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Ein Krankenhaus ist ein Tempel des Leids und des Schmerzes, aber auch der Hoffnung. Es ist ein Ort, an dem man mit dem Tod und dem Sterben auf Du und Du ist.

Wie viel Verzweiflung, wie viel Angst mag sich unter dem Giebel eines einzigen Krankenhauses versammelt haben? Wie viel ängstliches Hoffen und heimliches Versagen mag von dort aus in den Himmel aufgestiegen sein?

Niemand hielt sich gern als Patient in einer Klinik auf und selbst als Besucher beschlich einen ein eigenartiges Gefühl der Scheu und der Vorsicht, so dass man geneigt war, während der Dauer seines Aufenthaltes in einer Klinik beinahe den Atem anzuhalten.

Man empfand Beklemmung dabei, laut zu sein oder zu essen oder gar zu lachen, an einem Ort, an dem Schmerz allgegenwärtig war und in dem der Tod tagtäglich ein und aus ging, als sei ein Krankenhaus nichts weiter als eine Art Wirtshaus für den Sensenmann.

Man empfindet Ehrfurcht vor dem Leben und seiner Fragilität; Ehrfurcht vor dem Siechtum und dem Sterben der Menschen.

Ein Schmerzenshaus, ein weißes Haus der Angst, ein stilles Haus des Todes. Ein Leidenshaus, ein Schreckenstempel.

Wer hierher mit der Diagnose Lungenkrebs kommt, der weiß, dass fünf Jahre nach der Feststellung des Leidens weniger als 10 % aller Betroffenen noch am Leben sein werden.

Er weiß auch, wenn er, vielleicht nach Wochen oder gar Monaten der anhaltenden Heiserkeit und des Bluthustens, mit jeder Faser auf eine Chance hoffend, die Schwelle der Klinik überschreitet, dass es für eine erfolgreiche Therapie schon längst zu spät ist und dass jeder therapeutische Schritt nicht mehr kurativ ist, wie die Ärzte sagen, sondern lediglich zur Verbesserung der Lebensqualität in den letzten Tagen und Wochen beitragen wird.

Wer hierher mit der Diagnose Lungenkrebs kommt, kommt auch, um Abschied zu nehmen. Abschied vom Leben und von seinen Lieben, denn mit der Behandlung auf der onkologischen Station beginnt meist auch, für alle Menschen deutlich sichtbar, der Prozess des langsamen, wenngleich immer weiter hinausgezögerten Sterbens des Patienten.

Der Kranke wird meist wehleidig oder apathisch, andere entwickeln eine in sich gekehrte Verhaltensweise, in der sie eigenartig naiv wirken, wie Kinder oder Geisteskranke. Andere werden laut und impulsiv, flüchten sich in allerlei Aktivitäten, als könnten sie dem Tod, er ihnen doch stets auf den Fersen bleibt, auf diese Weise davon laufen.

Ich habe beizeiten und gleich zu Beginn meines Berufslebens gelernt, dass Sterben stets etwas Individuelles ist, wie die Geburt und das ganze Leben. Keine zwei Sterbevorgänge aufgrund derselben Diagnose, sogar dann, wenn die Patienten im selben Alter sind, gleichen einander. Jedes Sterben ist individuell, ist einzigartig und unwiederbringlich. Es is wie eine große Sinfonie, die nur ein einziges Mal auf einer Konzertbühne aufgeführt werden kann und danach nie wieder, weil die Musiker die Noten vergessen und weil die Instrumente ihren Dienst versagen.

Kein Tot kann je kopiert oder ein zweites Mal gestorben werden. Wie das Individuum seinem Leben, seiner Art, mit Schicksalsschlägen umzugehen, seinen einzigartigen Stempel aufgedrückt hat, so macht es auch beim Sterben ein allerletztes Mal von diesem Stempel Gebrauch, ehe er endlich in den Wirren der Zeit verschwindet und vergessen wird, dieser einzigartige Stempel, der Geschehnissen im Zusammenhang mit einer bestimmten Person ihre Singularität verleiht.

Mein Schwiegervater war still und höflich, als er in die Klinik kam und sein Bett auf der onkologischen Station zugewiesen bekam.

Ich war auf einer anderen Station beschäftigt, aber ich besuchte ihn, sooft ich konnte. Ich besuchte ihn täglich.

Er war still und höflich und selbst, wenn er nichts sagte, so fragten seine Augen doch bang bei jedem Eintreten in sein Dreibettzimmer: Wie lange habe ich noch zu leben?

Ich flüchtete mich in all die Hilfskonstruktionen, wie es jeder Mensch tut, der einen Angehörigen mit dieser Diagnose in einer Klinik besucht.

