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Die Hexen von Islandmagee
ОглавлениеHochspannungsleitungen überziehen die Insel wie ein Spinnennetz. Sie kommen aus allen Richtungen und laufen an der Nordspitze von Islandmagee beim Ballylumford-Kraftwerk mit seinen drei hohen Schornsteinen zusammen. »Die Umstellung von Öl- auf Gasfeuerung mithilfe von EU-Geldern wurde im April 1996 begonnen und im November 1996 fertiggestellt«, steht stolz auf einem riesigen Schild hinter dem hohen Zaun, durch den das Kraftwerk gesichert ist.
Islandmagee ist eine elf Kilometer lange Halbinsel nördlich von Belfast. Ausländische Touristen verirren sich nur selten hierher, obwohl die Hafenstadt Larne gleich nebenan ist, wo die Fähren aus Schottland anlegen. Wenn man die Stromleitungen einmal außer Acht lässt, wirkt Islandmagee wie eine vergessene Insel, die sich vom Küstenstreifen, vor dem sie herausragt, durch viele Kleinigkeiten unterscheidet: Während in Whitehead, der letzten Ortschaft vor der Abzweigung auf die Halbinsel, mehrere Wellblechcontainer mit politischen Parolen bemalt sind, sucht man auf Islandmagee vergeblich nach Graffiti; Bed-and-Breakfast-Hinweisschilder sind seltener, die Straßen unebener, die Menschen gelassener. Islandmagee habe einen ganz eigenen Charakter, sagt Rosemary Evans vom nordirischen Fremdenverkehrsamt.
Die Spitzen der vielen Hügel auf Islandmagee sind schneebedeckt. Von Weitem sehen auch die zwölf grünen Lastzüge, die an der kleinen Straße zum Hafen von Ballybay geparkt sind, wie eingeschneite Hügel aus. Die Lastwagen gehören einer Spedition, die hier ihre Niederlassung hat. Ein paar Kilometer weiter führt die Straße steil zum Hafen hinunter. Das Gefälle betrage fünfundzwanzig Prozent, so warnt ein Schild. Am Ende der Straße liegt links ein großer Parkplatz, doch weit und breit ist kein Auto zu sehen. Die kleine blaue Holzhütte, wo im Sommer Erfrischungen verkauft werden, ist mit Brettern vernagelt. Der Wohnwagenplatz auf der anderen Seite der Straße ist geschlossen, die Palmen an der Einfahrt scheinen wie eine ferne Erinnerung an das vom Golfstrom geprägte, eigentlich milde irische Klima. Selbst der Bauernhof neben dem Caravan Park scheint verlassen.
Lediglich bei einem der vier zweistöckigen Reihenhäuser links am Hügel steigt Rauch aus dem Schornstein. Frau Dunwoody hat ein Torffeuer im Kamin angezündet. Sie hat Mitleid mit uns und lädt uns zu einer Tasse Tee ein. Ihre grauen Haare sind kurz geschnitten, sie trägt eine ausgebeulte Strickjacke aus grün gefärbter Schafwolle. Ob wir noch bei Trost seien, bei diesem Wetter im Hafen herumzulaufen, will sie wissen. Der Wind ist jetzt stärker geworden und peitscht die graue See über den Strand. Im Sommer sei es anders, sagt Frau Dunwoody. Da kämen an den Wochenenden die Leute aus Belfast und Larne und badeten in der Irischen See.
Sie wohnt seit neun Jahren in dem Sozialbau mit drei kleinen Zimmern, Küche und Bad. »Seit mein Mann gestorben ist«, sagt sie. Dann trägt sie den Tee auf einem silbernen Tablett auf, dazu gibt es Schokoladenkekse. Frau Dunwoody stammt aus Larne. Kinder hat sie nicht, aber einmal im Monat fährt sie nach Belfast und besucht ihre Schwester. Ob wir schon den Dolmen gesehen hätten, fragt sie. Das sei die berühmteste Sehenswürdigkeit auf Islandmagee.
