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Über die Paläontologie

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Ich glaube, die meisten Menschen denken, dass ein Schriftsteller sich eigentlich nie darüber Gedanken gemacht hat, sich einer anderen Tätigkeit im Leben zu widmen. Das künstlerische Schaffen hat seinen Ursprung in der Kindheit. Auch wenn der Weg zum Schriftstellerdasein lang und mühselig sein mag, hat der Schriftsteller nie daran gezweifelt, welches eigentlich sein Endziel ist: die Veröffentlichung von Büchern, Dramatik und Lyrik.

Oft ist dies bestimmt auch der Fall. Bei mir ist das jedoch nicht ganz wahr. Ich hatte als junger Mensch für längere Zeit nicht nur eine, sondern zwei Alternativen zur Schriftsteller- oder Dramatikerlaufbahn. Im Alter von siebzehn-achtzehn-neunzehn Jahren habe ich mir noch den Kopf darüber zerbrochen, was ich eigentlich aus meinem Leben machen wollte. Nichts war selbstverständlich.

Ich glaube, ich habe vorher nie öffentlich darüber gesprochen. Aber in der Tat war ich lange Zeit davon überzeugt, dass ich Astronom werden wollte. Nichts konnte meine Phantasie so anregen wie der Gedanke, dazu beizutragen, das Universum mit seinen vielen Rätseln zu erforschen. Das wäre mich eine klare und deutliche querwissenschaftliche Herausforderung: das Weltall zu erforschen war nicht nur eine Frage von Physik, Mathematik und Chemie, es ging mir genauso viel um Philosophie und Theologie. Was dann alles zusammengebunden hat, war der vielleicht wichtigste Bestandteil der wissenschaftlichen Kreativität: die Phantasie.

Die Astronomie war die Lehre vom Ursprung. Bei ihr ging es um die zwei größten Fragen von allen: wie hat denn alles angefangen und wie wird es enden? Ich fragte mich, ob ich nicht mein Leben diesen Fragen widmen sollte. Kein Buch, kein Theaterstück könnte wichtiger sein, als sich in die Rätsel des Universums zu vertiefen.

In dieser Zeit war ich immer faszinierter von dem, was man vielleicht als das Gegenteil der Astronomie betrachten kann: Wenn die Suche nach dem Ursprung und den Bausteinen, der Entwicklung und dem endgültigen Tod des Universums die größten Fragestellungen waren, mit denen man sich beschäftigen konnte, war die Paläontologie das Gegenteil. Wo lag der Ursprung des Menschen? Es war das Lebewesen, die Tierart, die ein Gehirn entwickelt hatte, das groß genug war, um sich mit den Fragen zum Universum und zu unserem Platz in der Unendlichkeit beschäftigen zu können.

Ich bin im nördlichen Teil Schwedens aufgewachsen. Die Inspiration zur Astronomie war selbstverständlich und allgegenwärtig: In den funkelnden, klaren, kalten Winternächten sah ich wie die Sterne da oben am Himmel glänzten. Mein Interesse für die Paläontologie wurde dagegen durch Zufall geweckt. Eines Tages stieß ich auf ein Buch, geschrieben von der legendären Familie Leakey und war fasziniert von dem Ausdauer, die diese Menschen zu prägen schien, die nach Knochenfragmenten im Rift Valley suchten und dann versuchten, diese Fragmente in etwas einzufügen, das sich langsam zum Stammbaum des Menschen und seine Wanderungen entwickelte, weg von den Affen und anderen Tierarten.

Ich wurde jedoch Schriftsteller. Als es richtig ernst wurde, als ich um die zwanzig war, gab es kein Zögern mehr. Aber das hat nicht bedeutet, dass ich meine alten Interessen beiseitelegte. Ich habe sowohl Astronomie als auch Paläontologie auf eine durchdachte Weise studiert. Aber immer außerhalb der Universität und wenn ich eben Zeit hatte, in meiner Freizeit kann man sagen. Sich als junger Schriftsteller durchzuschlagen, war nicht einfach. Eigentlich war es erst, als ich über dreißig war, dass ich die Astronomie und die Paläontologie wieder in ernsthafter Weise aufgegriffen habe. Nichts hinderte mich daran, zu versuchen, auf diesen beiden unerhörten Gebieten so etwas zu werden, was ich mit sowohl Ernst als auch Selbstironie »Privatgelehrter« nennen kann. Ich konnte die großen Fragen so schnell oder langsam studieren, wie ich es wollte, ohne vor jemandem ein Examen ablegen zu müssen. Nur zum eigenen Vergnügen.