Brachte Obst mit oder Süßigkeiten oder Zeitschriften, in denen die Fußball-WM thematisiert wurde; forderte ihn auf, das Bett zu verlassen, um mit mir nach unten zu gehen, in die Cafeteria, wo es Wiener Würstchen gab, die er gern mochte. Nötigte ihn, mit mir auf den Balkon des Zimmers zu kommen, von wo man über das Grün einer akkurat gemähten Wiese blicken konnte oder direkt in die kräftige Krone einer einsamen alten Kiefer hinein, die vor der Fassade der Klinik stand.

Ich vermied die Themen Tod und Sterben, bagatellisierte die Untersuchungen, selbst Bronchoskopie und Biopsie, als würden sie dadurch weniger beängstigend und schmerzhaft und bemühte mich, mit ihm zu scherzen.

Er aber, der selbstsichere Mann, der ein Leben lang fröhlich und optimistisch gewesen war, wurde still und in sich gekehrt und als ich eines Nachmittags mit der Psychologin über ihn sprach, riet sie zur Einnahme von Stimmungsaufhellern.

Am Tag, bevor die Biopsie stattfinden sollte, saß ich mit ihm unten, auf der Wiese, vor der großen Freitreppe der Klinik. Hinter unseren Rücken erstreckte sich halbkreisförmig die gewaltige und altehrwürdige Fassade der Klinik. Wir saßen an einem Tisch unter einem bunten Sonnenschirm und blickten über die grüne Wiese, die erst am Tag zuvor gemäht worden war und die nach frisch gemähtem Gras duftete.

Aus der Ferne war gedämpft das Zischen eines Gartenschlauches zu hören, mit dem ein Gärtner die Wiese sprengte, um ein Verdorren der kurzen Grasnarbe bei den hochsommerlichen Temperaturen zu verhindern.

Wir saßen dort und wir warteten auf meine Frau und auf meine Schwiegermutter, die am Nachmittag mit dem Auto kommen wollten.

Ich spürte seine Angst vor der Biopsie am nächsten Tag und ich wusste, ich würde ihm diese Untersuchung, die durchaus ihre Risiken barg, wie jeder unter einer Narkose durchgeführte Eingriff, nicht abnehmen, noch ihm die Schmerzen, die es hinterher geben würde, erleichtern können.

Die Banalität und Oberflächlichkeit aller Beziehungen, wie sie Menschen untereinander, selbst innerhalb der Familie, eingingen, kam mir plötzlich zu Bewußtsein. Er würde morgen die Biopsie über sich ergehen lassen müssen und wir, seine Angehörigen, konnten nichts weiter dabei tun, als ihm alles Gute zu wünschen und Plattheiten mitzuteilen. Verdammt wenig, wie ich plötzlich fand. Zu wenig, für den Anspruch menschlicher Bindungen, dachte ich mir.

Also saßen wir, blickten über die Wiese und blinzelten in der Sonne und ich fragte ihn nun wohl schon das zehnte Mal, ob er auch keine Schmerzen habe und wie ihm das Mittagessen bekommen sei, als er mich plötzlich ansah und mit sehr großer Bestimmtheit in seiner immer wieder versiegenden Stimme krächzte: „Ich will eine Pistole haben!“

Ich nickte wortlos, obwohl ich hätte erschrecken müssen. Aber ich nickte nur wortlos, weil ich diesen Satz zutiefst verstand, nicht seiner Aussage wegen, sondern weil ich meinte, den Grund für diesen Wunsch sehr gut zu kennen, der wiederum in der Essenz des Schreibens von Elias Canetti zu finden war, wonach der Tod die Quelle für jeden Antrieb eines Menschen sei.

Wieder blinzelten wir und starrten schweigend über die Wiese, über der jetzt in der Hitze des Mittags ganze Schwärme von Mücken tanzten, während sich in dem Wasserstrahl des Gartenschlauches, mit dem die kurze Grasnarbe der Wiese vor der Fassade der Klinik gesprengt wurde, ein winziger und ein wenig rudimentärer Regenbogen bildete, dessen Farben ich deutlich sehen konnte.

Ich spürte meine Hilflosigkeit und Ohnmacht angesichts seiner Krankheit und ich sah all die blauen Flecken an seinen Armen, die Pflaster in seiner Armbeuge, wo sie Zugänge gelegt hatten und den zentralen Venenkatheder, den mehrlumigen ZVK, das System seiner dünnen und farbigen Kunststoffschläuche, welches sie ihm wie üblich in die Vena jugularis interna am Hals eingeführt hatten, von wo die bunten Schläuche nun herab baumelten und ihm das Aussehen eines Indianerhäuptlings gaben, der seinen Kriegsschmuck am Hals angelegt hatte.

Ich sah ihn dort sitzen und blinzelte in das grelle Sonnenlicht. Er aber sah mich direkt an und krächzte noch einmal und mit Nachdruck, wobei er, wie zur Bekräftigung des Gesagten, dabei mit dem Kopf zu jedem gesprochenen Wort nickte: „Ich will eine Pistole haben! Eine richtige, eine scharfe Pistole!“

Der Zornige: Werdung eines Terroristen

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