Читать книгу Devolution - Ralph Denzel - Страница 5
Tom
Оглавление»Hängen Sie das Ornat bitte ordentlich auf!«, sagte Pfarrer Wutknecht mit brüchiger und müder Stimme. Der Krebs in ihm fraß an seinen Kräften wie an einem Festmahl und raubte ihm immer wieder seine eigentlich sonore und bestimmende Stimme. Er streckte sich, und seine alten Glieder knackten wie morsche Äste. Mit einem gequälten Gesichtsausdruck streichelte er sich selbst über die Schulter.
»Natürlich«, sagte Tom in einem leicht entschuldigenden Tonfall und strich das Priestergewand glatt, bevor er es in den Holzschrank in der Sakristei hing. Manche Tugenden starben wohl nie, so wie die Ordnungsliebe und auch der Respekt vor seinem Amt von Pfarrer Wutknecht, dachte Tom grinsend. Er konnte nicht genau sagen, welches von den beiden Dingen dafür verantwortlich gewesen war, dass er das Ornat nochmals ordentlich aufhängen musste.
Danach schloss er den Messwein und die Hostien weg und zog sein Messgewand aus. Er hatte sich wie die letzten Tage immer für Grün entschieden, auch auf Anraten Pfarrer Wutknechts hin. Vielleicht wäre Schwarz eher angebracht gewesen, aber er hatte sich immer gefühlt, als würde dies der eigentlichen Botschaft, die sie in den letzten Wochen immer wieder verbreitet hatten, zuwiderlaufen.
Grün wie die Hoffnung.
Der Raum war düster. Der Pfarrer hatte die Rollen hinuntergefahren, damit die Sonne die kleine Sakristei nicht aufheizen konnte. Ein sanfter Duft nach Weihrauch und Hustenbonbons schwebte in unsichtbaren Fäden durch den Raum. Der Priester hatte immer darauf geschworen, dass es ihm vor der Messe guttat, ein scharfes Eukalyptusbonbon zu lutschen: »Merken Sie sich das! Sie können Ihre Stimme immer viel besser nutzen, wenn die Stimmbänder geölt sind!«
Und so hatte er sie auch benutzt, jeden Tag, manchmal fast zwanzig Stunden lang.
Die Menschen wussten, was sie wollten und sie hatten es hier in der Kirche bekommen: Sterbesakramente waren in Fließbandarbeit verteilt worden. Immer wieder hatte er die spirituelle Wegzehrung bestehend aus Brot und Wein gereicht, hatte den Gläubigen Mut zugesprochen und ihnen sanft seine arthritisch geschwollenen Finger auf die Schulter gelegt. Es war eine winzige Geste, aber viele Menschen hatten erst dort scheinbar Frieden gefunden und die Hände des Pastors umklammert wie ein Ertrinkender einen Rettungsring.
Die unzähligen Gesichter waren irgendwann verwaschen gewesen, konturlose Menschen, die sich alle nach dem gleichen sehnten. Nur wenige Kirchenmitglieder waren Tom im Gedächtnis geblieben, die meisten waren anonym für ihn geworden, eine angsterfüllte Masse, die wie im Zeitraffer an ihm vorbeigezogen war.
Hoffnung – das war es, was sie gebraucht hatten in diesen Stunden, so hatte es sein Mentor immer wieder erklärt.
Nein, es war wirklich besser, Grün zu tragen als schwarz.
Tom blickte Pfarrer Wutknecht an, der eigentlich aus einem kleinen Ort im Schwarzwald gekommen war. Er wusste nicht, was ihn genau hierher verschlagen hatte. Vielleicht hatte ein Gemeindemitglied ihn darum gebeten, nachdem der eigentliche Pfarrer völlig unerwartet gestorben war. Eines Tages, Tom war gerade vom Bischof zu einer Art Pfarrhelfer ernannt worden, hatte Wutknecht vor der Tür gestanden und ihm eröffnet, dass sie beide ab sofort zusammenarbeiten würden. Dabei hatte er gütig und friedvoll gelächelt und einige Sekunden später quälend trocken Blut in ein weißes Taschentuch gehustet.
Tom hatte kurz vor seinem Abschluss im Priesterseminar gestanden. Nicht mehr lange, und er hätte sein Vikariat beginnen können. Nun war jedoch alles anders gekommen. Aber die Kirchen, genauso wie jede andere Organisation, auf die sich Menschen in der Not verlassen wollten, waren dankbar für ihn gewesen, denn er war immerhin hier geblieben, auch als es offensichtlich war, dass Konstanz der gefährlichste und auch tödlichste Ort der Welt geworden war.
So hatte er mit Pfarrer Wutknecht zusammen gearbeitet. Er blickte den Mann an und fühlte Mitleid in sich, auch wenn er das niemals zugeben würde. Der Pfarrer war ein zu stolzer Mann, als dass er dies akzeptieren würde. Er sah fahl und abgemagert aus und sein graues Gesicht wirkte ebenso eingefallen wie das der meisten Menschen, die hierhergekommen waren.
Er hustete erneut in sein weißes Stofftaschentuch, welches er immer zur Hand hatte. Schnell steckte er es wieder in seine Tasche, aber nicht schnell genug, sodass Tom das Blut sehen konnte. Er wollte sich nicht die Schwäche eingestehen, die manchmal so deutlich in seinen Worten zu hören war.
Wutknecht litt an einem Lungentumor, der ihn langsam im Inneren auffraß. Man merkte ihm mit jedem Schritt und jeder Bewegung seiner schwachen Hände an, dass er starke Schmerzen litt, aber er machte weiter, wie ein Uhrwerk, auch wenn er nur noch der Schatten seines früheren Selbst war. Tom hatte einmal ein Foto von ihm gesehen, als er noch gesund gewesen war. Dort hatte er ausgesehen wie der Schauspieler Anthony Hopkins, was vielleicht nicht die besten Voraussetzungen für das Amt eines Pfarrers waren. Tom erinnerte sich, wie er sich das erste Mal bei einer Predigt Wutknechts vorgestellt hatte, dass Wutknecht wie Hannibal Lecter »Ich genoss seine Leber mit einem ausgezeichneten Chianti« sagen würde und dabei verschmitzt grinsen müssen.
Diese Vorstellung war jedoch verflogen, als er den Mann hatte predigen hören. Wie ein Donnerschlag hatte er die Gemeinde in seinen Bann gezogen und sie getröstet. Er hatte nicht vom Ende der Welt gesprochen, sondern vielmehr vom kollektiven Einzug ins Reich Gottes. Wenn wir alle sterben, dann werden wir alle im himmlischen Vater weiterleben, hatte er immer wieder betont. Manchen Menschen machte dies Mut und Hoffnung. Andere waren zum Seestadion gegangen – ihnen ging es wohl nicht schnell genug mit der Erlösung.
Auch dort war er tätig gewesen, hatte die Mitarbeiter vom Roten Kreuz gesegnet, ebenso wie die Leichen, die dort sein sollten. Tom kannte nur die Gerüchte, aber manchmal, wenn der Wind günstig stand, wehte von dort her ein grausamer Duft nach Verwesung,tot wie ein schreckliches Omen.
Der Pfarrer war eine beeindruckende Persönlichkeit für ihn und er wünschte sich von Herzen, er hätte diesen Mann unter anderen Umständen kennengelernt und von ihm lernen können.
»Was haben Sie jetzt noch vor, Herr Wutknecht?«, fragte er freundlich.
Dieser lächelte sanft, zumindest versuchte er es. Unter den Schmerzen, die er litt, kam das Lächeln nur als eine groteske Grimasse rüber. Er schob seine Füße wie ein Skifahrer über den glatten, schwarzen Boden und ließ sich aufseufzend auf einen Stuhl fallen, bevor er antwortete.
»Ich werde noch ein paar Minuten hier warten, ob vielleicht doch noch jemand kommt, dann werde ich mich schlafen legen.« Die Kirche war heute den ganzen Tag leer geblieben. Anscheinend hatte keiner mehr das Bedürfnis gehabt, geistigen Beistand zu empfangen. Vielleicht war auch einfach keiner mehr übrig.
»Ich freue mich darauf. Wenn ich aufwache, dann ist alles vorbei und ich bin bei unserem Herrn. Was machen Sie denn noch, wenn ein alter, viel zu neugieriger Mann das fragen darf?« Er versuchte ein Lächeln, was ihm jedoch wieder nicht gelang und in einem schmerzverzerrten Aufstöhnen endete.
Tom lachte auf, bevor er erwiderte: »Ich werde meine letzten Stunden mit meinen Freunden verbringen. Meinen besten Freunden.«
»Was ist mit Ihrer Familie? Haben Sie nicht vor heute bei ihnen zu sein?«, fragte Wutknecht überrascht und beugte sich etwas nach vorne. Seine Augen, in denen sich noch die Energie des Mannes spiegelte, fixierten Tom erwartungsvoll.
