Читать книгу Dublin. Grafton Street - Ralph Ardnassak - Страница 5
3
ОглавлениеEr saß oben in seinem Arbeitszimmer, das vollgestopft war mit alten, deaktivierten Jagdwaffen und mit alten Büchern, alles Dinge, die er sehr liebte, während seine Frau unten die Reise vorbereitete, die Koffer packte und immer wieder mit ihren Eltern darüber telefonierte, wie viele Koffer mitgenommen werden sollten und wo der Treffpunkt sein würde.
Er aber saß allein oben, in seinem Arbeitszimmer, vor dem PC. Er surfte im Internet. Er war auf der Website von youtube.com und er hörte sich dort immer wieder die Hymne der IRA an, The official Anthem of the IRA. Er klopfte den Rhythmus mit dem rechten Fuß mit, der in einem übel nach Fußschweiß stinkenden und fleckigem Filzpantoffel steckte:
„In aid of men like Connolly, Barney an McCann
To fight and die until they drive the British from our lands
Young and old side by side fighting day by day
They are the Army of the People - the Official IRA…”
Entschlossen klimperte ein Banjo die alte, aber scheinbar immer noch aktuelle Hymne und noch entschlossener schien die Stimme des Sängers zu klingen, der das Lied intonierte. Ihm wurde bewusst, dass der Takt für einen Marschschritt gemacht worden war. Und der Gedanke, an der Spitze einer Formation zu diesen Klängen und im Jubel einer riesigen Menschenmenge eine Straße hinunter zu gehen, eine schwarze Motorradkappe über dem Kopf, die ihn somit unkenntlich machte und in einer gefleckten Tarnjacke, die MPi geschultert und die rechte Hand erhoben und zu Faust geballt, ließ ihm Schauer der Begeisterung über den Rücken laufen und überzog seine beiden Arme mit einer dichten Gänsehaut.
Immer wieder hörte er den kraftvollen Marschgesang zu dem Banjo, und obwohl der Song nur knapp zweieinhalb Minuten ausmachte, rief seine Frau schon ärgerlich von unten die Treppe hinauf: „Na fein! Der Herr hört sich schon wieder Musik an und ich kann alleine packen! Der Herr Arbeitslose ist ja derart intensiv beschäftigt, dass er seine voll berufstätige Frau auch noch als Putze und Packerin benutzen muss!“
Er versteckte das Bier, das er sich heimlich eingeschenkt hatte, damit sie nichts davon bemerkte, hinter dem Bildschirm seines Computers und schaltete den Song aus. Das Banjo und die kraftvolle Stimme verstummten.
Bereits seit seinen Kindertagen sagte man ihm einen geradezu fanatischen Gerechtigkeitssinn nach. Und seit seiner unerwartet eingetretenen Arbeitslosigkeit engagierte er sich stärker denn je für alles Unterdrückte und Ausgegrenzte, für jeden, der gegen das System der Profitmacherei aufbegehrte. Warum, das wusste er selbst nicht zu sagen. Vielleicht deswegen, weil er sich selbst für einen Unterdrückten und Ausgegrenzten hielt, für jemanden, der gerade dabei war, durch alle sozialen Maschen dieser Gesellschaft zu fallen.
So hatte er sich während der freien Zeit, die er ja nun reichlich zur Verfügung hatte, gründlich mit der Geschichte der RAF und der IRA beschäftigt. In romantisierender Schwärmerei identifizierte er sich in Tagträumen, während er sein Bier trank, mit den Mitgliedern beider Organisationen. Die IRA war ihm schließlich sympathischer. Warum, wusste er nicht zu sagen. Vielleicht, weil sie nicht geschlagen worden war, nicht besiegt und zu einem unrühmlichen Ende gekommen, wie die RAF.
Er schrak zusammen. Seine Frau war die Treppe hinauf gekommen und stand nun in herausfordernder Haltung auf der Schwelle des Arbeitszimmers.