Heute, mehr als dreißig Jahre nach dem Anfang meines Studiums von Sternen und Knochenresten, denke ich manchmal, dass ich mein Leben in drei Betrachtungsarten eingeteilt habe. Ich habe den Nacken nach hinten gebeugt, um ins Weltall hinauszublicken, ich habe den Kopf zum Boden geneigt, um die Spuren der frühesten Menschen zu entdecken, ich habe den Blick nach vorne gerichtet, wenn ich meine Bücher und Theaterstücke geschrieben habe. In einem physischen, psychischen und nicht zuletzt symbolischen Sinne habe ich in meinem Leben meinen Nacken massiert, und das werde ich bestimmt so weitermachen mein ganzes Leben lang.

Nichts ist doch genau dasselbe wie vor dreißig Jahren. Ich muss gestehen, dass ich heute meinem Interesse für die Paläontologie den Vorrang gebe. Ich habe jedoch nicht aufgehört, ins Weltall hinauszublicken, ich verfolge immer noch die neusten Forschungsergebnisse zur Entstehung des Universums und zum Tod der einmal kommen muss. Ich lese mit großer Faszination von den schwarzen Löchern und schwarzer Materie. Sie scheinen immer noch die größten Rätsel des Universums zu sein. Aber es ist, als gäbe es draußen im Dunklen eine unsichtbare Wand. Als wäre ich an einem Punkt angelangt, wo ich den Eindruck habe, dass ich ganz einfach nicht in der Lage bin, mehr von der grundlegendsten Frage von allen zu verstehen: Was gab es, bevor es überhaupt etwas gab.

Auf gleiche Weise ist es nicht mit der Paläontologie. Da sind die Fragen greifbarer. Ein Fossil ist ein Fossil, ein Knochenstück ist ein Knochenstück, ein Zahn ist ein Zahn. Es ist, als hätte ich in diesem späteren Teil meines Lebens ein immer größeres Interesse für das erworben, was uns zu Menschen macht. Was sind es für physische und chemische Prozesse in unseren Gehirnen, die dazu geführt haben, dass wir dieses wunderbare Denkvermögen haben, das kein anderes Tier beherrscht.

Bertolt Brecht schrieb in einem seiner Gedichte über »angenehme Beschäftigungen« im Leben. Das Gedicht besteht eigentlich aus einer langen Liste. Hoch oben auf dieser Liste steht das Wort »denken« als Beispiel für einen großen menschlichen Genuss. Da hat er völlig Recht. Das Denkvermögen unterscheidet unsere Art von anderen Tieren. Meine Katze kann sich ihren eigenen Tod nicht vorstellen. Sie lebt nur dahin und stirbt dann einfach. lch kann jedoch diese Sterblichkeit sehen, ich kann das Ende meines Lebens sehen, und ich kann mir darüber Gedanken machen, was ich aus meinem Leben mache. Gleichzeitig kann ich mich in der Welt umblicken, die großen Tiere in der afrikanischen Savanne oder das Gewürm an einem Baum irgendwo in einem schwedischen Wald, und ich denke dabei: Eine Sache vermag ich im Gegensatz zu euch, ich kann sehen wie mein Leben sich in meinen eigenen Gedanken widerspiegelt. Ich empfinde meine Sterblichkeit.

Vielleicht sollte ich die Tiere beneiden, die nichts von dem Tod verstehen der auf sie wartet, die in der Unbewusstheit Leben, wo Zeit und Raum, Leben und Tod nicht existieren. Wo man lebt, ohne zu wissen, was das Leben ist. Aber ich bin nicht neidisch. Gerade dies sehen zu können, das alles Lebendige ein Ende hat, dass kein Schritt rückwärts möglich ist, kein Schritt wo man wieder von vorne anfängt, das ist es, was das Leben zu diesem fantastischen Abenteuer macht.

All die Prozesse physischer und chemischer Art, die dazu geführt haben, dass wir heute dieses Gehirn besitzen, das ist natürlich das größte Kunstwerk, das vornehmste Instrument, das die Natur geschaffen hat. Der Versuch, die Spuren dieser Entwicklung zu verfolgen, bedeutet eine intensive Suche nach den Schlüsseln zu dem, was wir heute geworden sind. Wer war der erste Mensch, der den Mund zum Sprechen aufmachte? Woher kam die Sprache? Und war es schon von Anfang an so, wie es heute ist, wissenschaftlich nachgewiesen, dass wir einen großen Teil unseres Sprachvermögens dazu verwenden, über andere Menschen zu tratschen, die nicht anwesend sind? Was hat es bedeutet, dass ein Mensch eines Tages den Korb (oder die Tasche) erfand, der über die Schulter getragen werden konnte und beide Hände für andere Tätigkeiten freimachte. Paläontologe zu sein, das bilde ich mir jedenfalls ein, heißt ständig Fragen zu stellen, die nicht direkt mit Knochenresten und Fossilien zu tun haben.

