Читать книгу Einführung in die Lehre von der Kirche - Ralf Miggelbrink - Страница 11
b) Funktionale Kirchenmodelle
ОглавлениеAls funktionale Kirchenmodelle werden hier zwei Grundtypen gegenwärtiger Ekklesiologie und ihrer jeweiligen Herkunftstraditionen vorgestellt, die Kirche ausgehend von ihrer heilsgeschichtlichen Funktion definieren. Es ist kein Zufall, dass die hier vorzustellenden Konzepte eher protestantischer Herkunft sind. Die Kirche ist in der Theologie der Reformation eine gegenüber der Wirklichkeit des Glaubens sekundäre Größe. Als congregatio fidelium finden sich in ihr die zusammen, die zum Glauben an Jesus Christus gekommen sind. Entscheidend für dieses Zum-Glauben-Kommen ist das Wort Gottes, das den Einzelnen in seinem Inneren trifft. Gegenüber diesem eigentlich geheimnisvollen Wirken Gottes und seines Geistes in der Welt ist die Aufgabe der Kirche theologisch weit geringer qualifiziert. Die Kirche ist dem eigentlichen Geschehen von Glaube und Rechtfertigung marginal zugeordnet.
Die Kirche als Trägerin des göttlichen Wortes für die Welt
Kirche unter dem ministerium Verbi Divini
Dem evangelischen Denken liegt es nahe, sowohl die Erfahrbarkeit der Offenbarung als auch ihren Intelligibilitätsüberschuss gegenüber dem, was ohnehin in menschlichen Gesellschaften immer schon geschieht, in dem Begriff „Wort Gottes“ gebündelt zu sehen: Gottes Wort ist als verkündigtes, gepredigtes, in der Heilige Schrift gelesenes die erfahrbare Dimension Gottes. Es wird erfahren als das scheidende Gerichtswort über eine Welt der Sünde und der Verweigerung. Als sein scheidendes Gerichtswort aber ist es zugleich Wort der zugesagten Rettung und Verheißung, der schöpferisch im Menschen erblühenden Kraft. Welches Modell der Kirche wäre vor dem Hintergrund dieser theologischen Logik angemessener als dasjenige der Kirche als der Botin des Gotteswortes für die Welt? Als durch Gottes Wort zusammengeführte Gemeinde sagt sich die Gemeinde in ihrem eigenen Leben dieses richtende und rechtfertigende Wort Gottes zu. So erfährt sie in ihrem eigenen Kreis die Gegenwart und Wirksamkeit des sprechenden Gottes in den Gestalten von Predigt und Sakrament. Dabei legt Christus seiner Gemeinde selbst das ministerium verbi Divini auf. Dieser Dienst verpflichtet sie zu einem ekzentrischen Vollzug ihres Wesens. Kirche erweist sich als die gegenüber Welt ganz andere, indem sie sich als Kirche für die Welt begreift. Aber als Kirche für die Welt definiert sie sich eindeutig als Kirche gegenüber der Welt. Kirche lässt sich von ihrem Herrn bestimmen. Nur als vom Wort Gottes bestimmte kann die Begegnung der Kirche mit der Welt anderes sein als eine anbiedernde Selbstauslieferung an eine Welt, die nicht einfach Gottes gute Schöpfung, sondern immer auch Welt der Selbstbehauptung gegen Gottes Gnade und Liebe ist. Nur als vom Wort Gottes bestimmte kann Kirche für die Welt das für sie so wichtige, rettende, ihr aber zutiefst fremde Erlösungswort zusprechen. In der Auseinandersetzung mit dem II. Vaticanum kritisiert Barth die Vorstellung des Konzils, die Kirche könne in einen Dialog mit der Welt eintreten (Dulles/25:88). Heilsvermittelnd ist die Kirche nicht als dialogisch sich auf die Welt einlassende, sondern als monologisch der Welt Gottes Wort verkündende. Was könnte sie denn von dem Wort der Welt anderes lernen und aufnehmen als Untreue gegenüber dem alleine maßgeblichen Wort Gottes? (KD IV/3, S. 872ff.; E.-W. Wendebourg/108:141–186).
