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„Obst wird zu allen Zeiten gebraucht! Es ist gesund und enthält Vitamine!“, pflegte Kläre Schattling den beiden schüchternen Frauen stets einzuschärfen, die sie jetzt stundenweise als Aushilfskräfte im Laden beschäftigte: „Besonders jetzt, wo uns ein gewaltiges weltanschauliches Ringen bevorsteht und der Führer selbst daher auf die Gesundheit der Volksgemeinschaft achtet! Auf die körperliche und die weltanschauliche Gesundheit!“

„Jawohl, Fräulein Schattling!“, pflegten die beiden Frauen in Schürze und Kopftuch darauf im Chor zu antworten und mit gesenkten Köpfen eine Art von Hofknicks durchzuführen.

Aus der schmalen flachbrüstigen Kläre war bereits das gefürchtete Fräulein Schattling geworden, dessen Wort in der Straße etwas galt.

Fühlte sich Kläre Schattling mit ihrem Obstsortiment überwiegend für die körperliche Gesundheit der Volksgemeinschaft zuständig und mit verantwortlich, so fiel die weltanschauliche Gesundheit eher in den Zuständigkeitsbereich der Ausweich- und Auffanglager der hiesigen Gestapoleitstelle, die für Juden, für Mischlinge, für politische Häftlinge und Verhaftete zuständig war, die auf Anforderung als Zwangsarbeiter an die ansässigen Betriebe verliehen wurden.

Obwohl man seitens der zuständigen Stellen auch Kläre Schattling gut zu redete, doch Zwangsarbeiter für den Einsatz im Ladengeschäft anzufordern, lehnte sie stets ab.

„Untermenschen und Verbrecher kommen mir nicht ins Geschäft!“, lautete ihre abweisende und burschikos vorgetragene Begründung stets: „Da mach doch lieber die schwere Arbeit mit meinen beiden Frauen selber!“

„Die Kläre!“, pflegte der alte Schattling zu sagen: „Das ist eine ganz Verrückte! Die kann schindern, bis ihr die Augen aus den Höhlen quellen! Die Kläre macht mir manchmal regelrecht Angst!“

Ansonsten kannte Kläre Schattling beinahe nichts anders, als die Arbeit im Ladengeschäft. Vom Verreisen hielt sie wenig. Wenn sie das als Wahrzeichen der Stadt geltende Münster nicht sehen könne, so pflegte sie zu sagen, so wäre sie krank.

Nur drei oder vier Mal reiste sie mit den Eltern an die See zur Erholung. An die Kurische Nehrung und ans Frische Haff.

Am Rande der Stadt gab es noch den Schrebergarten mit den Obstbäumen und der kleinen Laube. Jenen Schrebergarten, von dem aus man stets die Nähe des gewaltigen Stromes riechen konnte, der die kleine Gartenkolonie hier auf seinem Weg hin zum Meer in geringer Entfernung passierte.

In jener Zeit und nach einem Kinofilm, entdeckte Kläre Schattling ihre Passion für Windhunde, die sie in der alten und ihrer Meinung nach regelrecht majestätischen Manier stets Windspiele zu nennen pflegte.

Für Kläre Schattling waren Windspiele majestätische und eindrucksvolle Hunde. Geeignet, um jeden öffentlichen Auftritt eines Menschen wirksam zu unterstreichen.

Hatte nicht auch der englische König Heinrich VIII. dies bereits praktiziert, sich mit Windspielen zu umgeben? Und gehörten Windspiele nicht zum Zierrat und zu den Accessoires vieler feudaler Höfe?

Kläre Schattling fand, ein Windhund wäre ein geradezu angemessener und passabler Begleiter, der sich auch als Beschützer des Ladengeschäftes gut ausnehmen würde.

Mit Vorliebe las sie abends ihren Eltern mit hoher und lauter Stimme die prahlerischen Beschreibungen vor, die mittelalterliche Adelige und Chronisten über ihre Windhunde hinterlassen hatten. Beschreibungen aus einer Zeit, da das Töten eines Windhundes noch mit der unverzüglichen Hinrichtung des Täters geahndet wurde und ein Windhund teurer war, als selbst ein leibeigener Bauer, ja Windhunde in bestimmten Gegenden sogar als Heilige verehrt und zur Hasen-, Hirsch- und Wolfshetze eingesetzt wurden.