Wir fahren zur Ballylumford Road Nummer 91. Links vom Haus führt ein Tor in den Hof. Auf den beiden Betonsockeln beiderseits des Tores stehen zwei furchterregende Steinfiguren, vermutlich Löwen, aber genau kann man es nicht erkennen. Ein Schild daneben weist auf den »Ballylumford Dolmen« hin: ein Grab mit nur einer Kammer, das zwischen 2000 und 1500 errichtet wurde. »Funde deuten auf die Bronzezeit hin«, steht auf dem Schild, »aber es gibt keine Beweise für eine Verbindung zu den Druiden.«
Der Dolmen steht direkt vor der roten Eingangstür des Hauses. Vier riesige Grundsteine, auf denen eine massive Steinplatte ruht, drumherum eine schwarze Kette. Wenn man ins Haus will, muss man sich an dem Ungetüm vorbeizwängen. Vermutlich benutzt die Familie den Hintereingang. Warum hat man das Haus ausgerechnet so gebaut, dass der Dolmen genau vor dem Eingang steht? Zwar ist das Haus fast ein Vierteljahrtausend alt, aber der Dolmen war schon vorher da. Es ist niemand zu Hause, den man fragen könnte. Im Fenster warnt ein rotes Schild: »Privat!« Für diejenigen, die sich davon nicht abschrecken lassen, gibt es eine zweite Warnung: »Vorsicht vor dem Hund!«
Ein schwarzer Hund aus Holz ist auch an das Gartentor in der Gobbins Road Nummer 181 genagelt. Er sieht aus, als ob er gerade im Begriff sei, einen Haufen zu machen. Merkwürdigerweise handelt es sich bei dem Haus um Mrs. P. Quinns »Inglenook Cattery«, ein Ferienheim für Katzen, deren Besitzer Urlaub ohne ihr Haustier machen wollen – »vom Ministerium zugelassen«, wie ein Schild versichert. Frau Quinn führt ein strenges Regime: »Der Katzenzwinger schließt um achtzehn Uhr«, steht neben der Klingel.
Ein kleiner Junge, er ist etwa acht, kommt aus dem Haus gelaufen. Wir fragen ihn, wo die Gobbins, die steilen Basaltklippen, seien. Er zeigt nach Osten. »Es ist gar nicht weit zu der Stelle, wo die Soldaten aus Carrickfergus die Einheimischen von den Gobbins ins Meer warfen«, erzählt er. In der Nacht des 23. Oktober 1641 griffen die einheimischen Iren in der ganzen Provinz Ulster die protestantischen Siedler an, die von der englischen Krone für treue Dienste mit Grundbesitz in Irland belohnt worden waren. Viele der Siedler flohen nach Carrickfergus, eine Garnisonsstadt zehn Kilometer südlich von Islandmagee. Dort stellte der schottische General Munro eine Armee von dreitausend Mann auf, schlug die Rebellion blutig nieder und rächte sich mit einem Massaker an den Bewohnern von Islandmagee.
Das habe er in der Schule gelernt, sagt John, so heißt der Junge. Sein Freund Phil, der ein gutes Stück älter ist, kennt eine andere Geschichte. Ganz in der Nähe habe Mary Dunbar gewohnt, die im Jahr 1711 berühmt wurde, weil sie acht Frauen an den Pranger gebracht hatte, sagt er. »Sie wohnte im Haus von Herrn Hattridge, und dort geschahen merkwürdige Dinge. Gegenstände bewegten sich plötzlich. Als Mary Dunbar dann auch noch schmerzhafte Anfälle bekam, waren die Nachbarn überzeugt, dass sie von Hexen gequält wurde.« Der Hexenglaube war damals weit verbreitet. Nach jedem Anfall beschrieb Mary Dunbar eine der Übeltäterinnen, die sie für ihr Leiden verantwortlich machte, und nannte sie beim Namen, obwohl sie die acht Frauen vorher angeblich nie gesehen hatte.
Die Church of Ireland verhörte die Frauen. Sie beherrschten zwar die einschlägigen Gebete und konnten Zeugen vorweisen, die sie beim Kirchgang gesehen hatten, aber dennoch verurteilte man sie zu zwölf Monaten Gefängnis. Außerdem mussten sie viermal an den Pranger. »Die Leute bewarfen sie mit Eiern und faulem Gemüse«, erzählt Phil. »Eine der Frauen verlor dabei ein Auge.« Es war der letzte Hexenprozess in Irland.