Gottes Wort vor der Ordnung der Welt
Der Gegensatz zwischen Gemeinde und Welt, der hier als das Gesetz des apokalyptischen Ursprungs der Kirche wahrgenommen wird, findet im Gefolge Karl Barths seine politische Entfaltung: Das Wort Gottes an die Welt ist auch in einem politischen Sinne Wort des Gerichtes. Es benennt ungerechte soziale und politische Zustände und ermutigt dazu, die von Gott zugesprochene Rechtfertigung auch gegenüber politischen Strukturen zur Erscheinung zu bringen. Der Begriff der Befreiung verknüpft den Begriff der Erlösung mit dem Gedanken politischer Strukturveränderung und knüpft an das Exodusereignis als Typos göttlichen Handelns an, das beides miteinander verbindet: die politisch-ökonomische Befreiung vom Sklavendienst einerseits und die Befreiung zum Gehorsam gegen Gottes Leben ermöglichender Weisung andererseits.
Die Verstrickungen von Kirche und Macht
In der befreiungstheologischen Perspektive nimmt die Kirche an sich selbst zunächst ihre eigene Verstrickung in einer Geschichte menschlicher Gewalt und Unterdrückung wahr. Betrachtet man die Ekklesiologien seit der Französischen Revolution unter politischen Kategorien, so tritt ein gestörtes Verhältnis der Kirche zur europäischen Freiheitsgeschichte zu Tage: „Seit den politischen und sozialen Revolutionen in Europa haben die protestantischen und katholischen Kirchen durchweg konservativ optiert und sich im Gesellschaftsprozess als Ordnungsmacht gegen Aufklärung, Emanzipation und Revolution dargestellt. Seit der Französischen Revolution entstanden auf protestantischer wie auf katholischer Seite in reicher Fülle politische Ekklesiologien, die alle meist antirevolutionär, antirationalistisch und antidemokratisch das apokalyptische Tier aus dem Abgrund bändigen wollten und dafür die Kirche aufboten.“ (Moltmann/33:29)
Mit dem Erwachen einer eigenen, postkolonialen Theologie in den Ländern Lateinamerikas entsteht eine neue Sensibilität dafür, wie sehr koloniale Unterdrückung und missionarische Ekklesiologie miteinander verstrickt waren.
Für die Identitätssuche der Kirche in der Treue zum befreienden Handeln Gottes in der Geschichte ist die Erkenntnis ihrer eigenen Schuldgeschichte wichtig. Papst Johannes Paul II. rezipiert diese Einsicht, indem er in der Bulle „Incarnationis mysterium“ zu einer „Reinigung des Gedächtnisses“ als „Befreiung des individuellen und kollektiven Gewissens [der Kirche, R. M.] von allen Formen des Ressentiments und der Gewalt“ (Müller/122:5) aufruft und sich selbst in einer liturgischen Versöhnungsfeier zum ersten Fastensonntag 2000 darum bemüht.
Politische Zielsetzungen der Kirche reflektieren
Die neuere „Politische Theologie“ im Anschluss an Johann Baptist Metz und Jürgen Moltmann fordert, dass die immer im kirchlichen Denken und Handeln vorhandene Dimension des Politischen im Lichte des Wortes Gottes kritisch reflektiert wird. Die Kirchen müssen lernen, auch ihr politisches Handeln vom Evangelium her bestimmen zu lassen.
Johann Baptist Metz erarbeitet als Kategorien einer solchen historisch bewussten, politisch sensibilisierten kirchlichen Selbstvergewisserung in „Geschichte und Gesellschaft“: Erinnerung, Erzählung und Solidarität (Metz/221:161–212).
Die lateinamerikanische Befreiungstheologie benennt ein trennschärferes Kriterium kirchlich-politischer Urteilsbildung. Mit der Zweiten Generalversammlung des lateinamerikanischen Episkopats in Medellin (24. 8.– 6. 9. 1968) wird es zum politisch-praktischen Leitfaden kirchlicher Theoriebildung und Praxis: Von ihrem biblischen Ursprung her ist die Kirche verpflichtet zur „Option für die Armen“. Das heißt, sie analysiert politische und gesellschaftliche Prozesse aus einer Haltung der Parteilichkeit für diejenigen, die in ihren Entwicklungsmöglichkeiten durch die herrschenden Macht- und Wohlstandsverhältnisse benachteiligt wurden (Gutiérrez/235: 297–311; Magaña/8: 244–252; Concilium 22 (1986) Heft 5).