„Glaub ja nicht, dass ich Deine Schmutzwäsche wasche!“, rief sie in den Raum. Er spürte so etwas wie Angst in sich aufsteigen, Angst vor weiteren Sanktionen; Angst, dass sie ihn einfach verlassen könnte.
„Du hattest Zeit genug, Deine Wäsche zu waschen!“, fuhr sie in anklagendem Ton fort: „Und was hast Du getan? Nichts! Die Dachrinne wolltest Du auch längst sauber machen und das alte, schmutzige Bad wolltest Du sanieren lassen! Du wolltest dieses Haus! Ich wollte es nicht! Ich hab Dir von Anfang an gesagt, dass ein Haus mit andauernder Arbeit verbunden und ein Geldgrab ist! Du hast es gewusst und Du hattest mir versprochen, mich nicht mit all der Arbeit allein zu lassen. Aber, was machst Du nun? Gar nichts machst Du! Nichts weiter jedenfalls, als Bier zu saufen und den ganzen Tag vor dem Computer herum sitzen, um Dich selbst zu bedauern! Ich ertrage das nicht länger! Hörst Du, was ich sage? Ich ertrage das alles nicht länger!“
Er saß stumm und bewegungslos am Schreibtisch und er starrte nur auf den blau schimmernden Desktop seines Computers.
Die Frau, die immer noch in der Tür des Arbeitszimmers stand, hatte sich jetzt in eine Art von Raserei hineingesteigert.
„Alles hier ist schmutzig und verdreckt!“, schrie sie: „Schmutzig, verdreckt und verkommen! Genau, wie Du! Ich habe es satt! Ich ertrage es nicht mehr! Diese Ehe ist für mich ein und für alle Mal beendet!“
Nachdem sie es heraus geschrien hatte, zog sie sie sich den breiten goldenen Ehering vom Finger und warf ihn wütend in den Raum. Es gab ein leises, durch den Teppich gedämpftes Lingen und der goldene Ehering rollte über den Teppich und kam an der Scheuerleiste unter dem Bücherregal zum Stillstand.
Während er sie die Treppe hinunter laufen hörte, hielt er voller Angst den Atem an. Es war die Angst, sie könne ihn nun endgültig verlassen und seiner Einsamkeit ausliefern. Es war eine Angst, vergleichbar derjenigen, wie sie kleine Kinder empfinden, die nachts allein und im Dunkel des Zimmers zurückbleiben müssen, während die Mutter fortgegangen ist, unerreichbar, um sich irgendwo, fern im Ungewissen zu vergnügen. Es war eine Angst, wie sie vielleicht ein Mensch empfinden musste, der nach einem Atomkrieg allein und als letztes Lebewesen auf der Erde zurück geblieben war. Das allerletzte lebende Individuum auf dieser Welt, ja, vielleicht in diesem Universum.
Doch, obwohl er diese furchtbare, nagende Angst in sich verspürte, so wagte er es dennoch nicht, ihr hinterher zu laufen und sie aufzuhalten. Aber er lauschte, ängstlich und mit angehaltenem Atem, ob sie die Eingangstür hinter sich zuschlagen würde. Zu seiner beinahe grenzenlosen Erleichterung hörte er nicht das harte Schlagen der schweren Eingangstür. Er wusste, sie würde jetzt unten in der Küche sitzen, um zu rauchen. Und nach einer Weile hörte er, wiederum erleichtert, wie sie damit fortfuhr, die Koffer zu packen.
Er war vollkommen von ihr abhängig und sie wusste das. Er hing an ihr, wie ein ungeliebtes Kind an seiner Mutter, um deren Liebe es Tag um Tag kämpft, sie aber dennoch niemals erreichen wird.
Er war eine verlorene Seele, die einsam und gebrochen irgendwo im Dunkel des Seins herumgeisterte um dort vergebens darauf zu warten, irgendwann einmal erlöst zu werden.