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Sie hatte die Sachen für ihre gemeinsame Reise nun gepackt und die Koffer lagen offen im Flur ihres gemeinsamen kleinen Reihenhauses im Erdgeschoss. Er würde seine paar Klamotten, sein Rasierzeug, einen Schlafanzug, die Zahnbürste und frische Unterwäsche nebst Socken für 7 Tage in eine ALDI-Tüten packen und das Ganze in einem der Koffer verstauen.

Sie waren jetzt ganze 23 Jahre lang verheiratet. Sie hatten eine erwachsene Tochter, sie hatten ihr gemeinsames Reihenhäuschen. Und der Gedanke, sie könne sich jetzt auf einmal, nach 23 Jahren und nach all dem, was sie gemeinsam erreicht hatten, plötzlich von ihm scheiden lassen, erschien ihm aberwitzig, aber doch gleichermaßen bedrohlich.

Der Ehering, den sie sich vom Finger gezogen und ihm hingeworfen hatte, schimmerte auf dem Bücherregal wie eine unergründliche, aber allgegenwärtige Drohung. Alles war möglich, selbst das Aberwitzigste und Unvorstellbare.

Er war sich beinahe sicher, dass sie sich vor der gemeinsamen Reise, die seit Langem geplant und gebucht worden war, keineswegs von ihm trennen würde, weil sie sein Geld brauchte und weil sie nach außen hin zumindest den Anschein der Normalität wahren wollte. Im Grunde aber konnte er sich selbst dessen nicht gewiss sein und all diese Dinge blieben nichts weiter, als Hypothesen und Annahmen.

Er schwebte quasi emotional im Ungewissen, wie eine Sonde, die irgendwo fern, in der Atmosphäre eines völlig unbekannten Planeten abgesetzt worden war. Er hasste diesen Zustand, was sie zu wissen schien, aber er vermochte es nicht, ihn zu ändern.

Und wenn selbst das gemeinsame Kind und das Reihenhäuschen nichts mehr zählten, was zählte dann etwas auf dieser Welt und in ihren Augen? Er wusste es nicht, aber er begann dunkel und schemenhaft zu ahnen, dass es nichts gab, was in ihren Augen etwas zählte, außer ihrem eigenen und stählernen Willen, den sie immer und überall konsequent durchzusetzen verstand. Nichts gab es, was diesem Willen je gewachsen war. Nichts gab es, dem dieser Wille sich gebeugt oder auch nur angenähert hatte. Sie war ihren Mitmenschen darin einfach über.

Sie brach ihre Mitmenschen, wie der Eisgang die braunen, verholzten Stängel des Schilfes winters brach. Sie brach alles und jeden um sich herum und sie war sich dessen nicht einmal bewusst. Sie war, wie ein launisches Kind, das verletzte und kränkte, ohne sich je darum zu sorgen. Sie war ihrem Innern wie eine Naturgewalt: roh und ungebändigt, nicht zähmbar, nicht konditionierbar. Sie tat und ließ, was immer sie auch wollte.

Er aber, er lebte in der ständigen Furcht, sie könne ihn verlassen. So, wie schon als Kind, als seine Mutter ihm bei jeder Gelegenheit damit gedroht hatte, ihn in ein Heim zu geben, wenn er nicht sofort tat, was sie von ihm verlangte. Er war ein weicher, ängstlicher Mensch geworden, stets im vollen Bewusstsein seiner totalen Wert- und Hilflosigkeit gegenüber den Starken und Gewaltigen dieser Welt, die ihn hinwegfegten, die von ihm fordern konnten und ihm jederzeit alles nehmen durften, ohne dass irgendjemand sie aufhielt.

Er hatte sich davor gefürchtet, dass sie ihn schon nicht mehr mit auf die Reise nach Dublin mitnehmen würde. Er hatte gefürchtet, sie könne womöglich alleine fahren, mit ihren Eltern oder mit einem fremden, starken Mann. Wie ein Kind vor dem Dunkel, so hatte er sich davor gefürchtet, diese endlos langen zehn Tage allein in dem kleinen, einsamen Reihenhaus sein zu müssen. Er hatte gefürchtet, sie könne ihn vielleicht fortschicken und mit einem neuen Mann zurückkommen, nach der Reise nach Dublin.