Er hatte lange überlegt, sich aber am Ende dagegen entschieden, bei seiner Familie zu sein. Er hatte seine Eltern nochmals besucht, vor drei Tagen, hatte einen ganzen Tag mit ihnen verbracht und ihnen dabei zu erklären versucht, warum er in seinen letzten Stunden nicht bei ihnen sein konnte. Seine Mutter hatte Rotz und Wasser geheult und ihn angefleht, doch bitte zu bleiben und auch sein Vater war den Tränen nahe gewesen, was für den stolzen Mann sehr selten war. Aber Tom war konsequent geblieben.
»Wir werden uns ganz bald wiedersehen, das könnt ihr mir glauben«, hatte er ihnen immer wieder gesagt und versucht sie zu trösten, was jedoch vergebliche Liebesmühe gewesen war. Es hatte gedauert, bis er sich endlich aufgerafft hatte zu gehen, doch als er es getan hatte, war er mit einem Gefühl der Erleichterung gegangen. Es war ihm so vorgekommen, als würden seine Eltern wirklich damit zurechtkommen, dass sie ihren Sohn gerade das letzte Mal gesehen hatten.
Was er nicht wusste, war, dass sein Vater, der jahrelang Apotheker gewesen war und auch sehr erfolgreich einen eigenen, kleinen Laden in Toms altem Heimatort geführt hatte, heimlich eine Überdosis Schmerzmittel zur Seite geschafft hatte. Seine Eltern waren, nachdem ihr Sohn fort gewesen war, wieder zurück in ihr Haus und in ihr Schlafzimmer gegangen. Sie hatten stundenlang dagelegen und sich einfach nur angeschaut, die Nähe des anderen genossen, genauso wie sie es als Frischverheiratete getan hatten, sich irgendwann noch ein letztes Mal geliebt und dann einen tödlichen Cocktail aus Schlaftabletten und Alkohol zu sich genommen. Während ein immer schneller werdender Schwindel sie umschlossen hatte wie ein schwerer Handschuh, hatten sie sich in die Augen geschaut, tief und voller Ruhe. Ihre Gedanken waren bei ihrem Sohn gewesen und ihr letzter, sehnsüchtiger Wunsch war gewesen, dass er sich nicht irren würde mit seinem Versprechen.
Tom würde nie erfahren, was mit seinen Eltern passiert war. Wenn er es getan hätte, dann wäre er glücklich in dem Wissen gewesen, dass seine Eltern Frieden gefunden hatten, als sie starben. Er wusste und würde es im Laufe des Abends erfahren, dass dieses Privileg nicht unbedingt jedem zuteilwerden musste.
Er fühlte sich, als wäre in dieser Richtung alles geklärt. In seinem Leben gab es noch unzählige lose Enden, die er zu kitten hatte, aber dieses eine Kapitel war abgeschlossen und eines der wenigen Dinge, die er richtig gemacht hatte.
Daher sagte er zu Pfarrer Wutknecht: »Ich habe mich von meinen Eltern schon verabschiedet – und ganz ehrlich, ich glaube, meine Freunde brauchen geistigen Beistand heute etwas dringender als meine Eltern.« Es war ein sehr schwacher Versuch eines Witzes, was Pfarrer Wutknecht sofort merkte.
»Seien Sie ehrlich, Tom: Sie und Ihre Freunde haben sicher nicht vor, heute in einer stillen Runde Rosenkränze zu beten, oder?« Er lächelte, dieses Mal etwas überzeugender als zuvor, und das müde Grinsen wurde nicht von einer neuerlichen Schmerzwoge hinweggespült.
Tom lachte zweimal kurz auf.
»Nein, das haben wir wirklich nicht. Wir wollen einfach noch einmal zusammen sein.«
»Das ist schön. Freundschaft ist eine wunderbare Sache.« Mühsam richtete er sich auf. Kurzzeitig schien es, als würde er nicht mehr die Kraft finden, aus seinem tiefen Stuhl hochzukommen. Tom überlegte für einige Sekunden, ob er helfen sollte, entschied sich dann aber dagegen, denn mittlerweile kannte er den Stolz seines Mentors nur zu gut.
Als Pfarrer Wutknecht endlich auf den Beinen war, trat er auf Tom zu und legte die Hand auf seine Schulter. »Ich hoffe, ich war Ihnen auch so etwas wie ein Freund.« Sein Blick war ernst und durchdringend. So durchdringend, dass Tom einen Kloß im Hals bekam. In den Worten steckte keine große Sentimentalität, sondern nur ein ernster Wunsch.
»Ja, das waren Sie«, erwiderte er aufrichtig.
Die beiden Männer, die fast fünfzig Jahre Altersunterschied trennten, waren in den letzten Wochen wirklich so etwas wie Freunde geworden. Während die Welt Stück für Stück zugrunde gegangen war, hatten sie in den wenigen Pausen. die sie gehabt hatten. zusammengesessen und geredet. Über Gott, über den Sinn des Lebens und über das nahende Ende – und wie es wohl danach weitergehen würde.
Wutknecht hatte ihm eines Tages bei einem Schluck Wein, etwas anderes war in der Sakristei nicht verfügbar gewesen, seine Vorstellung von einem Jenseits erklärt.
»Ich glaube, es ist ein Ort voller Ruhe.« Er war sich über seine Rippen gefahren und hatte eine kleine Pause eingelegt, bevor er fortgesetzt hatte. »Ohne Leid und Schmerz, ein perfekter Zustand, den wir Menschen gar nicht erklären können, weil wir ihn nicht kennen. Absolute Zufriedenheit. So stelle ich es mir vor.« Er hatte danach einen langen Schluck aus seinem Plastikbecher genommen und seine wachen Augen auf Tom gerichtet. »Es brennt mir unter den Fingern, es zu fragen, entschuldigen Sie bitte einem alten Mann seine Neugier: Was erwarten Sie, Tom?«
Tom hatte nicht eine Sekunde gezögert, bevor er antwortete. »Kennen Sie den Film »The Green Mile«?«
Wutknecht hatte genickt.
»Dort gibt es eine Stelle. Der erste Mensch, der in diesem Film hingerichtet wird, zeichnet ein Bild von einem Himmel, auf das auch ich hoffe: dass man in seinem Tod genau in den Momenten weiterleben kann, in denen man am glücklichsten gewesen ist.« Tom hatte kurz gezögert und dann hinzugefügt: »Ich habe unzählige traurige Momente erlebt in meinen Leben, aber genauso viele unglaublich intensive und wunderschöne. Mit meinen Freunden, die für mich wie Brüder geworden sind. Mit Menschen, die mich unglaublich berührt haben.« Er stockte kurz, als schien er seine nächsten Worte genau zu überlegen, bevor er fortfuhr: »So was möchte ich bis in alle Ewigkeit erleben dürfen. Das wäre mein Himmel.«
»Eine schöne Vorstellung, Tom«, hatte Wutknecht zugestimmt und ihm mit seinem Becher zugeprostet. »Auf den Himmel – und den Teil davon, den wir schon auf Erden haben können!«
Und nun standen sie hier in der Sakristei und Tom schien es, als würde sich ein schwarzes Loch in seinem Inneren auftun. Er spürte, wie Tränen in seinen Augen aufstiegen, als er den Pfarrer, seinen Mentor, ein letztes Mal ansah.
»Machen Sie es gut.« Er reichte ihm die Hand, die Pfarrer Wutknecht überraschend fest umklammerte. Seine Stimme wirkte brüchig, als er wieder sprach. Tom wusste nicht, ob es von Rührung oder vom Krebs kam.
»Sie auch, Tom. Sie auch. Wir sehen uns bald wieder.« Es klang nach einem Versprechen für Tom, welches nun auch ihm etwas Hoffnung geben würde. So standen sie eine Weile da, bevor Wutknecht Toms Hand losließ.
Wir sehen uns bald wieder.
Ich hoffe es, Pfarrer Wutknecht, ich hoffe es. Ich hoffe, ich habe meine Schuld bezahlt.
»So, und jetzt gehen Sie! Sie sind noch verabredet und ich will nicht, dass Sie diese Verabredung wegen einem altem, sentimentalem Pfarrer, der langsam an Krebs stirbt, verpassen!« Er machte mit seinen Händen scheuchende Bewegungen, als wollte er Tom zur Eile antreiben. »Gehen Sie, Tom! Gehen Sie!«
Dieser lächelte, stockte gleichzeitig einen Moment. Vielleicht war jetzt die einzige Gelegenheit, seine Beichte abzulegen. Nein, nicht jetzt. Dies würde er mit dem Herren persönlich ausmachen. Tom hatte zu viel Achtung vor Pfarrer Wutknecht und wollte, dass die Achtung, die der alte Mann für ihn empfand, ebenso bestehen blieb.
