Читать книгу Der Zornige: Werdung eines Terroristen - Ralph Ardnassak - Страница 8
6
Оглавление„Sieh mal, dort drüben!“, krächzte mein Schwiegervater und wies, um nicht unnötiges Aufsehen durch eine Geste mit der Hand zu erregen, lediglich mit einer kurzen und nickenden Bewegung in Richtung auf die frisch gemähte Wiese vor der Klinik: „Der Tod respektiert tatsächlich weder Jugend noch Schönheit!“
Ich blickte in die Richtung, die er mit seinem Kopfnicken bereits angedeutet hatte. Dort, abseits vom Trubel der Besucher, die mit ihren kranken Angehörigen an den Tischen unter den bunten Sonnenschirmen aßen, Kaffee tranken und schwatzten, im Schatten einer gewaltigen und offensichtlich uralten Lärche, eine junge, schlanke und auffallend hübsche Frau mit langem glatten blonden Haar ganz einsam in einem der weißen Plastikstühle der Cafeteria. Sie hatte uns den Rücken zugekehrt und las in einem bunten Magazin.
Der Jogginganzug und die Badelatschen, die sie trug, wiesen sie ganz eindeutig als Patientin dieser Klinik aus.
„Das ist Sabrina Höhn!“, krächzte mein Schwiegervater: „Ist noch keine 34 Jahre alt und war schon Miss Sachsen-Anhalt!“
„Was hat sie denn?“, fragte ich, denn ich kannte im Grunde nur die Patienten von unserer Station mit Namen und Angesicht.
„Krebs!“, flüsterte mein Schwiegervater und es klang einsilbig und resigniert: „So ein hübsches Ding und hat tatsächlich Krebs! Lungenkrebs im Endstadium, genau wie ich!“
Sabrina Höhn kam aus dem Thüringischen. Zum Zeitpunkt der politischen Wende in der ehemaligen DDR war sie gerade einmal ganze 9 Jahre alt gewesen.
Nach dem Abitur war Sabrina Höhn in die Stadt gekommen, um hier an der Universität Betriebswirtschaftslehre zu studieren. Eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau hatte sie bereits daheim in Thüringen absolviert.
Um sich ihr BAföG aufzubessern, arbeitete sie im Callcenter der renommierten Lokalzeitung in der Anzeigenabteilung.
Ihre Freizeit verbrachte die zierliche Studentin in den verräucherten Diskotheken und Studentenclubs der Stadt, in denen die Luft so beißend und dick war, dass man sie förmlich schneiden konnte.
Sie war 19, Einzelhandelskauffrau in einer großen Modekette in einer Kleinstadt in der Nähe und Stammgast in den Nikotin und Nebelschwaden der bekannten Diskothek „Holiday“, als sie dort an einem Sonntagmorgen, um exakt 2:32 Uhr, von einer regionalen Agentur entdeckt wurde, die Misswahlen veranstaltete.
Sabrina Höhn wurde Miss Torgau und damit Kandidatin der Wahls zur Miss Sachsen-Anhalt, bei der sie sich zur Miss Deutschland qualifizieren konnte.
Natürlich war sie ungemein stolz, hatte all diese Geschichten von Claudia Schiffer und anderen Models im Hintergrund und wollte ganz selbstverständlich Miss Deutschland werden.
Der Reporter des Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL, der sie interviewte, fragte sie, ob sie lieber Miss Ostdeutschland oder Miss Gesamtdeutschland werden würde.
„Offiziell natürlich Miss Gesamtdeutschland!“, sagte sie.
„Und inoffiziell?“, fragte der Reporter.
Inoffiziell sei sie stolz, es den Anderen auch endlich mal zeigen zu können und sich durchzusetzen.
Wer denn diese Anderen überhaupt seien, bohrte der Reporter weiter.
Die Anderen, das seien die sogenannten Besser-Wessis, die sie gelegentlich treffe, antwortete sie. Beispielsweise diese arroganten Bayern, im Grunde Hinterwäldler, die frühmorgens schon ihr Hefeweizen tranken und regelmäßig zur Beichte liefen und die sie allen Ernstes gefragt hatten, ob sie denn als Ostdeutsche überhaupt wisse, was Bananen seien und wie man diese vor dem Genuss schälen müsse.
Was ihrer Meinung nach denn der auschlaggebende Unterschied zwischen Ossis und den Wessis sei, fragte der Reporter jetzt.
„Ich will das mal an einem Beispiel illustrieren!“, lautete ihre Antwort: „An einem Beispiel aus meinem Arbeitsleben im Textil-Einzelhandel!“
„Gut!“, sagte der Reporter vom SPIEGEL: „Dann illustrieren Sie das mal!“
„Ich hatte mal eine Chefin, die kam aus dem Westen und war unsere Filialleiterin. Also die war weder verheiratet, noch hatte sie Kinder und beides stand auch nirgendwo in ihrem Lebensentwurf verzeichnet! Die trug stets die teuersten und die schicksten Klammotten und fuhr einen 3er-BMW, ein Cabrio. Wenn sie abends nach Hause kam, dann war sie allein und trank aus lauter Frust vorm Fernseher eine ganze Flasche Rotwein aus. Und wenn sie dann doch mal einen Kerl abschleppen konnte, dann hielt das nie länger als höchstens eine einzige Woche. Ich glaube, ihr ganzes verkorkstes Leben stand im Grunde doch nur auf zwei Beinen, nämlich auf Geld und Karriere!“
„Und Sie?“, fragte der Reporter: „Welches Karriereziel haben Sie überhaupt?“
„Maximal Abteilungsleiterin in einem Kaufhaus!“, lautete ihre Antwort: „Da verdient man schon ganz gut und hat abends dann irgendwann auch tatsächlich mal Feierabend!“
Bei der Wahl zur Miss Sachsen-Anhalt präsentierte sie im ersten Durchgang ein Abendkleid, dann Bademoden des Veranstalters Miss Germany Corporation. Sie belegte den dritten Platz.
Ein toller Gang, Natürlichkeit und das mysteriöse und nicht näher zu quantifizierende „gewisse Etwas“ seien die unerlässlichen Voraussetzungen, um eine Miss zu werden, so die Jury.
Vom Laufsteg führte sie ihr Weg schließlich direkt in diese Klinik, nachdem ein hartnäckiger Husten nicht weichen wollte, ein quälender und angsteinflößender Husten, der sie am Ende sogar Blut spucken ließ.
Man sprach in ihrem Fall von einer nicht mehr kurativen, sondern rein palliativen Chemotherapie, deren Behandlungsdauer, im Hinblick auf die toxischen Nebenwirkungen des Medikaments, auf höchstens vier bis sechs Zyklen zu beschränken seien. Obschon es hierzu keine signifikanten Studien und keine allgemeingültigen klinischen Empfehlungen gab, galt offensichtlich auch auf der Onkologie unseres Klinikums der eherne Grundsatz: Lebensqualität geht vor künstlich erzwungene Lebenszeit.