Das Buch dicht vor die bebrillten Augen haltend, so las Kläre Schattling mit sich gelegentlich dabei vor schierer Begeisterung überschlagender Stimme die Beschreibung des geradezu idealen Windhundes des Edmund de Langley aus dem Jahre 1370:

„Der Windhund sollte einen langen, etwas spitzen Kopf haben, ein gutes großes Maul mit Scherengebiss. Sein Hals soll stark und lang sein, gebogen wie bei einem Schwan; die Schultern wie bei einem Rehbock, die Vorderbeine gerade, nicht jedoch die Hinterbeine, die Pfoten rund wie bei der Katze, mit großen Krallen; die Knochen und Gelenke am Oberschenkel groß und stark wie bei einem Hirsch; die Unterschenkel stark und gebogen wie bei einem Hasen; die Hacken gerade, und nicht gedreht wie bei einem Ochsen. Der Schwanz wie bei der Katze, mit einem Ring am Ende, aber nicht zu hoch.“

(Quelle: http://www.gulfcoastgreyhounds.org)

So kam schließlich Nikolai ins Haus. Ein gewaltiger Barsoi oder russischer Windhund und zugleich der erste Windhund der Familie Schattling.

Ein Vertreter jener vor allem beim russischen Adel beliebten Hunderasse, als deren erster Züchter der Großfürst Nikolai Nikolajewitsch aus Perchino gilt.

Als die Juden der Stadt zur Arbeit in den Brabag-Werken, in denen aus Braunkohle Treibstoff für die Luftwaffe gewonnen wurde, nicht mehr zur Arbeit gebraucht wurden, weil dort nun genügend Kriegsgefangene eingesetzt werden konnten und die Deportierungen nach dem Osten einsetzten, wurde eines Abends die alte Frau Hirschmann, die Gattin des Kinobesitzers aus Westend, bei Kläre Schattling vorstellig.

Unter Berufung auf die christliche Barmherzigkeit und die jahrelange gute Nachbarschaft, bat sie Kläre Schattling, auf eine kleine Reisetasche mit Wertsachen Acht zu geben, bis wieder bessere Zeiten für die jüdischen Kaufleute kommen würden. Es sei der letzte Besitz von Wert, der ihnen nach der Enteignung und Arisierung des Kinos geblieben sei und sie fürchte um dessen Konfiszierung im Falle einer Hausdurchsuchung.

In einer abstrusen Mischung aus Argwohn, Gier und Mitleid hatte Kläre Schattling nicht zu widersprechen gewagt und während sie unter den Tränen und Dankesbekundungen der Frau Hirschmann die beachtlich schwere Tasche entgegennahm, war ihr bereits durch den Kopf geschossen: ‚Diese Juden sind doch sowieso praktisch schon tot!‘

Nachdem die Frau davon geschlurft war, hatte Kläre Schattling die Tasche geöffnet und mehrere Preziosen gefunden, die offenbar aus 585er Gold waren. Darunter vier schwere siebenarmige Chanukkia-Leuchter mit dem Davidsstern, die zur Aufnahme von acht Kerzen bestimmt waren, verschiedene goldene Taschenuhren, goldene Ringe, Ketten, Broschen und Manschettenknöpfe und schließlich einige Alben mit 20 Mark Reichsgoldmünzen aus der Prägung des Jahres 1873.

Mehrere Monate lang hatte sie den Schatz im nußbaumfurnierten Kleiderschrank ihres Kleiderschrankes eingeschlossen gehabt. Immer wieder kreisten ihre Gedanken um all das Gold, das den Juden sowie zu nichts mehr nütze sein würde und das sie sich ohnehin in den Jahren der Wirtschaftskrise ergaunert haben mussten.

Immer wieder fiel Kläre Schattling ein, dass sie eigentlich dringend einen neuen Lieferwagen für das Geschäft benötigen würde. Und sie verfiel allmählich auf die fixe Idee, dass ihr, als einer anständigen Deutschen, dieses Gold der Juden zustehen würde. Ihr und ihrer Familie und nicht diesem raffgierigen Pack, das jetzt zu Recht um sein Vermögen fürchtete!