Er drehte sich um und ging. Die Tür fiel leise hinter ihm ins Schloss.
Die Sonne schien noch sehr hell, als er auf die Straße trat, und die Hitze staute sich in den hohen Häuserschluchten. Es mussten gerade mindestens 36°C herrschen. Tom hatte kaum zwei Schritte gemacht, als er schon spürte, wie sich die ersten Schweißtropfen auf seiner Stirn bildeten und in kleinen Rinnsalen über seine Haut rannen.
Kein einziges Auto fuhr vorbei.
So etwas sah man hier in den letzten Wochen so gut wie gar nicht mehr. Wer eines besessen hatte, hatte damit nur zwei Richtungen gekannt: weg von hier, oder hierher, und zwar zum Seestadion. Tom hatte Geschichten gehört, die fast schon an Legenden grenzten. Ein Ort des Todes, hatte ihm eine Frau gesagt. Der Vorhof zur Hölle ein anderer. Er wusste, dass Chris dort gearbeitet hatte und hätte ihn auch gerne gefragt, was er dort gemacht hatte, hatte aber von Noah erfahren, mit dem Chris geredet hatte, er solle besser nicht darüber sprechen. Auch wenn es ihm unter den Fingern brannte, er entschloss sich, nichts zu sagen, bevor nicht Chris damit anfangen würde. Dies sah er als eine Art Freundschaftsdienst, bei dem auch manche Dinge unausgesprochen bleiben mussten.
Auch Pfarrer Wutknecht war mehrmals dort gewesen. Eines Tages, Tom hatte gerade die Sakramente gespendet, war der Pfarrer wieder zurückgekommen. Es war nicht möglich, dass wusste Tom, aber er hatte damals das Gefühl gehabt, dass der Pfarrer an diesem Tag noch kränker geworden war, oder zumindest um einige Jahre älter. Er hatte zerbrochen gewirkt, wie eine Statue, die man mit einem Hammer bearbeitet hatte. Seine Glieder waren steif und schwankend zugleich gewesen, er hatte sich immer wieder am kühlen Holz der Kirchenbänke festhalten müssen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Auf die Frage, was mit ihm los sei, hatte er nur erwidert, es sie die Hitze, die ihm zu schaffen machte.
Aber Tom hatte es ihm nicht geglaubt, und als er von Gemeindemitgliedern gehört hatte, was dort passieren sollte, wurde sein Verdacht zur bitteren Wahrheit.
Er würde Chris fragen müssen – viel Zeit hatte er dafür nicht mehr.
Ein kurzer Blick auf die Kirchturmuhr über ihm zeigte an, dass er noch etwas Zeit hatte. Nun stand er vor einer für einen Menschen fast unlösbaren Aufgabe. Wie sollte man Zeit totschlagen, wenn man keine mehr hatte? Die Welt würde in wenigen Stunden untergehen, und er musste sich überlegen, was er tun sollte, bevor er seine Freunde traf, um auf das Ende zu warten.
Er lachte kurz über die Ironie und schüttelte den Kopf. Nach einer Weile hatte er sich entschlossen, die Zeit mit einem kleinen Spaziergang totzuschlagen. Er könnte ja einen Umweg hin zum Zähringerplatz laufen, dort, wo er sich mit Chris verabredet hatte.
Mick würde nachkommen, das hatte er ihnen schon angekündigt – wobei das implizierte, dass man verstanden hätte, was er gesagt hatte. Vielmehr waren es unartikulierte Laute gewesen, die irgendwie nach »ommm siiiiiiiiiiiibn« geklungen hatten, als sie mit ihm gesprochen hatten. Es war wohl so ziemlich die letzte Gelegenheit gewesen, als die Telefone noch funktioniert hatten, bevor es immer wieder zu Stromausfällen gekommen war und damit verbunden zu Netzschwankungen. Konstanz hatte überraschenderweise Glück gehabt und war davon weitestgehend verschont geblieben.
Ja, er würde am Zähringerplatz warten, wie er es früher auch immer gemacht hatte, als er noch sechzehn gewesen war. Damals hatten er und seine Freunde immer versucht, gleichaltrigen Mädchen mit Alkohol zu imponieren und, so viel Ehrlichkeit konnte er sich heute eingestehen, sie betrunken zu machen.
Da er am ältesten ausgesehen hatte, war er meistens derjenige gewesen, der vorgeschickt worden war und sich in einem Supermarkt im Kellergeschoss eines großen Einkaufszentrums in die Schlange einreihte und gehofft hatte, dass die Verkäuferin nicht so genau hinschauten oder heute ihre Brille vergessen hatten. Dummerweise war dies jedoch eher die Ausnahme gewesen und so war er meistens nur mit Bier und anderen weniger stark alkoholischen Getränken aus dem Laden gekommen, die er in seinem jugendlichen Alter hatte kaufen dürfen.
Er musste grinsen, als er sich daran erinnerte, wie Noah sich einmal mit einer Verkäuferin angelegt hatte, als diese ihnen wieder den Wodka verwehrt hatte.
Kurz vor ihnen war ein Alkoholikerpärchen an der Reihe. Die beiden hatten so unglaublich penetrant nach Alkohol gestunken, dass Mick damals, es war eine der wenigen Gelegenheiten gewesen, wo alle vier Freunde sich in die Katakomben des Einkaufszentrums gewagt hatten, gesagt hatte: »Wenn die uns nichts verkaufen, dann schlecken wir einfach die beiden da ab! Das macht genauso besoffen, wetten wir?«
Die Frau hatte laut gelacht und dabei ihre gelben Zähne entblößt. Ihre fettigen Haare hatten gebebt, während sie das typische, krächzende Alkoholikerlachen angestimmt hatte. Keiner von den Freunden wusste, ob sie den Witz verstanden hatte oder einfach lachte, weil sie Aufmerksamkeit wollte.
Die Frau legte die sieben Flaschen Bier, die drei Flaschen Wodka und die zwei Flaschen Feigling in den Einkaufswagen und bezahlte die Verkäuferin in Pfennigstücken. Seufzend hatte die Kassiererin dies mit einem Blick über sich ergehen lassen, der darum bettelte, dass die Dame möglichst schnell wieder verschwinden würde. Damals gab es noch die D-Mark, aber sie war nicht mehr als ein Auslaufmodell, und die meisten Preise waren sowohl in Euro als auch in Mark ausgegeben.
Die Alkoholikerin kreischte wieder vor Lachen über einen Witz, den nur sie hörte und schob wankend ihren Einkaufwagen weg. Ihr Begleiter, dem ein speckiger Dreitagebart im Gesicht stand, folgte ihr schlurfend und desorientiert. Er stolperte, als er auf eine Rolltreppe steigen wollte und landete polternd auf dem Hintern. Mühsam richtete er sich wieder, klammerte sich an die Haltegriffe ließ sich von der Treppe nach oben befördern. Seine Hose war ihm über seinen Allerwertesten gerutscht und entblößte seine verdreckte, zerschlissene Unterhose, die wohl irgendwann mal weiß gewesen war, jetzt jedoch einen ungesunden Grauton angenommen hatte.
Dann kamen die vier Freunde an die Reihe. Keiner von ihnen kannte die Verkäuferin, daher hofften sie, es wäre eine Neue, die nicht so streng vorging, wie es in diesem Laden meistens üblich war – aber sie hatten sich geschnitten. Wie eine Oberlehrerin blickte sie über ihre Kasse die vier Jungs an und dann auf ihre potenziellen Einkäufe. Zwei Flaschen Wodka und ein Kasten Bier, dazu mehrere Schachteln Zigaretten.
»Ausweise?«, fragte sie trocken.
»Schülerausweis?«, fragte Noah grinsend. Eine ihrer neusten Erfindungen. Da in ihren Schülerausweisen das Alter von Hand reingeschrieben worden war, hatten sie folgenden Plan verfolgt: Sie hatten im Sekretariat ihrer Schule behauptet, sie hätten ihre Ausweise verloren und einen neuen beantragt. In einer großen Schule mit fast tausend Schülern hatten die Sekretärinnen meistens Besseres zu tun, als sich die Namen und die Gesichter von jedem zu merken. Sie warfen einen kurzen Blick auf ihre Listen und waren zufrieden, wenn der Name darauf vermerkt war.
Daher hatte damals die Sekretärin ohne groß aufzuschauen ihnen ihren Ausweis rübergeschoben und »ausfüllen« gemurmelt, während sie weiter mit ihrer Arbeit beschäftigt war. Dann hatten die Freunde einfach ihr Alter um zwei Jahre nach oben gesetzt und dies in den Ausweis eingetragen. Die Sekretärin hatte kurz die Jungs gemustert und sich dann wohl entschlossen, dass das Alter stimmte. Sie stempelte den Ausweis und gab ihn den Jungs zurück, die sich alle vier auf einmal wie Al Capone fühlten und sich schon auf die schöne, neue Welt freuten, in der sie jeden Alkohol bekamen, den sie wollten.