Messianische Ekklesiologie
Die neuere Politische Theologie im Anschluss an Jürgen Moltmann und Johann Baptist Metz hat die apokalyptische und messianische Dimension des christlichen Glaubens wieder in das Bewusstsein gerückt: Für Johann Baptist Metz bedeutet die praktische Orientierung an der Apokalyptik die Notwendigkeit, kirchliche Praxis auf ihren ersehnten Untergang im Aufgang des Gottesreiches auszurichten. Es kann nicht darum gehen, kirchliche Institutionen auf Dauer und Stabilität hin zu errichten. Kirche ist vielmehr als Störfaktor in der positiven Zukunftsausrichtung der Menschen relevant. Beim faszinierten Blick der Wirtschaftsplaner auf Wachstumskurven stört die Kirche mit ihrem Wissen, dass Heil nach ihrem biblischen Wissen nicht das Resultat von innerweltlichen Entwicklungen oder Revolutionen ist, dass Heil vielmehr nur erhofft werden kann als die Qualität, die aus dem ganz Anderen der Wirklichkeit Gottes diese Welt treffen wird.
Wo sich ein solches Denken der Unverfügbarkeit des Heils in der Geschichte entwickelt, bietet sich ihm die Assoziation mit dem jüdischen Messianismus an. Im Messianismus hält sich seit den Zeiten der Makkabäerkriege das Wissen um den Unheilscharakter der Welt und darum, dass Heil nur von Gott zu erwarten ist. Im Theologoumenon der Parusie, der Wiederkehr des Auferstandenen in Herrlichkeit, hat der jüdische Messianismus eine positive christliche Rezeption erfahren. Christen erwarten das endgültige Heil der Geschichte als die Ankunft des Messias, die seine Wiederkunft ist.
Praktisch bedeutet ein solcher Messianismus die Verweigerung gegenüber allem politischen und ökonomischen Denken, das den Sinn von Geschichte und Gesellschaft an Entwicklungsprozesse bindet. Messianismus ist die Befreiung zum Realismus. Er ist aber auch Befreiung zu Solidarität und zur Option für die Armen, weil er nicht nur intellektuell von der Notwendigkeit der Lüge entlastet, die realen Zustände als positiv oder doch zumindest entwicklungsfähig wahrzunehmen. Diese Lüge hat eine unausweichliche praktische Konsequenz: Die Opfer, die Verlierer, die Benachteiligten müssen um ihrer Plausibilität willen ausgeblendet werden. Solche Verweigerung der Wahrnehmung tendiert zur Gewalt, zu den verschiedensten Formen der Beseitigung dessen, was das selbst verfertigte Bild einer heilvoll sich entwickelnden Zukunft stört.
Politische Theologie bedeutet aber nicht einfach notorische Spielverderberei: Sie muss sich praktisch absetzen von einer postchristlichen, negativen Apokalyptik, für die die Sinnlosigkeit der Geschichte, Gesellschaft und des einzelnen Menschenlebens eine Banalität ist, die dazu auffordert, die kurze Zeit des sinnlosen Erdendaseins schmerzlos zuzubringen. Gegen solch leere, sinnlose Apokalyptik „[…] muss der Mut zum eigenen Leben in seinen engen Grenzen und zur eigenen Lebensgeschichte in ihren Banalitäten erweckt werden“ (Moltmann/33:309). Dies kann nur da gelingen, wo am Ende dieser sinnlosen Welt nicht die Totalität der Sinnlosigkeit steht, sondern deren Aufhebung im Handeln Gottes an Mensch, Welt und Geschichte. Diese Hoffnung befähigt zum leidenschaftlichen Engagement für die Welt, allerdings nicht in den Bahnen der durch die Welt vorgegebenen Ideale und Teleologien, sondern in einer Art und Weise, die inspiriert ist durch die größere Hoffnung auf ein Reich wirklich universaler Gerechtigkeit, das seinen Glanz nicht aus den Tränen der Unterdrückten bezieht (ebd.).
Sozialform der Kirche als Botin des Wortes
Es ist kein Zufall, dass das Kapitel über die Kirche als Dienerin des göttlichen Wortes gegenüber der Welt mit einer Darstellung der ekklesiologischen Überlegungen Karl Barths begann. Die Bedeutung des richtenden und rechtfertigenden Gotteswortes für den Aufbau der Kirche ist eine genuin protestantische Einsicht, deren Bedeutung allerdings über die konfessionellen Grenzen hinaus reicht. Ihre klassische Gestalt hat sie in der Gemeinde, der das Wort Gottes verkündet wird und deren Mitglieder sich bemühen, es handelnd im Alltag ihres Lebens umzusetzen und bezeugend vor ihrer Mitwelt zu vertreten. Für Luther ist der grundlegende Begriff der Kirche die „Versammlung aller Gläubigen, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden“ (CA, Art. 7 = BSLK 14). Kirche realisiert sich also wesentlich als Gemeinschaft von Menschen, die im Lichte des Evangeliums die Botschaft ihres Gerechtfertigtseins vor Gott als die Mitte ihres Glaubens empfangen und austeilen. In der Gemeinde können Menschen den Glauben finden und sich zu Christus bekehren.