Es gibt natürlich viele verschiedene Weisen, den Menschen zu definieren. »Homo sapiens« oder »Homo ludens« sind die zwei gewöhnlichsten Bezeichnungen. Persönlich sehe ich am liebsten den Menschen als »Homo narrans«, weil wir die einzig existierende erzählende Tierart sind. Aber es ist auch nicht falsch, uns als den »fragenden Menschen« zu bezeichnen. Einer der neugierigsten Menschen, der je gelebt hat, war Charles Darwin. Er füllte seine Briefe und Notizbücher mit Fragen wie: »Warum haben Männer Brustwarzen, wo sie doch nicht stillen?« Oder: »Warum haben Käfer Flügel, wo sie doch nie fliegen?« oder »Warum ist das Menschenleben so kurz, wo Schildkröten doch 200 Jahre alt werden können?«

Die einfachste Antwort wäre wohl: uns wurde die Neugier gegeben, weil wir sie brauchen. In der gleichen Weise wie wir unsere Phantasie brauchen.

Vor einigen Jahren habe ich an einem Filmprojekt teilgenommen, das sich in zwei Abschnitten mit meinem Leben in Afrika beschäftigten sollte. In diesem Zusammenhang muss ich vielleicht einen kurzen Hintergrund zu meiner Beziehung zum schwarzen Kontinent geben: Ich habe vor mehr als vierzig Jahren zum ersten Mal Afrika besucht. Als junger Schriftsteller habe ich ein starkes Bedürfnis empfunden, die Welt außerhalb der europäischen egozentrischen Perspektive kennenzulernen. Ich hätte nach Asien oder Südamerika reisen können.

Aber ich habe Afrika gewählt, zum Teil aus einem sehr prosaischen Grund: die billigsten Fahrkarten führten eben dorthin. Ich fuhr übrigens nach Guinea-Bissau, das damals noch eine portugiesische Kolonie war. Als ich das Flugzeug verlassen hatte und meinen Pass stempeln ließ, hieß es, ich sei in Portugal angekommen. Vom ersten Augenblick an hat sich der Kolonialismus als die groteske Missgeburt erwiesen, die er schon immer war. Ich kann aber auch ganz klar sagen, dass ein anderer Grund, weshalb ich gerade nach Afrika gefahren bin, die Bewusstheit war, dass hier die Wiege der Menschheit stand. Afrika war unsere Urheimat, die Heimat unserer Kindheit. Das hatte einen symbolischen Wert. Es war auch wichtig, in der Perspektive daran erinnert zu werden, dass wir alle irgendwann vor ganz, ganz langer Zeit, im Nebel der Geschichte, eine schwarze Urmutter hatten. In diesen Zeiten gefüllt von Rassismus und brutalen ethnischen Konflikten schadet es nichts, nochmals diese Tatsache zu bedenken. Das unmittelbare Gefühl von »Rückkehr«, das ich empfunden habe, als mir die afrikanische Hitze entgegenschlug, kann keineswegs historisch erklärt werden. In meiner Familie hat es weder Seeleute, noch Forschungsreisende, Elefantenjäger oder Missionare gegeben. Afrika war schon immer etwas Exotisches, etwas Erschreckendes. Meine Empfindung von »Rückkehr« kann also nicht rational erklärt werden. Damals konnte ich mir auch nicht vorstellen, dass meine Ankunft in Guinea-Bissau der Anfang von einer mehr als vierzigjährigen Geschichte sei. In den ersten Jahren habe ich wohl versucht, eine Antwort auf die Frage zu finden, weshalb ich mich sofort in Afrika zu Hause fühlte. Heute suche ich nicht mehr nach einer Antwort, sie ist unwichtig geworden. Das Wichtige ist, dass die Frage da ist. Nicht als eine Antwort, sondern als eine Art poetischer Erwägung denke ich manchmal, dass wir alle ein mikroskopisches Detail in einem Gen haben, das an die Ära erinnert, in der wir alle Primaten waren, die sich langsam in Menschen umwandelten. Die Ära, in der wir alle Nomaden waren.

Die Reise des Menschen fing in Afrika an und hat sich heute auf alle Kontinente ausgedehnt. Es sind nur die beiden kalten Polargebiete, die nicht bewohnt sind. Erlauben Sie mir, in diesem Zusammenhang eine kleine faszinierende Abweichung. Heutzutage haben die Forscher überzeugende Argumente gefunden, um feststellen zu können, mit welcher Geschwindigkeit wir Afrika verlassen haben und uns hinaus in die Welt begeben haben.