Weiter südlich führt eine schmale Brücke aus Stein über den Sund zurück auf die Küstenstraße. Hinter dem versteckt liegenden Bahnhof von Ballykelly gabelt sich die Straße. Rechts nach Larne sind es sieben Meilen, aber wir fahren links, sechs Meilen nach Carrickfergus.
Es ist die »britischste Stadt« Irlands – nicht nur wegen der Bordsteine, die im Blau-Weiß-Rot des Union Jack angestrichen sind. Die Burg, die auf einem Felsen am Meer steht und das Stadtbild prägt, war von entscheidender Bedeutung für die Sicherung der anglo-normannischen Herrschaft in Irland. Sie stammt aus dem Jahr 1180. Eine Zeitlang war Carrickfergus der einzige Ort im Norden der Insel, wo Englisch statt Gälisch gesprochen wurde. Bis weit ins 19. Jahrhundert war Carrickfergus die wichtigste Stadt im Nordosten, später übernahm Belfast diese Rolle.
Carrickfergus ist eine ordentliche Stadt, das merkt man gleich. Auf den Straßen liegt kein Abfall, an den Laternen hängen Schilder, die den öffentlichen Genuss von Alkohol untersagen. Links am Ufer liegt ein Industriepark, daneben das Andrew Jackson Centre. Die Eltern des späteren USPräsidenten waren 1765 aus Carrickfergus nach Amerika ausgewandert. Heute steht eine Nachbildung ihres Cottages auf dem Grundstück, doch im Winter ist es geschlossen – ebenso wie das benachbarte US Rangers Centre, wo das Erste Bataillon der Elitetruppe 1942 auf die Invasion der Normandie vorbereitet wurde.
Die Schattenseiten von Carrickfergus sind dagegen gut versteckt. Auf der rechten Seite hoch über der Stadt liegt die Glenfield-Siedlung. Bei schönem Wetter soll man Schottland von hier aus sehen können. Doch wer in Glenfield wohnt, ist nicht wegen der Aussicht hier, sondern weil er keine andere Wahl hat. Fünfzehn Prozent der zweihundertdreißig Häuser stehen leer, sie sind mit Wellblech und Brettern verbarrikadiert, damit sie nicht von Jugendlichen zerstört werden. Keiner will die Häuser haben, obwohl mehr als hundert Menschen auf der Warteliste des Wohnungsamts stehen. »Selbst die Obdachlosen wollen nicht einziehen«, sagt eine Anwohnerin. »Hier regiert die UVF.«
Der gesamte Küstenstreifen von Larne bis nach Belfast ist zu fünfundneunzig Prozent protestantisch, Carrickfergus ist die traditionelle Hochburg der Ulster Volunteer Force (UVF), jener bewaffneten Organisation, die sich Loyalität zur britischen Krone auf ihre Fahnen geheftet hat. In der Glenfield-Siedlung kontrollieren die Mitglieder den Drogenhandel, so heißt es. »Wer ihnen ins Gehege kommt, macht mit ihren Eisenstangen und Baseballschlägern Bekanntschaft«, erzählt die Anwohnerin.
Neben dem kleinen Einkaufsladen am Rand der Siedlung steht ein elektrischer Generator. Um den hässlichen Kasten zu verschönern, hat der zuständige Stadtrat Billy Hamilton vom politischen Flügel der UVF einen Künstler beauftragt, der unter Mithilfe der Kinder eine Landschaft malte. »Am nächsten Tag waren Gemälde und Generator abgebrannt«, sagt Hamilton. »Die Jungs mochten es nicht – wegen der orangefarbenen Sonne, der weißen Wolken und der grünen Wiese.« Orange – Weiß – Grün: Das sind die Farben der irischen Trikolore. Stattdessen prangt auf dem neuen Generator King Billy, wie Wilhelm III. von seinen Anhängern fast zärtlich genannt wird.