Aber da hatten sie ihre Rechnung ohne die Verkäuferin gemacht.
»Nein, ich würde gern den Personalausweis sehen.« Sie machte eine minimale Pause »Bitte.«
»Aber wir haben nur unsere Schülerausweise! Schauen Sie, da steht es!« Tom zeigte auf die gefälschten Geburtsdaten. »Da steht es doch. Wir sind 18.«
»Ihr wohnt in Konstanz. Wir sind so nahe an der Grenze, dass man per Gesetz IMMER seinen Personalausweis dabeihaben muss«, erwiderte die Frau. Sie wirkte fast genüsslich dabei.
»Ja, aber wir gehen nachher an den See, da nehmen wir nur einen Ausweis mit, den man eventuell auch verlieren kann, sollte man beklaut werden, während wir baden«, konterte Mick gekonnt. Es war Noah, der diese Scharade verdarb, denn er warf Mick einen respektvollen Blick zu. Die Verkäuferin merkte dies, nahm die Flaschen vom Band und stellte sie zu ihren Füßen.
»Netter Versuch, Jungs. Netter Versuch«, gab sie kühl zurück.
»Kennen Sie das Wort Bigotterie?«, fragte Noah spitz. Die Frau blickte ihn verwundert an.
»Genau das machen Sie. Verkaufen uns, die alle alt genug sind und auch clever genug, um Alkohol zu trinken, keinen Alkohol. Wir machen alle Abitur und ja, wir wissen, dass es kein Garant ist, dass wir keinen Blödsinn machen. Aber überlegen Sie sich mal eines. Für wen ist der Alkohol wohl gefährlicher: Für uns vier, die aufeinander aufpassen, auch wenn wir etwas zu viel trinken, die am Montag wieder zur Schule gehen und für unser Abitur arbeiten? Oder für die beiden, die gerade hier waren?« Er zog die Nase hoch und verzog angewidert das Gesicht. Die Duftwolke der beiden klebte noch an dieser Kasse. »Man kann sie noch riechen. Die beiden werden sich wohl zu Hause irgendwann in den Tod saufen, sind irgendwo jenseits von Zurechnungsfähigkeit, aber die bekommen Alkohol. Meinen Sie nicht auch, dass das falsch ist?«
Die Frau funkelte ihn wütend an und stellte die Flaschen wieder auf das Fließband. Sie spuckte den Endbetrag geradezu aus und Noah gab ihr grinsend das Geld. Warum es geklappt hatte, wussten die Freunde nicht. Vielleicht hatte es daran gelegen, dass Noah gerade wieder Luft geholt hatte und weiter ausführen wollte, warum sie jetzt unbedingt Alkohol brauchten, vielleicht hatte er die Frau auch einfach überzeugt.
Es war wunderschöner Abend geworden. Sie hatten Noah hochleben lassen, als sie aus dem Laden gekommen waren und dann an den See gegangen, dorthin, wo sie auch heute sein würden. Auch hatten sie ein paar Mädchen kennengelernt, die vor allem an Noah Gefallen gefunden hatten. Er war irgendwann gegen zwei Uhr morgens mit einer von ihnen verschwunden und eine Stunde später mit offener Hose und einem breiten Grinsen zurückgekommen.
Schöne Erinnerungen.
Während die Jungs älter geworden waren, hatte es immer wieder aufs Neue Sechzehnjährige gegeben, die versucht hatten, die Verkäuferin davon zu überzeugen, dass sie alt genug waren für Alkohol. Aber keiner schien es jemals wieder so geschafft zu haben wie Noah. Meistens saßen sie dann vor dem Einkaufszentrum, grimmig dreinblickend, und ließen ihren Frust an Fußgängern aus, die sie anpöbelten und denen sie Obszönitäten nachriefen.
Auch Tom, Mick, Chris und Noah hatten oft dort am Einkaufszentrum auf einer kleinen Mauer gesessen, geraucht, Frauen nachgeschaut und überlegt, was sie am Abend machen sollten, ob sie mit dem Bus in die Innenstadt fahren sollten, der direkt davor gehalten hatte, oder ob sie an den See gehen sollten.
Es waren schöne Zeiten gewesen.
Gewesen.
Sie waren vorbei. Seit Monaten saßen hier nun keine Jugendlichen mehr, die meistens mehr Kinder als Erwachsene gewesen waren, aber dies nicht hatten wahrhaben wollen und mit Unverständnis und sogar Wut darauf reagiert hatten, wenn man sie so behandelt hatte.
Auch sie waren so gewesen, alle vier, dessen war sich Tom mittlerweile bewusst, als er nun über die Straße ging, vorbei an einem Kiosk und dann vor der Mauer stehenblieb, auf der auch er so oft gesessen hatte.
Seufzend ließ er sich nieder und kramte in seiner Tasche nach einer Schachtel Zigaretten, nur um dann leise fluchend festzustellen, dass er keine mehr hatte. Eigentlich hatte er vor einem Jahr mit dem Rauchen aufgehört, zur Fastenzeit, aber er sah darin keinen Sinn mehr. An Lungenkrebs konnte er nun definitiv nicht mehr sterben.
Enttäuscht warf er die Packung in Richtung eines Mülleimers neben sich und blickte auf seine Uhr. Es würde noch dauern, bis Chris hier auftauchte und sie dann zum See gehen könnten.
Die Hitze war in der Zwischenzeit etwas erträglicher geworden. Wahrscheinlich war ihm der Temperaturschock so extrem vorgekommen, nachdem er aus der kühlen Kirche getreten war und dann in den Backofen, in dem Konstanz derzeit gegart wurde.
»Wenn ich jetzt schon schwitze …«, murmelte er leise und lachte auf. Es würde noch viel, viel heißer werden. Ein paar Millionen Grad ungefähr, wenn die Wissenschaftler recht behalten sollten.
Er blickte sich um, ob vielleicht Chris irgendwo in der Nähe war, aber es war weit und breit nichts von ihm zu sehen oder von sonst einem Menschen, die zu normalen Zeiten hier über die Bürgersteige flaniert waren.
Seufzend blickte er zu seiner weggeworfenen Schachtel Zigaretten, die zusammengeknüllt auf dem grauen Asphaltboden lag. Ein Nichtraucher könnte nie verstehen, was gerade in ihm vorging. Alan Carr, der Nichtraucherguru, hatte es immer als ein »kleines hungriges Monster« bezeichnet, das sich von Nikotin ernährte. Wenn es Hunger bekam, dann kreischte es umso lauter nach seinem Futter und gab erst wieder Ruhe, wenn es was zu fressen bekommen hatte.
Tom musste grinsen, denn diese Metapher schien wie die Faust aufs Auge zu passen. Nur schien das Monster nicht in seinem Kopf zu sitzen, vielmehr spürte er es in seiner Magengrube, wo es mürrisch auf und ab ging und genervt auf die anstehende Fütterung wartete.
»Gibt ja gleich was«, sagte Tom und stand stöhnend auf. Sein Hintern war sehr heiß geworden von den wenigen Sekunden auf den aufgeheizten Steinen, und er klopfte sich etwas gegen die Hose, um sie abzukühlen.
Wahrscheinlich würde er zum letzten Mal in seinem Leben in den Supermarkt im Keller des Einkaufszentrums gehen. Er erwartete nicht, dass er dort Glück haben und Zigaretten finden würde. Viel wahrscheinlicher war, dass alles, was auch nur irgendwie von Wert war, schon längst geplündert war und nun nur noch leere Regalskelette auf ihn warten würden.
Aber er wollte es versuchen.
Daher ging er die gefliesten Stufen des Centers hoch, um für sein Monster Futter zu suchen.
Immer wieder kreisten die Worte von Pfarrer Wutknecht in seinem Kopf. Ich hätte es ihm sagen müssen. Er hätte gewusst, was ich tun soll.
Nein, es ist richtig so. Der Herr wird mir verziehen haben. Ich habe meine Schuld abgearbeitet, sprach er beruhigend auf sich ein, konnte jedoch nicht sagen, ob dies blanker Selbstbetrug oder feste Überzeugung war. Manchmal lag zwischen diesen beiden Dingen nur ein papierdicker Grad, dachte er grimmig.
Das Kaufhaus war etwas kühler als draußen, aber dafür um einiges stickiger. Nach wenigen Metern musste er das erste Mal laut husten, was wie ein wütendes Bellen durch die leeren Räume hallte.
Die Geschäfte zu seiner Linken wie auch zu seiner Rechten waren komplett verwüstet und geplündert worden. Auf dem Boden lagen Zettel und zertrampelte Lebensmittel, die wohl beim Abtransport runtergefallen und in der Eile des Augenblicks dann zurückgelassen worden waren.