Und hatte sich nicht all Dasjenige, was man immer vom raffgierigen, reichen und heimtückischen Juden bestätigt, bereits durch die Tatsache, dass ihr die Tasche mit all dem Gold zum Verstecken unter geschoben worden war? Sie wusste, dass sie eigentlich das Gold hätte abgeben müssen. Schließlich war es ein enorm kriegswichtiges Material, das möglicherweise in Devisen hätte umgetauscht werden können. Aber sie besann sich und verwendete schließlich die schweren Chanukkia-Leuchter für den Ankauf eines gebrauchten Opel Olympia Kastenwagens zum Preis von 2.500 Reichsmark.

Und als wäre es der Frau Hirschfeld plötzlich verdächtig vorgekommen, dass der 1,3-Liter-Kastenwagen nunmehr in der Straße vor dem Geschäft stand und als würde sie der Verwahrung ihres Goldes nicht mehr trauen, war die alte Dame unlängst am hellerlichten Tag im Geschäft erschienen, um händeringend die Herausgabe des Goldes einzufordern. Sie hätten eine Möglichkeit gefunden, sich über ein Schweizer Konsulat Ausreisepässe zu kaufen und würden das Gold daher dringend benötigen.

Kläre Schattling hatte die Anwesenheit der Frau und deren Forderung nach Herausgabe des Goldes plötzlich als regelrechte Impertinenz empfunden. War sie doch schließlich auch innerlich inzwischen felsenfest der Überzeugung, der Schatz würde ihr allein zustehen und die Juden wären ohnehin und zwar völlig zu recht, verloren! Nicht umsonst hatte sie deshalb die vier Leuchter bereits zum Ankauf des Kastenwagens verwendet und eingesetzt!

Obwohl ihr klar wurde, dass die Frau keinerlei Handhabe hätte, um ihr Gold zurück zu fordern, schließlich konnte sie als Jüdin nicht zur Polizei gehen und Anzeige erstatten, wurde Kläre die ganze Angelegenheit allmählich mehr als nur lästig.

Das aufdringliche weinerliche Flehen der Frau Hirschfeld, die sich und ihre Familie förmlich als vom Tode bereits gezeichnete Menschen darstellte, ihre immer häufiger werdenden Besuche im Laden, bei denen sich Kläre immer wieder neue Ausreden einfallen lassen musste, sie habe das Gold in einer benachbarten Kleinstadt im Tresor einer Verwandten sicher verwahrt und müsse erst Gelegenheit finden, es zu holen, wurden ihr allmählich unheimlich.

Zwar hätte sie die Frau einfach ignorieren oder aus dem Laden werfen können, doch es schien ihr, die alte Jüdin hätte ihre Tat bereits erraten und habe möglicherweise sogar die unheimliche Fähigkeit, sie und ihre Familie zu verfluchen und ihnen auf diese Weise zu schaden!

Kläre Schattling beschloss also, dass die Familie Hirschfeld weg müsse. Am besten mit all den anderen Juden in den Osten deportiert, damit die unselige Geschichte mit dem Gold dadurch aus der Welt wäre.

Also suchte Kläre die Dienststelle der Gestapo auf, um dort zu erklären, die Familie Hirschfeld würde immer wieder Feindpropaganda betreiben, die Leute im Westend zum Widerstand gegen das Reich aufstacheln und noch zynisch davon berichten, wie sie zu Hause regelmäßig BBC hören würden. Sie bat darum, diese Leute möglichst umgehend zu entfernen, da sie sich als Parteigenossin von diesen immer noch augenfälligen jüdischen Umtrieben verfolgt, bedroht und belästigt fühlen würde.

Um ihr Ansinnen zu unterstreichen, hatte sie mehrere Taschen mit frischem Obst dabei. Dankbar für jede Art solcher Anzeigen, die endlich ein härteres und entschiedeneres Vorgehen gegen die Juden in der Stadt rechtfertigen würden, hatte sich der Leiter der Gestapo-Dienststelle des Falles angenommen und versprochen, das jüdische Drecksloch im Westend endgültig auszulöschen.

Tatsächlich verschwand die Familie Hirschfeld dann bereits in den nächsten Tagen bei Nacht und Nebel. Und lediglich hinter vorgehaltener Hand wurde im Westend geflüstert, die einstigen Kinobesitzer seien abgeholt und in den Osten deportiert worden, von wo sie, nach allgemeinem menschlichen Ermessen, nie wieder zurück kehren würden.

Bald wohnten andere Menschen in den Räumen der Familie Hirschfeld und bei Kläre Schattling machte sich Erleichterung breit.

