Читать книгу Devolution - Ralph Denzel - Страница 6
Tom und Chris
ОглавлениеGedanken, vor allem schlechte, können wie Krebs sein. Sie beginnen zuerst winzig, auf einer Mikroebene, können sich dann jedoch immer weiter ausbreiten, bis sie einen in den Wahnsinn bzw. in den Tod führen.
Tom wusste das. In den letzten Monaten hatte er sehr oft erleben müssen, wie ihn eine schreckliche Erinnerung immer und immer wieder gejagt und gequält hatte, bis ihm Pfarrer Wutknecht einen Gedankentipp, wie er es genannt hatte, gegeben hatte.
»Stellen Sie sich ein riesiges Lager vor«, hatte er begonnen. »Eine Lagerhalle, mit Abertausenden von Paketen, die sich bis unter die Decke stapeln. Das sind Ihre Gedanken. Es liegt an Ihnen, Ordnung in dieses Chaos zu bringen. Nun stellen Sie sich einen Logistiker vor, der über dieses Chaos Herr ist und weiß, wo welche Gedanken sind. Er muss sie folglich nur abrufen. Und nun gehen Sie noch einen Schritt weiter: Wenn Ihre Gedanken Pakete sind und Sie der Logistiker, dann sind es auch Sie, der dafür zuständig ist, wo die Pakete stehen. Daher stellen Sie Ihre belastenden Gedanken, wenn Sie sich nicht mit Ihnen beschäftigen wollen, so weit nach hinten, wie es Ihnen irgendwie möglich ist. Sie sind immer noch da, aber sie müssen nicht sofort bearbeitet werden. Irgendwann können Sie sie dann bearbeiten, wenn Sie sich bereit fühlen.«
Was weder Tom noch Pfarrer Wutknecht wussten, war, dass, als der Pfarrer diese Technik von einem Psychologen beigebracht bekommen hatte, in diesem selben Seminar Chris gesessen und diesen ebenfalls Ausführungen gelauscht hatte. Die Welt war klein.
Tom hatte ihn verwirrt angeschaut und Pfarrer Wutknecht hatte gesagt: »Wissen Sie, der Dienst an Gott ist das erfüllendste, was ich mir vorstellen kann. Gleichzeitig ist es ein ungeheurer Kraftakt. Manchmal muss man sich einfach Zeit für sich nehmen, sonst würde man es nicht schaffen. Sie müssen sich auch mit schlimmen Dingen beschäftigen, derzeit mehr als irgendwer sonst. Aber Sie dürfen darüber nicht sich selbst vergessen. Kümmern Sie sich um Ihre Dämonen, aber nur dann, wenn Sie dafür bereit sind, es mit ihnen aufzunehmen.«
Daher stellte sich Tom dies gerade bildlich vor, während er auf den roten Stufen des Einkaufszentrums saß und mit leicht zitternden Fingern seine Zigarette rauchte. Das Adrenalin pumpte immer noch durch seine Venen, als in seinem Kopf der Logistiker Tom das Geschehene nahm und in ein großes, rotes Paket packte, auf dem in Neonlettern »VORSICHT GEFAHR« stand. Dann nahm er dieses Paket und trug es in die hinterste Ecke des Lagers, wo er es ablegte, zu all den anderen roten Paketen. Es waren nicht mehr so viele, wie es schon gewesen waren, genau genommen nur noch eines.
Beide würde Tom nicht öffnen wollen. Wenn es gut lief, dann würden diese Pakete in der Halle liegen, bis es zu Ende wäre.
»Hey Pfaffe! Hock nicht so faul rum und hilf mir lieber!« Fast schon schuldbewusst zuckte Tom zusammen und drehte sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Ein Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Sein Logistiker drehte gerade um eine Ecke und verschwand mit dem Paket.
»Wenn das mal nicht der Rettungsgispel ist!«, lachte er und ging auf Chris zu, der gerade die Straße entlangkam, eine Kiste Bier in den Händen.
Die beiden Männer trafen sich in der Mitte, Chris stellte die Kiste ab, dann umarmten sie sich.
»Schön, dich zu sehen, mein Freund«, sagte Tom und meinte es so, wie er es sagte.
»Könnte ich doch nur das Gleiche zu dir sagen«, erwiderte Chris grinsend. Tom merkte, dass diese Worte eher künstlich klangen, als wären sie ein einstudierter Text eines schlechten Schauspielers.
»Es gibt schlechtere Gesellschaft, mit der man den Weltuntergang begehen könnte, als meine!«, protestierte Tom gespielt.
»Aber nicht viele«, konterte Chris. »Aber jetzt rede nicht so viel, sondern hilf mir mit dieser verdammten Kiste. Die ist scheißschwer!«
Tom packte die eine Seite der Bierkiste und Chris die andere. Dann warf er einen Blick auf seine Armbanduhr.