Eine Bäckerei war so verwüstet, dass man sich nur mit viel Fantasie vorstellen konnte, was hier mal verkauft worden war. Die Auslage war zertrümmert und teilweise waren sogar die Bleche rausgerissen worden. Der Ofen war weit offen und sandte sanfte, aber kaum noch riechbare Düfte nach frischem Gebäck aus. Davor lag in tausend kleinen Splittern das Glas der Vitrine, das wie scharfkantige Schneeflocken aussah.
Tom dachte an die Mohnschnecken, die er immer so gern gegessen hatte und auch an die Verkäuferin, die ihn meistens bedient hatte. Auch wenn er bisher nur im Seminar gewesen war, hatte sie wohl irgendwoher gewusst, dass er Priester werden würde und ihn immer mit »Herr Pfarrer« angesprochen. Auch wenn es nicht gestimmt hatte, so war dies jedes Mal eine Art von Kompliment für ihn gewesen und er war voller Stolz ein paar Zentimeter gewachsen. Für einige Sekunden merkte er, wie er rührselig bei diesem Gedanken wurde, aber er fing sich sofort wieder.
Ein Kleiderladen daneben schien vom Besitzer aufgegeben worden zu sein, denn auch hier gab es nichts mehr. Die Scheiben waren eingeschlagen und nur noch Kleiderbügel zeugten davon, dass hier einst Kleider gehangen hatten. Die Poster, auf denen junge, manchmal halb anorektische Models in die Kamera gegrinst hatten, waren entweder ebenfalls abgerissen oder hingen nur noch in Fetzen von der Wand wie stumme Zeugen der Zerstörung.
Die Stromaggregate in diesem Gebäude waren schon lange nicht mehr aktiv, daher brannte auch kein Licht. Nur durch die Glasschiebetüren hinter Tom und durch das große Dachfenster in der Mitte des Centers fiel fahl etwas Helligkeit, was jedoch reichte, dass er sich gut orientieren konnte. Kleine Staubflocken schwebten still und leise wie ein Mobile in der Luft, drehten sich in einem leisen Rhythmus hin und her und fielen später hinunter, nur damit andere ihren Platz einnehmen konnten.
Eine Apotheke hatte es wohl am schlimmsten erwischt, denn von ihr war nicht mehr als ein Rohbau übrig geblieben. Alles war umgestürzt und zerschlagen worden, zumindest soweit man es in dem Licht noch sehen konnte. Die Menschen schienen wie die Tiere über dieses Geschäft hergefallen zu sein, Heuschrecken gleich, die auf der Suche nach Nahrung alles aufgefressen hatten, was essbar gewesen war.
Ihre Ziele waren hier jedoch wohl nicht die Nahrungssuche gewesen, sondern – na ja, sie hätten auch ins Seestadion gehen können, um das zu bekommen, was sie hier wohl gesucht hatten.
Irgendwann stand Tom an einer Rolltreppe, die in das Kellergeschoss führte, sich aber nicht mehr bewegte. Er spürte, wie sich wieder ein Kloß in seinem Hals bildete, wenn auch dieses Mal aus Furcht. Die Treppe führte hinunter in eine undurchdringliche Dunkelheit und nur ein kleiner Teil des Kellergeschosses war noch durch das vom Deckenfenster hereinfallende Licht beleuchtet.
Er zögerte und versuchte sich zu entscheiden, wie dringend er die Zigaretten haben wollte. Je länger Tom jedoch in die Dunkelheit blickte, desto mulmiger wurde ihm zumute. Nach ungefähr einer Minute, in der er in seinem Kopf das Für und Wider abgewogen hatte, entschloss er sich doch, nach unten zu gehen. Sein Monster war lauter als die Angst, auch wenn sich die beiden ein heftiges Wortduell geliefert hatten.
Ich steige hinab in die Finsternis – ist es nicht genau das, was ich eventuell sogar wirklich verdiene? Man muss Zeichen sehen, um sie deuten zu können, dachte er – hoffentlich irre ich mich mit diesem.
Langsam und darauf bedacht, kein allzu lautes Geräusch beim Hinabsteigen zu machen, als könnte hinter seiner unbestimmten Angst mehr liegen, nährte er sich nun der Dunkelheit.
»HIIIIIIIIIIIIIIILFE!«
Der Schrei war laut und durchdringend, ließ Tom stolpern und fast die Treppe runterfallen. In letzter Sekunde konnte er sich am Griff festhalten, stieß sich jedoch schmerzhaft die Wade an den Spitzen der Rolltreppenrillen an, die sich wie stumpfe Messer in sein Bein bohrten. Scharf sog er die Luft ein und zog sich mühsam wieder nach oben. Er biss sich auf die Zunge, um nicht laut aufzuschreien, denn etwas sagte ihm, dass es besser war, ruhig zu sein.
»HIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIILFE!« Die Stimme überschlug sich mehrmals, dann hörte er ein leises Zischen, gefolgt von unverständlichem Gemurmel und einem Poltern.
Tom näherte sich der Finsternis vor ihm. Es war klar, dass der Schrei aus dieser Richtung kam. Irgendwo in dem Tiefen des Supermarktes passierte etwas und jemand brauchte Hilfe. Es wäre gelogen, wenn er sagen würde, er hätte es sich nicht überlegt, einfach wieder nach oben zurückzugehen. Vielmehr war es sogar so, dass er am liebsten sofort auf dem Fuße kehrtgemacht hätte und gegangen wäre.
Aber das hatte er einmal zu oft getan und daher war dies nun keine Option. Er hatte eine Schuld, die musste bezahlt werden.
Er erreichte die Lichtgrenze, drehte sich noch einmal sehnsüchtig um. Letzte Chance, dachte er sich, aber er ging weiter, wenn auch nicht ganz unbeirrt und mit einer gehörigen Portion Angst in seiner Brust.
Die Schuld.
Die Dunkelheit umschlang ihn wie ein Tuch, legte sie sich über ihn und verschluckte ihn komplett. Sein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen.
Er tastete sich langsam weiter, vorsichtig und unsicher, denn er wusste nicht, was vor ihm lag. Was er wusste, war, dass dieser Laden vor langer Zeit geplündert worden war. Noah war dabei gewesen, als die ersten Dämme brachen und die Menschen alles von Wert zusammengerafft und gierig nach oben geschleppt hatten. Es war eigentlich mehr als unwahrscheinlich, dass er hier noch Zigaretten finden würde. Warum war er dann hier unten? Vielleicht war es Vorsehung oder göttliche Fügung, wie es Pfarrer Wutknecht nennen würde.
Einen Grund würde es haben und er konnte nur drei Dinge hoffen: zum ersten, dass er sich hier drinnen nicht hoffnungslos verirren würde und nicht mehr reichzeitig rauskommen würde, bevor … Na ja, das wussten ja alle, was dann passieren würde. Zweitens, dass was auch immer er in diesem Kaufhaus finden sollte, ihn nicht früher töten würde, als er eigentlich vorgehabt hatte zu sterben.
Es konnte schließlich alles hier unten sein. Er hatte in den letzten Wochen immer wieder Rudel wilder Hunde gesehen, die von ihren Menschen ausgesetzt worden waren und nun durch die Innenstadt streunten auf der Suche nach Fressen – oder nach einer leichten Beute.
Auch Katzen marodierten durch die Stadt, ebenso auf ihre blanken Instinkte reduziert: fressen, um zu überleben. Mit den gemütlichen, oft zärtlichen und manchmal etwas verrückten Haustieren hatten diese Tiere nichts mehr zu tun. Sie hatten sich über die letzten Jahrhunderte dem Menschen immer mehr angepasst, wen wunderte es da noch, dass sich die Tiere jetzt ebenso schnell wieder zurückentwickelten, wie es die Menschen getan hatten?
Zu guter Letzt blieb ihm noch ein dritter und letzter, eher frommer Wunsch: Hoffentlich würde er hier für diese gute Tat wenigstens eine Schachtel Zigaretten finden. Er schüttelte seinen Kopf, als würde ihm dies helfen, diesen Gedanken sofort wieder loszuwerden. Er brauchte mehr als eine gute Tat … Dringend...
Unter seinen Füßen knirschte laut Glas. Er setzte noch vorsichtiger einen Fuß vor den anderen, um die unbekannte Gefahr, die in der Dunkelheit vor ihm lauerte, nicht zu warnen. Seine Hände tasteten sich blind durch die Finsternis, bis sie etwas Hartes spürten, an dem er sich entlanghangeln konnte. Früher war es die Gemüseauslage gewesen, doch heute war davon nichts mehr übrig außer dem grünen Podest, auf dem Obst und Früchte präsentiert worden waren. Ein leicht modriger Duft hing über der Auslage. Wahrscheinlich lagen hier irgendwo noch einige vergammelte Überreste, die in aller Seelenruhe vor sich hin schimmeln konnten.