Sie verspürte zunächst keinerlei schlechtes Gewissen, sondern fühlte sich eher wie jemand, der sich durch zähen und langwierigen Kampf etwas gesichert hatte, was ihm grundsätzlich zustand.

Erst viel später, gegen Kriegsende und nach dem Krieg, dachte sie stets vom Blutgeld und vom Blutauto, wenn sie den Kastenwagen sah. Und noch im Frühsommer 1945 war sie dann hingegangen und hatte in einer nebligen Nacht die Alben mit den Goldmünzen und die Tasche der Frau Hirschfeld von der eisernen Hubbrücke in den Strom geworfen, weil sie nicht wollte, das man diese Dinge bei ihr fand.

Die Geschichte mit der Frau Hirschfeld und dem Goldschatz war schließlich auch die Ursache dafür gewesen, dass Kläre Schattling mit ihren Eltern nicht in die Westzone geflohen war, als es hieß, die Russen würden die Stadt von den Amerikanern übernehmen und das ganze Umland würde zur sowjetisch besetzten Zone werden, im Austausch gegen Berlin.

Obwohl Kläre Schattling als ehemaliges NSDAP-Mitglied Angst vor Verfolgung durch die Russen haben musste, war doch ihre Furcht vor der Familie Hirschfeld und vor den Juden stärker gewesen.

Daher war sie hier geblieben, bei den Russen. Denn hieß es nicht, dass die Juden in Amerika saßen und dass die Juden überall dort groß und mächtig wurden, wo die amerikanischen Truppen standen?

Und eine große Last war Kläre Schattling schließlich von den Schultern gefallen, als es sich abzeichnete, dass es zwei deutsche Staaten geben würde. Einen im Westen, wo die Amerikaner saßen und einen anderen deutschen Staat hier im Osten, unter der Oberhoheit der Russen und der Kommunisten.

Das war Kläre Schattling letztendlich ganz recht, denn stets hatte sie in ihren Alpträumen die alte Frau Hirschfeld vor sich gesehen, wie sie nach Kriegsende wieder den Laden betreten könnte, um nach dem Gold zu fragen und nach jenen Umständen ihrer plötzlichen und unerklärbaren Deportierung.

Stets hatte Kläre Schattling sich für diesen Fall eine Vielzahl möglicher und durchaus plausibler Ausreden zurecht gelegt. Aber sie war sich nicht sicher, ob sie auch in der Lage dazu gewesen wäre, all diese Ausreden glaubhaft vorzutragen oder ob sie stattdessen in Ohnmacht gefallen wäre oder ob ihr rotfleckiges Gesicht und ihre hochroten und heißen Ohren sie verraten hätten.

So bangte sie immer wieder aufs Neue, die Familie Hirschfeld oder irgendwelche Nachfahren oder Angehörige könnten plötzlich vor ihr im Laden stehen und Rechenschaft fordern, aber mit all den Jahren, die vergingen, wurde ihre Furcht schließlich allmählich schwächer. Und die deutsch-deutsche Grenze, die Mauer, schien ein festes Bollwerk, das sie vor den Besuchen der Familie Hirschfeld schützen würde. Auch sagte sie sich immer wieder, angesichts all der Berichte über das Schicksal der Juden in den Vernichtungslagern des Ostens, dass es eher unwahrscheinlich sein müsse, wenn die Frau Hirschfeld oder ihr Mann den Holocaust überlebt haben sollten.

Nie, in keinem der Jahre und Jahrzehnte nach dem Krieg, war je wieder in Westend die Rede von der Familie des Kinobesitzers Hirschfeld.

Und als die Ruinen des Hirschfeldschen Kinos, welches dem großen Luftangriff der Royal Air Force vom 16. Januar 1945 gemeinsam mit annähernd 90 Prozent der Gebäude der barocken Altstadt und mit 15 Kirchen der Stadt zum Opfer gefallen war, endlich abgetragen und durch ein modernes mehrstöckiges Wohnhaus ersetzt wurden, in welchem junge Familien und eine Zahnarztpraxis einzogen, beerdigte Kläre Schattling schließlich auch die letzten noch verbliebenen Gedanken an die Familie des unglücklichen Kinobesitzers Samuel Jacob Hirschmann und seine Frau Rachel.

Drecksmaden

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