Seine Arbeitslosigkeit und ihre Rohheit und Missachtung, dies waren die beiden entscheidenden Dinge in seinem Leben, unter denen er unsäglich litt, die ihn entwerteten und zu einem Nichts herab würdigten, zu einem Stück Dreck, das tatsächlich auch wie Dreck behandelt werden musste.

Umso erleichterter war er, als er keine Anzeichen dafür wahrnehmen konnte, dass sie ihn nicht mitnehmen würde. Immerhin war sein Flug bereits seit langer Zeit gebucht worden, gemeinsam mit ihrem Flug und den Tickets für ihre Eltern.

Er verstaute also die wenigen Dinge, die er mit nach Dublin nehmen würde in ihren riesigen Koffern und er registrierte mit der Dankbarkeit eines gequälten Hündchens, das ein einziges Mal nicht geschlagen worden war, dass sie seine schmale ALDI-Tüte an einem Rand ihres Koffers, zwischen ihren Unterwäschepaketen duldete und sie ihm nicht sofort mit einem Ausdruck äußerster Verachtung im Gesicht wieder vor die Füße warf, wie sie es sonst üblicherweise in diesen Situationen zu tun pflegte.

Er war dankbar für die Geste des Schicksals, die es ihm erlaubte, mit nach Dublin zu fliegen und zugleich wusste er, dass er nur mitgenommen wurde, um dort zu bezahlen, denn vor seiner Arbeitslosigkeit hatte er einmal recht gut verdient und immer gespart, um das Haus abbezahlen zu können und der Tochter ein Studium zu ermöglichen.

Und während er in beinahe tränennasser Dankbarkeit erstarrte, von der er wusste, dass es die Dankbarkeit des Gedemütigten gegenüber seinem Peiniger war, spürte er einen heftigen Schmerz, wie von einem sehr tiefen Messerstich, mitten in seiner linken Schulter. Es war ein sehr heftiger und stechender Schmerz, der ihn plötzlich traf. Ein entsetzlicher Schmerz, der ihm den Atem nahm und von jener Art, die uns Menschen schlagartig ahnen lassen, dass wir sterblich sind.

Er atmete sehr flach und er hoffte nur, dass es wieder vergehen würde, denn er hatte schon oft zuvor empfunden, jedoch niemals in dieser Heftigkeit. Und während er flach über den Schmerz hinweg atmete, so wie ein flacher Stein, der, geschickt geworfen, über die Oberfläche eines Teiches hinweg sprang, ehe er schließlich doch versank, dachte er flüchtig an seine Kindheit und an seine Mutter. Es war, als ob er in einen tiefen dunklen Brunnen hinabblickte, der einstmals kühl und feucht gewesen war und der nun ausgetrocknet da lag, voller trockener bröseliger und harter Erde, während die Steine an seinem Rand porös wurden und bemoosten, um schließlich einer nach dem anderen hinab zufallen in den finstren ausgetrockneten Schacht. Und während er flach über den Schmerz hinweg atmete und an seine Mutter dachte, an die Fülle ihres einst schwarzen Haares, an ihre feuchten Lippen, nahe bei seinem Gesicht, immer dann, wenn sie ihn auf dem Schulweg verabschiedet hatte, ließ der fürchterliche Schmerz allmählich nach. Der fürchterliche Schmerz ließ nach, wie das metallische Ticken des alten Weckers auf dem Nachttisch seiner Großmutter, wenn diese ihn lange nicht aufgezogen hatte. Der Schmerz hatte nachgelassen, aber dennoch war er derart heftig und quälend gewesen, dass er den Eindruck hinterließ, als habe er fürchterliche Verheerungen an seinen inneren Organen hinterlassen und zugleich damit eine Art von Bewusstsein für das Morbide seiner Existenz und den nahen finstren Flügelschlag des Todes.