»Komm schon, gib mir ein Zeichen«, murmelte er in die Dunkelheit. Er wusste in diesem Moment nicht, ob die Aufforderung an den Herrn oder an die Person ging, die gerade panisch geschrien hatte. Beides wäre ihm jedoch recht gewesen.
Er tippte auf ein junges Mädchen, das Hilfe brauchte. In den letzten Wochen war es immer wieder zu Vergewaltigungen gekommen, was Tom begrenzt verstehen, aber nicht nachvollziehen konnte. Überall konnte man Orgien feiern, aber manchen Menschen schien das wohl nicht zu reichen. Sie brauchten ein schreiendes, zappelndes junges Ding unter sich, welches sie beherrschen und demütigen konnten. Eine letzte Grenze, die man überschreiten konnte. Mord, Totschlag, Vergewaltigung. Es gab keinen irdischen Richter mehr, der darüber urteilen würde, welche Strafe angemessen war. Manche Menschen brauchten das, hatten vielleicht ihr gesamtes Leben mit diesem dunklen Wunsch gelebt, nur um ihn jetzt, im Angesicht des Endes, auszuleben – und wo wäre so etwas einfacher als hier, in einem Laden, in dem seit Wochen kein Mensch mehr gewesen war? Wer konnte denn ahnen, dass gerade heute ein nikotinabhängiger Pfarrer in spe hier herunterkommen würde?
Aber was würde er machen?, fragte sich Tom. Er war nicht gerade ein Bodybuilderbei Weitem. Er hatte sich auch seit der Grundschule nicht mehr geprügelt. Was wäre, wenn er gleich einer Gruppe von mehreren starken, hormongesteuerten Männern gegenüberstehen würde? Dann hätte er keine Chance. Sie könnten ihn innerhalb weniger Sekunden halbtot prügeln, dann das Mädchen weiter vergewaltigen und ihr Werk an ihm vollenden.
Aber er konnte jetzt nicht mehr einfach gehen, nein, nicht schon wieder. Daher schlich er sich weiter. Er vertraute darauf, dass er hier irgendwie wieder rauskommen würde. Wenn nicht, dann war das wohl seine Strafe.
»AAAAAAAAAAAAAAAAAUUH!« Eine Mischung aus Schmerzensschrei und blanker Angst dröhnte durch die Dunkelheit und schien dadurch noch verstärkt zu werden. »Halt deine Scheißfresse, du Schlampe!«, kam die schallende Antwort.
Ein klatschendes Geräusch.
Nach rechts.
Das Geräusch, zuvor diffus und schwer zu orten, wurde nun immer lauter. Unter seinen Füßen knackten trockene Nudeln, die beim Plündern heruntergefallen waren und sich dann über den gesamten Boden verteilt hatten. Er steckte in einer Zwickmühle. Würde er schnell laufen, würden die Nudeln unter seinen Füßen laut knirschen und ihn vielleicht verraten. Würde er weiter so langsam laufen, dann könnte er wohl nur noch die »Überreste« von dem jungen Ding einsammeln.
Leise fluchend schlich er weiter und wünschte sich, dass das Mädchen doch bitte wieder schreien würde, damit dieser Schrei die Geräusche überdecken würde, die er verursachte.
Jetzt sah er ein kurzes Aufflackern, ein paar Gänge weiter vor sich. Dort musste sich früher die Tiefkühlabteilung befunden haben, dachte er.
»Fick sie!«, jubelte eine Stimme, die er bisher noch nicht gehört hatte. »Fick sie!« Die Stimme kreischte, aber nicht vor Angst, sondern vor Freude und Erregung. »Mir geht da voll einer ab!«
»Mach jetzt, du Fotze! Wenn du dich wehrst, dann wird es nur länger dauern.«
»HIIIIIIIIIILF…« Weiter kam das Mädchen nicht, denn einer ihrer Vergewaltiger trat ihr gegen den Kopf und brachte sie so zum Schweigen. Tom konnte nicht einschätzen, wie alt sie war. Vielleicht war sie schon erwachsen, zumindest laut Ausweis, vielleicht aber auch jünger. Und ihre Peiniger? Auch dort konnte man keine Aussage treffen. Die Stimmen klangen nicht tief genug, um von vollkommen Erwachsenen zu stammen, aber bei Weitem nicht mehr wie die von Kindern. Dies konnte aber auch einfach an den Worten liegen, die sie mit so einer kalten Bösartigkeit aussprachen, dass Tom sich wünschte, es wären keine Kinder mehr, die zu so etwas fähig waren.
Er stockte und blieb stehen, da er vermutete, nur noch zwei Gänge entfernt zu sein. Er musste sich zwangsweise eine Art Schlachtplan überlegen, wie er vorgehen sollte.
Vielleicht ein Frontalangriff? Dann hätte er sicher das Überraschungsmoment auf seiner Seite. Aber wie sicher war es, dass ihm das überhaupt etwas nützte? Könnte er vielleicht irgendwie über die Regale klettern und sich von oben auf die Vergewaltiger stürzen? Wahrscheinlich würde das seine allgemeine Fitness nicht zulassen, ganz davon abgesehen, dass er die Regale nicht als stabil genug erachtete.
Er könnte sich von hinten anschleichen. Vielleicht würde er irgendwo auf dem Boden etwas finden, das man als Waffe einsetzten konnte. Abgebrochener Teil von einem Regal, vielleicht eine liegen gelassene Dose. Irgendwas, das man als Wurfgeschoss oder als Knüppel benutzen konnte.
Dagegen sprach leider, dass es stockdunkel war. Nur die diffus tanzenden Lichtkegel von Taschenlampen zwei Reihen von ihm entfernt spendeten etwas Licht, welches jedoch bei seiner Position komplett von der Dunkelheit geschluckt wurde.
Wie würde ein Bruce Willis bzw. ein John McClain jetzt vorgehen? Für eine Sekunde wünschte er sich, Chris wäre hier. Dieser hatte in seinem Leben so viele Actionfilme gesehen, dass er sicher mindestens eine Idee gehabt hätte, die halbwegs sinnvoll gewesen wäre und hoffentlich auch umsetzbar. Er wäre auch mutiger gewesen, hätte sich wohl direkt auf die beiden Kerle gestürzt und versucht, sie mit bloßer Faust niederzuringen. Wenn er es auch nicht geschafft hätte, dann wäre vielleicht wenigstens das Mädchen gerettet worden.
Noch besser wäre es, wenn Mick jetzt hier gewesen wäre. Der war für solche Situationen ausgebildet worden, hatte einen braunen Gürtel in Karate und machte mehrmals pro Woche Krav Maga. Er hätte die beiden sicher binnen Sekunden zu zwei heulenden Klumpen Mensch verarbeitet.
Vielleicht sollte er einfach eine Drohung rufen, sich wie ein starker Mann aufspielen. Es könnte die beiden einschüchtern.
Oder ich drehe einfach um und gehe. Ist nicht meine Angelegenheit.
Langsam tastete er sich weiter, dieses Mal jedoch mit den Händen auf dem kalten Steinboden. Alle paar Zentimeter spürte er die gefugten Fliesen, mehr jedoch nicht. Der Boden wirkte kalt wie Eis unter seinen vor Anspannung bebenden Fingern. Er fand nichts. Keine Dosen, die als provisorisches Wurfgeschoss dienen konnten, keinen Stock – gar nichts.
Er seufzte so laut und vernehmlich, dass das Stöhnen zwei Gänge weiter kurzzeitig stoppte. Er erstarrte in seiner Bewegung, biss sich wütend auf die Lippe und fluchte leise über seine eigene Unachtsamkeit.
Die Stille war fast so undurchdringlich wie die Dunkelheit. Ängstlich schluckte Tom und sandte ein Stoßgebet gen Himmel. Während er betete, merkte er jedoch, dass er nicht wusste wofür. Bitte hilf mir, den beiden ordentlich in den Arsch zu treten? Bitte lass sie mich nicht töten? Egal was er bitten wollte, alles schien als Konsequenz zu haben, dass jemand verletzt oder getötet werden würde.
Soviel dazu, meine Schuld loszuwerden.
»Was soll’s. Dann warte ich eben im Himmel auf Pfarrer Wutknecht, wenn es schief gehen sollte und sie mich überwältigen.« Es war der schwache Versuch einer Eigenmotivation, die jedoch gründlich daneben ging.
Gott will die Menschen reifen sehen, an Herausforderungen sollen sie wachsen und so beweisen, dass sie es wert sind. Das Schlimmste ist vielleicht nicht die Hölle, die uns nach dem Tod erwartet, sondern eine weitere Runde auf der Erde, da wir uns noch nicht als würdig erwiesen haben. Daher gibt es Leid – es ist nur dafür da, dass der Mensch an selbigem wächst und reift. Wenn es Gott gefällt und er genug gesehen hat, dann zieht man ins Himmelreich ein. Der Asteroid ist wohl jetzt die letzte Prüfung – das waren die Worte von Pfarrer Wutknecht gewesen.