Jeder von uns kann sich wahrscheinlich leicht vorstellen, wie eine Gruppe von Menschen von ihrem Sitzplatz am Lagerfeuer aufgestanden ist und zügig zu wandern anfing, in Richtung neuer Horizonte. Aber so hat sich der Auszug höchstwahrscheinlich nicht zugetragen. Wissenschaftliche Argumente sprechen dafür, dass wir uns von Afrika mit einer Geschwindigkeit von etwa 5 Kilometern pro Generation entfernt haben. Das bedeutet also, dass es 30.000 Jahre gedauert hat, bis jemand die Philippinen erreichte. Wir können auch den Schluss ziehen, dass der Mensch im Grunde ein Geschöpf ist, das viel Zeit braucht, und nicht mit der Eile leben sollte, die die heutige moderne Gesellschaft prägt.

lch fuhr also vor einigen Jahren mit einem deutschen Filmteam in verschiedene afrikanische Länder. Vor meiner Zusage habe ich zwei Forderungen nach spezifischen Reisezielen aufgestellt. Das eine war, endlich Timbuktu in Mali zu besuchen. Die sagenumwobene Stadt, die einmal die vielleicht wichtigste des afrikanischen Kontinents gewesen war. Eine Stadt mit Schätzen in Form von alten Manuskripten, die ein für allemal die Mythen ausrotten konnten, dass Afrika keine geschriebene Geschichte besitze. Meine Begegnung mit Timbuktu glich der des Pilgers, der endlich ans ersehnte Ziel ankommt, nach Mekka oder Santiago di Compostela.

Mein zweites Wunschziel war der Ausgrabungsplatz im nördlichen Malawi, wo die damals ältesten Fossilien der Gattung Mensch gefunden wurden – Menschenspuren, die uns neue Mosaiksteinchen zur Enträtselung unserer Geschichte liefern konnten. Dorthin kam ich auch und habe einige Tage verbracht, dort wo die Ausgrabung vor sich ging. Tagsüber verfolgten wir die methodische Arbeit, die viel Geduld erfordert. Was ich vorher gesagt habe, dass der Mensch für langsame und nachdenkliche Arbeit geschaffen ist, gilt natürlich in größtem Ausmaß für Paläontologen aller Gattungen. Abends nach dem Essen versammelten wir uns um ein Lagefeuer, und erfuhren, was die malawischen Mitarbeiter vom Ursprung des Menschen geglaubt hatten, bevor die Ausgrabungen eingeleitet wurden. Woher kamen die Menschen denn eurer Meinung nach?

Aus Amerika, antwortete ein Mann, ich glaube er hieß Jackson. Warum denn das?, wunderten wir uns.

Alles andere kommt ja aus den Staaten, sagte Jackson.

Natürlich kann man über so eine Episode lächeln. Aber gleichzeitig verbirgt sie eine große und ernstliche Wahrheit. Während der vielen Jahre kolonialer Unterdrückung wurden die Afrikaner nicht nur ihrer Rohstoffe und ihrer Freiheit beraubt; sie wurden auch ihrer Geschichte beraubt. Ich merkte sofort, dass das europäische Team sich über diese Situation im Klaren war und seine malawischen Arbeiter mit dem größten Respekt betrachtete. Die Idee, ein Museum bauen zu lassen, das in einer pädagogischen Weise die aktuellen Ausgrabungen in eine historische afrikanische Perspektive setzte, war ein weiterer Ausdruck des Verständnisses für die Geschichte Afrikas. Wenn man als Paläontologe arbeitet, geht es also nicht nur darum, immer tiefer in die Geschichte des Frühmenschen zu graben. Es geht auch darum, den Afrikanern ihre eigene Geschichte zurückzugeben. Außerdem muss der Paläontologe dazu beitragen, ihre Würde als Wächter dessen, was man zu Recht die »Wiege der Menschheit« nennt, zu verstärken.

In diesem Wirken, das auch die Würde des afrikanischen Kontinents verteidigt, gibt es auch eine Lehre, an die wir alle ab und zu denken sollten: Die Suche nach der Vergangenheit ist immer ein Streben danach, unsere Zukunft besser verstehen zu können.

Rede, gehalten in deutscher Sprache, anlässlich der Johannes-Gutenberg-Stiftungsprofessur »Aufbruch aus dem Paradies: Zur Globalgeschichte des Homo sapiens«

Homo – Expanding Worlds

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