Er atmete immer noch sehr flach, aus Angst, der Schmerz könne zurückkehren und er wagte sich nicht zu rühren.

Von unten aber, aus der unteren Etage des kleinen Reihenhauses, flatterte das fröhliche Gelächter und Geplapper seiner Frau herauf, wie ein Lerchenpaar im Frühling. Er wusste, seine Frau telefonierte mit ihrer gemeinsamen Tochter, die ein gesamtes Auslandssemester, also sechs lange Monate, in Dublin verbracht hatte und die sie nun, gemeinsam mit den Großeltern, besuchen und mit zurück nach Deutschland bringen würden.

Nie rief seine Tochter ihn an, sie telefonierte nicht mit ihm, sie sprach nicht mit ihm und sie ließ ihm keine Grüße ausrichten. Er litt darunter, wie unter vielen Dingen, die ihm angetan wurden und die er klaglos erleiden und erdulden musste, weil er zu schwach und zu feige, um sein Leben allein in die Hand zu nehmen. Er litt darunter, aber es blieb ihm nichts übrig, als regelmäßig Geld nach Dublin zu überweisen, obwohl er wusste, dass er sich damit weder ihre Liebe, noch ihre Achtung erkaufen konnte.

Er war nichts weiter, als eine unablässig funktionierende Geldpumpe, die allein auf Grund dieser Funktion noch geduldet wurde. Und eben diese Funktion war im teuren Dublin vonnöten.

Er wäre so gern ein starker Mann gewesen, jemand, der geachtet und geliebt wurde und der sich daher selbst achten und lieben konnte. Aber all das war er nicht. Und so vermochte er es nicht, sich zu achten, schweige denn, sich zu mögen, so wie er war. Er empfand sich selbst wie einen Fremdkörper, als etwas entsetzlich Fremdes und Abartiges, von dem sich stets der Rest der Menschheit abwandte. Und so hatte er sich von sich selbst abgewendet.

Er achtete nicht darauf, ein gesundes und glückliches Leben zu führen, dass lebenswert genannt werden konnte und erfüllt war. Er tat Dinge nicht, die er eigentlich tun wollte, aus Angst, sonst womöglich verlassen zu werden und im Labyrinth dieser Welt allein und hilflos zurückbleiben zu müssen. Er war derart angepasst, dass er nur noch zu tun wagte, was er meinte, es würde von ihm erwartet.

Über all dem, während er schweigend vor dem Computer saß, brandete das Gelächter und Geplapper seiner Frau aus dem Erdgeschoss, dass ihm ebenso fremd war, als dringe es aus einer unermesslich weit entfernten anderen Welt zu ihm herauf und nicht nur vom Erdgeschoss ihres gemeinsamen Hauses.

Über all dem aber, während seine Frau dort unten, scheinbar Lichtjahre von ihm entfernt und eingebettet in ihre eigene unverrückbare Welt, wie ein Insekt in seinen Kokon, während der Schmerz in ihm nachließ, spürte er eine letzte Art von Dankbarkeit gegenüber dem Schicksal, dass er diese Reise noch tun durfte, gemeinsam mit seiner Frau und seinen Schwiegereltern. Und es war ihm ganz gleichgültig, was dann, am Ende dieser Reise sein würde. Es war ihm gleichgültig ob er dann tot oder lebendig, ob er dann noch ein Bewohner dieses Hauses sein würde oder nicht. Seine schmale ALDI-Tüte mit den Socken und der Unterwäsche für zehn Tage, mit dem alten löchrigen Schlafanzug und der kleinen Tasche mit dem Rasier- und Zahnputzzeug, sie lag am Rand des riesigen Trolleys seiner Frau, zwischen all ihren eleganten Sachen, wie ein bösartiger Tumor im aufgeschnittenen Leib eines Menschen. Und allein das zählte jetzt.

Dublin. Grafton Street

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