»Wir sollten uns etwas beeilen. Es ist bald sieben.«
»Ich bin mir sicher, dass wir nicht zu spät kommen. Oder glaubst du, dass Mick oder Noah schon da sein werden?«
»Hast recht.« Tom warf Chris einen fragenden Blick zu. »Alles in Ordnung?« Die beiden Männer kannten sich so lange, dass sie einander lesen konnten wie ein offenes Buch, und Chris stand gerade ins Gesicht geschrieben, dass er nicht in der besten Stimmung war. Gut, das war in Anbetracht der gegebenen Umstände nicht verwunderlich, aber da war noch was anderes, was Tom nicht auf Anhieb deuten konnte.
»Ist es – wegen dem Stadion?«, fragte er mit fester, ermutigender Stimme, während sie die Kiste Bier über eine Fußgängerbrücke auf die andere Seite trugen.
»Seestadion?«, erwiderte Chris abwesend.
»Gibt es ein anderes mit Relevanz für dich?«
Chris lachte kurz auf. »Ich will nicht drüber reden. Lass mich erst einmal ein Bier trinken, etwas zur Ruhe kommen. Vielleicht auch, wenn die anderen da sind. Ich weiß es nicht.« Er zögerte, bevor er weitersprach. »Vielleicht will ich auch gar nicht mehr darüber reden. Jetzt ist es eh bald vorbei.«
»War es so schlimm, wie man sich erzählt hat?«
Chris blieb kurz stehen. Sein Blick war kühl und distanziert, aber gleichzeitig von einer tiefen Ergriffenheit. Stirnrunzelnd meinte er: »Schlimmer als das … Wer davon erzählen konnte, der war wohl nicht wirklich da.«
»Rede mit mir, Chris.« Es war die Sorge um seinen Freund, die Tom zu dieser Frage antrieb.
»Später, Tom. Später«, wiegelte Chris ab. In seinen Worten hing eine Angst, die Tom frösteln ließ, obwohl es immer noch weit über 30° C hatte.
Damit gingen sie weiter, in Richtung Bodensee. Es war zehn vor sieben, als sie »ihre« Parkbank erreichten und sich setzten. Das Licht flimmerte auf dem See und ließ Tausende Diamanten auf der Wasseroberfläche tanzen.
Majestätisch erstreckte sich der See vor ihnen, links konnten sie die Innenstadt sehen, das Münster, die alten Häuser und das ehemalige Kloster. Auf der gegenüberliegenden Seite des Sees waren Dörfer, oder Städte? Keiner von beiden wusste es, sie hatten sich nie damit beschäftig und würden es jetzt wohl auch nicht mehr erfahren.
Aber keine Boote waren zu sehen. Dabei war heute perfektes Segelwetter.
Letzte Chance!
Seufzend nahm Chris ein Bier und trank einen tiefen Schluck, ebenso wie Tom.
Sie blickten beide fast simultan auf ihre Uhr.
Zwei von vieren waren da.
Vor allem Tom hatte von seinen Schäfchen immer wieder erzählt bekommen, dass einige Menschen einfach aus Spaß andere umgebracht hatten. Sie besorgten sich eine Waffe, vielleicht ein Messer oder ein Schwert aus einem Waffenladen in der Innenstadt und gingen damit auf Menschenjagd. Es war ihnen egal, wen sie erwischten, solange sie ihre perfide Blutgier befriedigen konnten.
Chris nahm einen weiteren tiefen Schluck aus seiner Flasche. Das Bier war angenehm kühl. Der See rauschte in der langsam einsetzenden Abenddämmerung leise vor sich hin. Über ihnen standen zwei grelle, gelbe Sonnen.
Chris Blick wanderte über das Panorama. Seine Hand krampfte sich leicht zusammen, als sein Blick in Richtung Westen wanderte, dort, wo auch ein neuerlicher Geruch nach Tod herkam. Dann drehte er sich zu Tom.
»Willst du wirklich hören, was ich gesehen habe?«
Tom nickte nur stumm und fixierte seinen Freund mit dem aufmunterndsten Blick, den er hatte.
Chris begann zu erzählen. Ruhig und sachlich schilderte er seine Erlebnisse und Tom hörte zu.
Chris hatte recht gehabt: Wer dagewesen war, der hatte nicht davon erzählen können. Eigentlich. Die Worte, die mit einer erschreckenden Kühle aus ihm heraussprudelten, waren erschreckend, vor allem in ihrem symbolischen Charakter für das, was gerade in der Welt passierte, dachte sich Tom traurig.
»Großer Gott.« Mehr bekam Tom nicht raus.
Er zündete sich eine weitere Zigarette an, reichte die Schachtel an Chris weiter, der dankend ebenfalls eine nahm. Schnell inhalierte er den Rauch und erzählte zu Ende.
Als er fertig war, hörten sie Schritte hinter sich. Schlurfend nährte sich jemand. Sie drehten sich um, dann waren die Freunde zu dritt.