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Vorwort
ОглавлениеMan kennt die Iren: Sie sind fromm und fröhlich, rauflustig und rothaarig, sauf- und sangesfreudig. Sie sitzen in strohgedeckten Hütten und verfassen Werke der Weltliteratur, während es draußen in Strömen gießt.
Über Irland und die Iren sind eine ganze Menge Vorurteile im Umlauf, und wenn man es auf den Quadratmeter umrechnete, wäre es wohl eine Art Weltrekord. Reisende Schriftsteller haben seit Jahrhunderten an einem Irlandbild gestrickt, das der Grünen Insel noch immer anhängt.
»Das wenige, das die Männer mit Arbeit und die Frauen mit Spinnen verdienen, wird üblicherweise in Whiskey angelegt«, schrieb der Engländer Richard Twiss 1775. »Die Frauen dieses Landes sind bemerkenswert fruchtbar, und es ist keine Seltenheit, dass eine Frau fünfzehn oder zwanzig Kinder hat. Die frühen Ehen mögen für diese Fruchtbarkeit verantwortlich sein oder der Mangel an Gelegenheit, sich auf ungesetzliche Art zu vergnügen.« Zweihundertzweiundzwanzig Jahre später behauptete der von allen guten Geistern verlassene Irland-Brockhaus, »den ganzen Sommer über liegen schottische und gälische Dudelsackspieler in Dörfern und Kleinstädten im friedlichen Wettstreit miteinander«. Zwischen beiden Veröffentlichungen sind Berge von Büchern erschienen, in denen die Insel am Rande Europas mal liebevoll, manchmal gehässig, oft spöttisch, jedoch selten ohne Vorurteil beschrieben wurde.
Natürlich haben viele Klischees einen wahren Kern. So gehen noch immer viele Iren regelmäßig zur Messe; das soziale Leben spielt sich vor allem im Pub ab; die Iren singen gerne; die Insel ist grün, weil es häufig regnet, wenn auch selten lange; und vier Literaturnobelpreisträger sind bei einem Land dieser Größe beachtlich. Aber die Iren halten auch Rekorde, die man nicht unbedingt vermuten würde: Sie sind mit zweihundert Litern im Jahr Weltmeister im Teetrinken, und über vierzig Prozent aller Haushalte besitzen einen Hund – mehr als in allen anderen Ländern der Europäischen Union. Rothaarig sind dagegen nur vier Prozent.
In Irland leben weniger Menschen als in London. Es gibt gut fünf Millionen Einwohner, wenn man die Nordiren mitzählt, und sie gehören ja dazu, trotz der willkürlichen Grenze, die von den Engländern 1922 gezogen wurde. Die Insel, vor allem die Republik Irland, hat sich im vergangenen Jahrzehnt nachhaltig verändert. Zwar macht die Landwirtschaft, vor allem die Viehzucht, noch immer knapp zehn Prozent der Volkswirtschaft aus, und das ist dreimal soviel wie im EU-Durchschnitt, doch mit der Öffnung der Volkswirtschaft in den sechziger Jahren, dem Beitritt zur EWG 1973 und der Ansiedlung von Industrien im pharmazeutischen Bereich und in der Computerbranche hat Irland innerhalb einer Generation den Sprung von der Agrarwirtschaft zur postindustriellen Gesellschaft bewältigt. Anfang der neunziger Jahre setzte eine Entwicklung ein, die Irland den Beinamen »keltischer Tiger« einbrachte: Wachstumsraten zwischen fünf und neun Prozent, Inflationsraten von unter zwei Prozent, niedrige Zinssätze und ein Haushaltsüberschuss, von dem man in den hochverschuldeten achtziger Jahren nur träumen konnte.
In Dublin entstanden neue Bürohäuser und Einkaufszentren, das heruntergekommene Hafenviertel wurde zur Finanz- und Kulturhochburg ausgebaut, und jede Woche wurden zwei neue Restaurants eröffnet. Vorbei waren die Zeiten, als Irland eine kulinarische Wüste war, heutzutage kann man zwischen den ethnischen Küchen aller Erdteile wählen – wenn auch die Kartoffel nach wie vor das Hauptnahrungsmittel der Iren ist.
Doch 2008 war es mit dem Boom vorbei. Die Finanzkrise riss Irland in den Abgrund, da die Regierung eine Bankengarantie aussprach. So müssen die Steuerzahler für die Spekulationsverluste der Finanzinstitute aufkommen, und daran werden noch kommende Generationen zu knabbern haben. Seitdem fahren die Regierungen – unter Aufsicht der Troika aus Europäischer Zentralbank, Internationalem Währungsfonds und EU-Kommission – einen drastischen Sparkurs, unter dem vor allem die unteren Einkommensschichten leiden. Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit sind gestiegen, die Schere zwischen Armen und Reichen ist größer geworden, die Verbrechensrate ist angestiegen, und Dublin hat ein unübersehbares Drogenproblem. Die Gelassenheit der Iren ist einer gewissen Eile, ja sogar Hektik gewichen. Geblieben sind Gastfreundlichkeit, Herzlichkeit und der Hang zur Improvisation, den schon Heinrich Böll beobachtet hatte, als er in den fünfziger Jahren das erste Mal nach Irland kam. »Die Bügelfalten hatten ihre schneidende Schärfe verloren«, schrieb er, »und die Sicherheitsnadel, die alte keltisch-germanische Fibel, trat wieder in ihr Recht; wo der Knopf wie ein Punkt gewirkt hatte, vom Schneider gesetzt, war sie wie ein Komma eingehängt worden; als Zeichen der Improvisation förderte sie den Faltenwurf, wo der Knopf diesen verhindert hätte.«
Dreißig Jahre vor Böll war der englische Reiseschriftsteller Henry Vollam Morton über die Irische See gesegelt. Er fand ein »kleines Land, das in einem permanenten Unabhängigkeitskampf seinen Mann gestanden hatte, und es war ein müder, blutbefleckter Weg durch neun Jahrhunderte geworden – der längste Kampf der Weltgeschichte. Vor mir am Horizont lag die Republik Irland.«