Dann versuche ich mich mal zu beweisen, dachte Tom.
Das Stöhnen hatte wieder eingesetzt, ebenso wie das leise Wimmern des Mädchens.
Er tastete sich weiter nach vorne, konnte aber einfach nichts finden, bis er mit seinem Kopf an etwas Hartes stieß. Der Aufprall war nicht laut genug, um die beiden Vergewaltiger nochmals zu erschrecken, aber doch schmerzhaft genug, dass Tom vernehmlich Luft einzog. Er kniete sich kurz hin, da er ein paar Sekunden warten wollte, bis der Schmerz verschwunden war, ebenso wie der leichte Schwindel in seinem dumpf dröhnenden Schädel. Kleine, bunte Punkte tanzten wie Derwische vor seinen Augen, während der Schmerz pochend durch seinen Kopf jagte. Seine Hände fielen auf etwas Metallisches, Hartes. Verwundert zog er vorsichtig daran, bis er merkte, dass es sich bewegen ließ.
Es war eine große Metallstange, die früher dazu gedient hatte, dass die Einkaufswägen nicht gegen die Tiefkühltruhen gefahren wurden. Eine Art Stopper, wenn man so wollte. Was Tom nicht wusste, da er es in der Dunkelheit nicht sehen konnte, war, dass das eine Ende voller Blut war. Als hier geplündert worden war, hatten einige Männer diese Stange abgerissen und waren damit auf die Menschen losgegangen, die mehr Nahrungsmittel ergattert hatten als sie. Einige Gänge weiter, bei der Fleischtheke, lagen jetzt noch langsam verwesende Leichen. Nur die kühle Umgebungsluft des Kellergeschosses hatte dafür gesorgt, dass die Verwesung noch nicht so weit fortgeschritten war und sich ihr Geruch nach wenigen Metern komplett verlor.
Tom hatte von solchen Plünderungen nur über Dritte mitbekommen. Manche Menschen hatten sich zusammengetan, hatten sich sogar noch in den letzten Wochen geholfen und unterstützt, andere hatten sich zurückentwickelt zu Tieren, die nur an ihr eigenes Überleben dachten. Jedoch die, die sich weiterhin hilfsbereit verhalten hatten, hatten unter anderem auch ihn und Pfarrer Wutknecht mit Lebensmitteln versorgt, quasi als Gegenleistung für ihre moralische Unterstützung.
Am Ende war es egal gewesen. So oder so hatten sie geplündert. Es war nur eine Frage der Perspektive, ob es nun gerechtfertigt oder ob es komplett falsch gewesen war.
Tom nahm die Eisenstange hoch. Sie wog schwer und lag kalt in seinen Händen. Er wusste nicht, wie viel sie aushalten würde und ob sie vielleicht sogar nach einen Schlag brechen würde, auch wenn sie sich sehr massiv anfühlte. Wenn, dann würde es vielleicht reichen, um dem Mädchen eine Chance einzuräumen. Mit einem Schlag konnte man sehr viel kaputtmachen, das wusste er.
Vorsichtig schlich er weiter, vorbei am nächsten Gang zu dem, in dem die Vergewaltigung vor sich ging. Vorsichtig spähte er um die Ecke. Im spastisch zuckenden Schein der Taschenlampen lag ein schmächtiger Junge, er mochte höchsten siebzehn oder achtzehn sein, auf einem Mädchen, welches sicher nicht viel älter war. Sein Freund stand geifernd daneben, mit der einen Hand in der Hose und weit aufgerissenen, geilen Augen, die vor Lust funkelten.
Angewidert umklammerte Tom die Eisenstange in seiner Hand noch etwas fester und machte langsam einen Schritt in den Gang. Kleine Pfützen, die von den abgetauten Tiefkühlaggregaten stammten, hatten sich auf dem Boden gebildet. Das Licht der Taschenlampen erzeugte Tausende kleiner Lichter auf den nassen Boden.
Das Wasser roch modrig und faul, mischte sich nun auch mit dem Gestank der Leichen, die etwas weiter entfernt lagen, übertünchte jedoch den süßen, penetranten Totenduft. Tom nahm es nicht wahr.
Vorsichtig, einen Fuß vor den anderen setzend, bewegte er sich in Richtung der beiden Jungen. Das Mädchen hatte augenscheinlich aufgegeben, sich zu wehren. Sie lag leise schluchzend da und ließ das Ungeheuerliche über sich ergehen wie eine Puppe. Sie blickte in seine Richtung, sah aber direkt durch ihn hindurch, als wäre er aus Glas.
Es war sein Glück, dass die beiden viel zu sehr in ihre Tat vertieft waren, denn sonst hätten sie ihn mittlerweile garantiert bemerkt. So konnte er sich jedoch weiter leise und vorsichtig anschleichen. Das Wasser unter seinen Füßen platschte leise und schwappte in konzentrischen Wellen über den Boden. Er hob das Rohr, als wäre es ein Baseballschläger und er ein Schlagmann, der darauf wartete, einen Ball aus dem Stadion zu schlagen.
Ihn trennten nur noch ungefähr drei Schritte bis zu den beiden Kerlen auf dem jungen Ding. Er umklammerte seinen Schläger nochmals fester. Seine feuchten Hände quietschten leise auf dem Metall.
In seinem Inneren machte sich eine brutale, gnadenlose Entschlossenheit breit. Er würde dieses Mädchen retten, egal was es kosten würde. Das war er sich selbst einfach schuldig.
Einen Schritt noch.
Seine Fußspitze berührte fast schon die Ferse des Jungen, der grunzend und stöhnend immer wieder mit seiner Hüfte auf das Mädchen einstieß wie mit einem fleischigen Messer.
»Was zum …?«, fragte der andere erschrocken. Das Licht seiner Taschenlampe glitt zu Tom, der seinen Blick jedoch nur auf den am Boden Liegenden gerichtet hatte. Das war sein Glück, denn sonst hätte der helle Strahl der Lampe ihn wahrscheinlich im ersten Moment geblendet. So jedoch spürte er nur, dass es plötzlich heller wurde, aber seine Augen krampften sich nicht zusammen.
Er holte noch etwas weiter aus.
Der Junge am Boden drehte sich erschrocken und leicht verärgert um. Sein Gesicht wurde fahl und seine Augen weiteten sich vor Schreck, als er Tom sah, der aus seiner Position wie ein Hüne wirkte, ein Relikt aus einer anderen, dunkleren Zeit, der über seinem Kopf seine Streitaxt schwang. Das Licht, welches sein Kumpel auf ihn warf, fiel in so einem diffusen Winkel auf Tom, dass der Großteil seines Gesichts im Schatten lang und ihm zusätzlich eine dunkle und bedrohliche Aura verschaffte.
All das passierte in wenigen Sekunden, ebenso wie Toms Schlag. Er ließ die Stange durch die Luft sausen, und mit tödlicher Sicherheit traf sie den Jungen seitlich am Kopf. Der Schädel knackte laut, als er einer Walnuss gleich brach. Sofort kippte der Junge zur Seite und blieb zuckend liegen.
Tom richtete seinen Blick langsam nach oben auf den anderen, der immer noch seine Hand in seiner Hose hatte und wahrscheinlich sein Ding umklammerte. Voller Schreck über Toms plötzliches Auftauchen und seinen brutalen Schlag gegen den Kopf seines Freundes hatte er die Taschenlampe sinken lassen. Der Lichtkegel ruhte nun auf seinem Freund am Boden. Tom holte erneut aus und machte, während er zuschlug, noch einen Schritt nach vorne. Dies potenzierte sich und machte den Schlag, der gegen den zweiten Jungen geführt wurde, noch brutaler. Es pflügte den Jungen von den Beinen und warf ihn kopfüber in eine der Tiefkühltruhen, in der er bewusstlos liegen blieb. Er hatte nicht einmal mehr die Zeit, sein mittlerweile schlaffes Glied loszulassen, geschweige denn einen erschreckten Aufschrei aus seiner Kehle zu pressen.
Seine Taschenlampe fiel mit einem lauten Klirren zu Boden, rollte zur Seite und blieb dann liegen. Der am Boden Liegende lebte noch, das war eindeutig, aber wahrscheinlich würde er ohne Hilfe recht bald sterben. Blut tropfte ihm aus dem Ohr, und seine Augen zuckten panisch hin und her. Aber er bewegte sich nicht koordiniert, sondern nur spastisch und unwillkürlich.
Tom überlegte sich, was er jetzt machen sollte. Das Mädchen am Boden hatte sich sowohl von ihm als auch von seinen Peinigern weggedreht,lag nun in der Embryonalstellung am Boden und schluchzte leise vor sich hin.
