttliche Wirklichkeit, sondern erfahrbar als jenes geistige Band, das die Glieder der einen Kirche durch die Jahrhunderte hindurch zusammenbindet zu einem lebendigen Leib. Die Leibmetapher ermöglicht es, Einheit und Verschiedenheit als fruchtbares Zu- und Miteinander zu denken. Diese Tradition als eine lebendige Wirklichkeit, als der sich dem Einzelnen geistig erschließende Sinn der Glaubenslehren, ist der Einheitsgrund der Kirche, nicht die Heilige Schrift, die für sich genommen ohne das Licht des auffassenden Glaubens „ein toter Buchstabe“ wäre (Möhler/97:51). Der Geistesstrom lebendiger Tradition ist großzügig, integrierend und erweist darin seine Katholizität gegenüber den immer auf Abgrenzung und Originalität bedachten Häretikern (Möhler/97:51).
Die Wiederentdeckung von Offenbarung und Gnade im 20. Jahrhundert
Bellarmin und Schrader leiten den Wesensbegriff der Kirche von einem „allgemein menschlichen Verständnis“ sozialer Institutionen ab und vermögen deshalb in der Kirche immer nur zu erkennen, was in menschlichen Staaten und Gesellschaften ohnehin geschieht. Philosophisch entsprechen sie mit diesem Vorgehen einer scholastischen Grundüberzeugung, dass zwischen der geschöpflichen Natur des Menschen und seiner Berufung auf Gott hin kein Widerspruch besteht. In der Theologie des zwanzigsten Jahrhunderts setzt sich jedoch überkonfessionell die Einsicht durch, dass die biblische Offenbarungsgeschichte den natürlichen Menschen in einer erfahrbaren Weise qualitativ über sich hinaus ruft. Dass die Offenbarung die geschaffene Natur überbietet, war auch für die Denker der Neuscholastik fraglos. Sie gingen lediglich davon aus, dass die Gottesunmittelbarkeit des Glaubenden ihm selbst nicht bewusst wird und dass der Glaubende hinsichtlich seines Denkens und Handelns immer ein natürlicher Mensch bleibt. Dem natürlichen Menschen entsprechen natürliche Institutionen mit Gesetzen, Autoritäten, Strafen und allen Strukturen, die sich sowohl in Staaten als auch in Fußballvereinen finden. Die Kirche ist ein vollkommen natürlicher Verein. Ihre Heiligkeit und Gottberufenheit ist eine Realität, allerdings eine erfahrungsjenseitige, von der man nur durch das Wort der lehrenden kirchlichen Autorität hören kann, um diesen Glauben im Gehorsam gegen die Autorität anzunehmen.
Auf evangelischer Seite dachte man seit Friedrich Schleiermacher scheinbar gerade umgekehrt: Im Gefühl findet eine dauernde Offenbarung Gottes statt. Allerdings ist diese Offenbarung auch außerhalb der Kirche allgegenwärtig und findet in allen möglichen menschlichen Kulturleistungen ihre Objektivationen, so dass sich für die Kirche aus diesem geweiteten Offenbarungsbegriff nichts gewinnen lässt. Kirche wird zu einem Phänomen gläubiger Geselligkeit (Schleiermacher/75:4. Rede).
Im Ergebnis liegen die liberale Ekklesiologie des Protestantismus und die neuscholastische Ekklesiologie einander insofern nahe, als beide zu einem säkular bestimmten Begriff von Kirche führen.
Das zwanzigste Jahrhundert führt sowohl evangelischerseits als auch auf katholischer Seite zu einer Wiederentdeckung der Offenbarung als theologischer Grundkategorie. Auf katholischer Seite begreift man, dass die Neuscholastik mit ihrem heimlichen Axiom von der völligen Erfahrungsjenseitigkeit Gottes sich selbst, ohne es zu merken, dem Deismus der Aufklärung angepasst hatte. Auf evangelischer Seite wird Offenbarung von Karl Barth und den Vertretern der Dialektischen Theologie streng unterschieden von der Kulturleistung des Menschen, mit der sie im Gefolge Friedrich Schleiermachers in eins zu fallen drohte. Gott wird wieder gedacht als innergeschichtlich grundsätzlich erfahrbare Realität, dessen Offenbarungen sich streng unterscheiden von dem, was Menschen von sich aus immer schon wissen und wollen. Offenbarung wird wieder denkbar als göttliche Unterbrechung eines rein innerweltlich-menschlichen Betriebes. Damit aber stellt sich der Ekklesiologie die Aufgabe, die innerweltliche Gestalt von Kirche nicht alleine als Institution nach dem Vorbild von Staaten und Vereinen zu denken, sondern als Zeugin eines den normalen Lauf der Dinge unterbrechenden Eingreifens Gottes in Welt und Geschichte.