Und Anhänger hat er in Carrickfergus viele. Die Stelle an der Pier, wo er am 14. Juni 1690 landete, bevor er einen Monat später seinen katholischen Widersacher und Schwiegervater Jakob II. in der Schlacht am Boyne besiegte und die protestantische Thronfolge sicherte, ist durch eine Plakette markiert. Es dauerte zweihundertsiebzig Jahre bis zum nächsten Besuch einer königlichen Hoheit: Queen Elizabeth kam 1960 mit ihrer Jacht »Britannia« nach Carrickfergus. Darauf wird auch bei der historischen Gondelfahrt, der jüngsten Attraktion von Carrickfergus, stolz verwiesen.
Hinter dem Rathaus, dem früheren Gerichtsgebäude, wo die Hexenprozesse stattfanden, liegt die Antrim Street. Wo damals das Gefängnis war, kann man sich heute in rot-blau angestrichenen Gondeln, die an einer Schiene hängen, in fünfzehn Minuten durch achthundert Jahre Geschichte schaukeln lassen. Während man zunächst über den mit einer Glaskuppel überdachten Innenhof schwebt, dröhnen aus den in die Gondel eingebauten Lautsprechern Informationen: Es geht zuerst um Auswanderung, um die Jacksons und um Fischfang. Unter der Glaskuppel schlängeln sich silbrige Fische, die durch einen Elektromotor bewegt werden. Dann biegt die Gondel in das Innere des alten Gefängnisses ein.
Es ist stockfinster. Plötzlich tauchen die Hexen von Islandmagee auf und quälen die arme Mary Dunbar. Eine schwarze Katze mit funkelnden Augen schreit, und hinter der nächsten Biegung hängen zwei heruntergekommene Gestalten am Galgen. Es sei wie in einer Zeitmaschine, ruft es aus dem Lautsprecher. In Wirklichkeit ist es wie eine Geisterbahn mit Schlachtenlärm und Schießpulvergeruch. Am Ausgang steht eine wächserne Nachbildung von Deafy McKie, dem tauben Glöckner aus dem 19. Jahrhundert. Eine furchterregende Gestalt: zottelige weiße Haare, ein wilder Bart und ein brauner, zerschlissener Mantel. In der Hand hält er eine schwere Messingglocke. Ein Witzbold hat ihm den Klöppel gestohlen, und so schwingt Deafy seine Glocke, ohne zu merken, dass sie keinen Ton von sich gibt.
Vor dem Tor des Gefängnisses fand 1844 die letzte öffentliche Hinrichtung statt. Der Soldat Cordorey hatte seinen vorgesetzten Sergeanten im Streit um eine Frau erschossen. Weil er erst neunzehn Jahre alt war, empörte man sich über die Hinrichtung, und fortan wurden die Leute hinter verschlossenen Türen ins Jenseits befördert.
Oder sie kamen ins Burgverlies, das bis weit ins 19. Jahrhundert als Staatsgefängnis diente. Heute ist es so etwas wie ein mittelalterliches Disneyland mit nachgebildeten Rittern zu Pferde, Bogenschützen, Burgfräulein – und Gefangenen, deren jämmerliches Wimmern vom Band tönt. Eine Touristin aus Boston, die am vergitterten Fenster ein Streichholz angezündet hat, schreit plötzlich auf: Aus dem dunklen Verlies reckt sich ihr eine Plastikhand entgegen. »Sieht verdammt echt aus«, meint sie erleichtert.
Im Inneren der Burg gibt es eine Glasplatte im Fußboden. Wenn man sich daraufstellt, sieht man in ein großes Loch, das bis tief in den Felsen reicht. Es ist der Brunnen, den Fergus gesucht hat. Jener Fergus, König von Schottland, kam im sechsten Jahrhundert nach Irland, um den legendären Brunnen zu finden, dessen Wasser ihn von der Lepra heilen sollte. Doch sein Schiff zerschellte an dem Felsen, auf dem jetzt die Burg steht. Carrickfergus: der Felsen des Fergus.
Ganz oben unter dem Dach ist ein Spielzimmer für Kinder eingerichtet: überdimensionale Schachfiguren, mittelalterliche Würfelspiele sowie Umhänge, Pluderhosen und Narrenkappen zum Verkleiden. Für einen Moment kommt die Sonne durch, und aus dem Fenster hoch über dem Felsen kann man über das glitzernde Meer bis zum Kraftwerk auf Islandmagee blicken.