Liegen lassen wollte er sie nicht. Aber hier raustragen? Das war ihm irgendwie zu gefährlich. Wahrscheinlich würden sie doch eh sterben, noch bevor der Rest der Welt ihnen folgen würde. Aber konnte man sich da sicher sein? Dieses Dilemma konnte er nicht ohne Weiteres lösen, dessen war er sich bewusst. Daher tat er das, was er davor auch schon so oft getan hatte.
Tom ging zu jedem von ihnen hin, sprach die Sterbesakramente und ein Gebet für die Seelen der beiden, die eigentlich noch Kinder gewesen waren, auch wenn sie es sich sicher nie eingestanden hätten. Vergib ihnen, denn sie wussten nicht, was sie taten – ich habe es gewusst und ich hoffe, du bist damit zufrieden und vergibst auch mir. Ich wollte nur helfen und meine Schuld begleichen.
Dann beugte er sich zu dem Mädchen.
»Hey«, flüsterte er und streichelte ihre Wange. Sie trug keine Hose und zwischen ihren Beinen mischte sich Blut mit dem Kondenswasser auf dem Boden. Er wandte seinen Blick starr auf ihr Gesicht, bevor Bilder in seinem Kopf aufsteigen konnten, für die er in diesem Moment nicht bereit war.
»Hörst du mich?«, fragte er sanft und freundlich »Ich will dir nichts tun. Ich will dir helfen.«
Das Mädchen drehte sich langsam um und blickte ihn misstrauisch an. Tom griff nach der Taschenlampe und hielt sie sich ins Gesicht. Das grelle Licht blendete ihn und er musste kurzzeitig die Augen schließen.
»Ich heiße Tom. Ich bin«, er stockte, »Pfarrer.«
»Ein Pfarrer tötet keine Menschen«, gab das Mädchen schluchzend zurück. Immerhin reagierte sie auf ihn, dachte er sich. Das Misstrauen in ihrer Stimme war nur verständlich.
»Aber er beschützt seine Herde.« Er strich ihr nochmals sanft über die Wange. »Wie geht es dir?«
»Es tut furchtbar weh«, schluchzte leise. Ihre Hand wanderte auf ihren Bauch, fuhr etwas weiter runter in Richtung ihrer Scham. Dann zuckte sie zurück, als hätte sie sich verbrannt. »So weh.«
»Das glaube ich dir. Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte er so einfühlsam wie er nur konnte. Er legte ihr vorsichtig die Hand auf die Schulter. Sie zuckte nicht zurück, aber zitterte noch immer unkontrolliert.
»Ich will nach Hause. Ich will nach Hause.« Sie richtete sich auf und blickte sich um. Tom zuckte erschrocken zurück. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie auf einmal so energiegeladen sein würde.
Sie bedeckte sich nicht, was Tom jedoch nicht auffiel. Er versuchte ihrem Blick zu folgen, um rauszubekommen was sie wollte. Er ließ die Taschenlampe über den Gang wandern, bis er irgendwann im Lichtkegel die Hose des Mädchens fand. Sie war dem Schein der Lampe offensichtlich gefolgt, denn nun versuchte sie sich an der Kühltruhe hochzuziehen, rutschte jedoch geschwächt auf dem nassen Boden aus und fiel wieder hin.
»Ich hole sie dir«, sagte Tom und stand auf.
Als er wieder zurück zum Mädchen kam, hatte es seine Knie bis unter das Kinn angezogen und blickte schockiert und starr vor sich hin. Die plötzliche Energie war wieder so schnell verschwunden, wie sie gekommen war.
»Kannst du sie dir selber anziehen?« Diese Worte schienen erst durch einen Schleier dringen zu müssen, bevor das Mädchen sie wahrnahm. Dann nickte sie und nahm die Hose.
Tom drehte sich um, während er wartete, bis sie sich angezogen hatte. Nach einer Weile wagte er sich wieder umzudrehen. Das Mädchen wirkte wie zerstört. Desolat blickte es mit trüben und leblosen Augen auf die Leichen der beiden Vergewaltiger am Boden. Keine Regung zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Es schien, als würde sie irgendwo weit, weit weg sein.
»Kannst du gehen?«, fragte Tom, aber sie ignorierte ihn. Er wartete eine Weile, bevor er sich sicher sein konnte, dass das Mädchen nicht reagieren würde. Dann legte er seine Hand auf ihre Schulter. Sie zuckte sofort weg, als wären seine Finger elektrisch geladen und hätten ihr gerade einen Schock verpasst.
Dann geschah alles recht schnell. Sie beugte sich nach unten und packte die Taschenlampe, die noch am Boden gelegen hatte. Sie nahm sie auf und verschwand. Sie drehte sich nicht um, sagte kein Wort, sondern ging einfach.
Tom blickte ihr etwas irritiert hinterher, stirnrunzelnd, ob er ihr folgen sollte oder nicht. Er machte einen Schritt hinter ihr her, blieb dann jedoch zögernd stehen. Letztlich konnte er doch nichts mehr tun, dachte er sich.
Er schaute wieder auf die Leichen der Jungen. Sofern sie wirklich schon tot waren, was er nicht mit Sicherheit sagen konnte. Am Ende waren sie alle Leichen – manche hatten nur noch einen Puls, wie er und das Mädchen.
Es tat ihm leid. Nicht, dass die beiden bald tot sein würden, sondern mehr, dass sie in solch einer Welt hatten leben müssen. Sie hatten sicher Träume gehabt, Hoffnungen und Ziele, die von «Bright Bob« allesamt zerstört worden waren. Er war sich sicher, dass der Mensch im Innersten gut war, genau wie diese beiden. Es waren die Umstände, die sie zu solch einer brutalen Tat getrieben hatten.
»Jetzt geht es euch besser«, sagte er sanft, auch wenn er sich nicht des Gefühls erwehren konnte, dass er irgendwie gerade gelogen hatte.
Vielleicht war es dieses Mal richtig gewesen, so zu handeln. Vielleicht.
Auch er drehte sich weg und ließ die beiden zurück. Mit der Taschenlampe in seiner Hand hatte er es entschieden leichter, wieder seinen Weg zurückzufinden. Schnellen Schrittes folgte er den Gängen in Richtung der Kassen und somit zum Ausgang.
Als er dort ankam, blieb er kurz stehen. Das Monster, welches sich davor recht leise verhalten und vielleicht das Spektakel genossen hatte, meldete sich nun noch vernehmlicher wieder und Tom wollte diesen Forderungen nur zu gerne nachkommen.
Er ging von Kasse zu Kasse und untersuchte die Regale, ob irgendwo noch eine Schachtel Zigaretten lag. Es war die achte von insgesamt zehn Kassen, an der er fündig wurde. Nicht im Regal, sondern am Boden davor lagen vier Schachteln. Sie waren etwas platt getreten worden, aber schienen noch intakt zu sein.
»Rauchen kann tödlich sein.« Tom lachte kurz auf. Das war nun nicht mehr tragisch, dachte er sich. Er zündete sich die erste Zigarette direkt im Laden an und ließ den Kegel der Taschenlampe nochmals über die leergefegten Regale wandern.
Das gesamte Geschäft wirkte, als hätte man vorgehabt, es einer Grundreinigung zu unterziehen. Alles war rausgerissen worden und nichts, absolut gar nichts mehr übrig. Die Regale waren bis auf den letzten Artikel leergefegt. Für ihn, der er sein gesamtes Studium Symbole und Riten gedeutet hatte, war dies hier ein besonderes grausames Symbol: der Untergang der westlichen Welt. Alles, was diese Welt so komfortabel gemacht hatte, war geklaut worden, um vielleicht noch ein bisschen länger an diesem Lebensstil festzuhalten.
Er zog an der Zigarette.
Die beiden Jungs würden, falls sie wieder zu sich kämen, sicher den Weg hier raus finden. Es würde dauern, aber das würde dann bedeuten, dass sie die letzten Stunden ihres viel zu kurzen Lebens wenigstens nicht mit weiteren Gräueltaten verbringen würden.
Wenn sie noch leben sollten.
Mehr konnte er in dieser Situation nicht für sie tun.
Dann drehte er sich um. Die Taschenlampe legte er auf ein Förderband und ließ sie dort liegen. Sie strahlte bis zum Ende der leeren Regale.
Seine Finger begannen zu zittern, als ihm klar wurde, was gerade passiert war.
Die Regale waren leer.
Er hörte ein leises, metallisches Pochen hinter sich. Er musste sich nicht umdrehen um zu wissen, dass es dieses junge Mädchen war, das gerade die Rolltreppe hochging.
Wo würde sie wohl hingehen? Zu ihren Eltern, zu einer Freundin? Es tat ihm in der Seele weh, wenn er sich überlegte, dass dieses arme Ding seine letzten Stunden mit dem Gewissen verbringen musste, dass es gerade vergewaltigt worden war.
Die Welt war ein grausamer Ort.