Im lutherischen Sinne bedarf die Ortsgemeinde keines Bischofs, um im Vollsinn Kirche Jesu Christi zu sein (Kirche und Rechtfertigung/180:50).
Diese Konzentration auf die kleine Gemeinde der Christgläubigen als der primären Gestalt von Kirche spiegelt sich in der lateinamerikanischen Basisgemeindenbewegung. Auch hier wird als die konstitutive Wirklichkeit von Kirche das Hören, Verkündigen, Deuten und Umsetzen des Gotteswortes empfunden.
Kirche als Dienerin aller Menschen
Das Konzept der Kirche als Botin des Wortes impliziert die Überzeugung von der Illegitimität des Säkularisierungsprozesses. Diese Überzeugung kommt in sehr verschiedenen Gestalten zum Ausdruck: Bei Karl Barth nimmt sie die Gestalt des fundamentalen Gegensatzes zwischen einer feindlichen Welt und dem Wort Gottes an. In der Politischen Theologie ist es die Gestalt einer differenzierten Kritik politischer Realität im Lichte des Evangeliums. Immer aber tritt das Evangelium mit dem Anspruch auf, Gottes Wort gegenüber der Welt zu sein, das als solches Gehör verdient.
Kirche für andere
Dietrich Bonhoeffer hat mit einer zuvor ungekannten Radikalität die Situation der Kirche in einer säkularen Umwelt bedacht: „Das corpus christianum ist zerbrochen. Der corpus Christi steht einer feindlichen Welt gegenüber.“ (Bonhoeffer/215:115) Er deutet die Situation der Säkularität christologisch: Kann man von der Kirche des Gekreuzigten erwarten, dass sie sich als siegreiche Geschichtsmacht durchsetzt? Oder ist es ihr nicht viel gemäßer, dem Weg zu folgen, den Gott mit seiner Menschwerdung beschritten hat, durch die er sich schließlich „aus der Welt hinausdrängen“ lässt „ans Kreuz“ (Bonhoeffer/216:394)? Gott liefert sich dem Leiden an der Welt aus, um diese Welt in ihrer Weltlichkeit freizusetzen. Und gerade darin lebt er seine eigene, spezifische Herrschaft über die Welt, nimmt er die Welt als seine eigene an (Bonhoeffer/215:217–220). Christen steht es nicht zu, diesem Leiden Gottes an der Welt auszuweichen, indem sie irgendwie nach Dominanz über die Welt trachteten, um die Wahrheit Gottes gegenüber der Welt durchzusetzen, die ja doch Wahrheit des unterlegenen Gottes ist, die sich durch Dominanz gar nicht durchsetzen, sondern nur verfehlen lässt. Jesus wollte keine Herrschaft. Er setzte Gottes Wahrheit in der Welt durch, indem er sein Leben vollendete als „der Mensch für andere“ (Bonhoeffer/216:414). Er lässt sich erreichen nur da, wo Menschen dieser Inspiration folgen: für andere da zu sein, gleichgültig, wie gottfern und verweltlicht Menschen leben. „Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist.“ (ebd. 415). Der Diensthaltung entspricht der Verzicht auf Privilegien und institutionelle Selbstverständlichkeiten wie besoldete hauptamtliche Mitarbeiter.
Die wenigen Skizzen Bonhoeffers zur dienenden Kirche aus seiner Haftzeit in Berlin Tegel haben insbesondere auf die evangelischen Kirchen in der Nachkriegszeit inspirierend gewirkt. Muss nicht tatsächlich, wie Bonhoeffer es vorhergesehen hat, die Wirk-lichkeit Gottes neu erstehen in der Welt, indem die Kirche neu geboren wird aus dem „Beten und dem Tun des Gerechten unter den Menschen“ (ebd., S. 328)? Bonhoeffers Vision kann heute an zweierlei gemahnen: (1) Die Kirche lebt und hat ihre Dauer alleine in der Treue zu dem Herrn in ihrer Mitte, dessen Herrsein Dienen bedeutet, und (2) die Zukunft der Kirche hängt an den Menschen, die sich von Jesus inspirieren lassen. Wo diese beiden Grundeinsichten verfolgt werden, tritt ein letztlich wirklich a-theistisches, übertriebenes Vertrauen in die Kraft des Organisatorischen in der Kirche zurück.