Читать книгу Die kalte Stadt - Ralph Roger Glöckler - Страница 5
ОглавлениеIch habe mich nach einigem Zögern dazu entschlossen, die Geschichte eines Freundes zu erzählen, habe aus ganz bestimmten Gründen gezögert, die nichts damit zu tun haben, dass die Geschichte Günther Neubergers, so heißt mein Freund, etwa widerwärtig oder kompromittierend wäre. Nein, ganz im Gegenteil, ist sie doch Ausdruck des Ringens um Wahrhaftigkeit, oder im Falle des Friedrich Brendel, der später eine Rolle spielen wird, des Lebens mit einem Konflikt, will aber nicht vorgreifen. Wenn ich gezögert habe, mit der Arbeit zu beginnen, so deshalb, weil ich kein Mann der Sprache bin, sondern Techniker, Elektro-Ingenieur, der sich um Genauigkeit bemühen will, als gelte es den Weg des Stroms nachzuzeichnen, der die Glühlampe leuchten lässt.
Es handelt sich also um zwei Geschichten und um eine dritte, die sich daraus entwickelt hat. Die Geschichte der Beziehung von Günther und Friedrich, die nun schon einige Jahre besteht. Interessanterweise, wie der Autor und ich finden. Aber von ihr möchte ich nicht erzählen. Sie spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Was mich beschäftigen soll, ist der Zufall, der so unterschiedliche Biographien an einem bestimmten Punkt des Lebens zusammenführt.
Vielleicht sollte ich mich erst einmal vorstellen. Mein Name ist Körner. Albert Körner. Dreiundfünfzig Jahre alt, geschieden, alleine in einer kleinen Altbauwohnung lebend, die nur einige Straßenzüge von dem Haus entfernt liegt, in dem diese Seiten entstehen. Ich bin mit dem Autor dieser Studie befreundet. Unsere Begegnung war gleichermaßen zufällig wie die von Günther und Friedrich, aber ich frage mich, ob es so viel Zufall geben kann. Der Autor und ich verbrachten die leidenschaftlichsten Wochen, nachdem ich ganz unvorhergesehen (also doch Zufall?) in einem seiner Bücher auftauchte. Ich spielte eine interessante Rolle, das muss ich sagen, hat sie doch mein Leben verändert, ist dafür verantwortlich, dass ich heute von meiner Frau geschieden bin.
Ich möchte nicht unerwähnt lassen, was ein Licht auf den Grad unserer Vertrautheit wirft, dass er es war, der mich gebeten hat, die Umstände der Begegnung von Günther und Friedrich nachzuerzählen. Ich glaube, er findet in dieser Geschichte zu vieles von dem wieder, was er selbst erfahren hat, möchte die Erlebnisse auf sich beruhen lassen. Ich verstehe das. Immerhin werden Gedanken einfließen, die wir in unseren abendlichen Gesprächen, so er nicht am Computer sitzen oder in Ruhe gelassen werden wollte, gemeinsam entwickelt haben. Der Autor, müssen Sie wissen, ist nämlich jünger als ich, fast zwanzig Jahre, ich bin dabei, ihm über einige Dinge hinwegzuhelfen. Zum Beispiel, indem ich ihm die Arbeit an dieser Erzählung erspare. Gut, dies nur, um zu erklären, weshalb ich hier in Erscheinung trete.
Günther Neuberger, neunundzwanzig Jahre alt, ist Bankkaufmann, arbeitet bei einem Institut in der Frankfurter Innenstadt. Die Kunden, zu denen auch der Autor und ich gehören, mögen ihn gern. Er ist höflich, zuvorkommend, nicht nur das, ist charmant. Ein angenehmer Mensch. Ein vorbildlicher Mensch, möchte ich sagen, weil er in allem so strebend bemüht ist. Man kann es ihm ansehen. Das Gesicht ist schmal, das Profil eine elegante Linie, hat helle, ausdrucksvolle Augen, einen wohlgeformten Mund.
Günther würde einen oberflächlichen Betrachter nur wenig beeindrucken, seine Züge sind zu unauffällig, seine Gestalt ist zu schlank. Wenn ich dennoch finde, dass er ein schöner Mann ist, wobei ich den Begriff »schön« in weiterem Sinne verstanden wissen möchte, so liegt es an der sinnenhaften Menschlichkeit, die er verströmt. Sein Gesicht kann einen leidenden Ausdruck bekommen, wenn er nachdenklich ist. Es gab vieles, worüber er sich den Kopf zerbrach, als wir ihn kennenlernten, gab mithin vieles, an dem er litt. In solchen Situationen kehrt sich die Einfühlsamkeit gegen ihn selbst und jenes strebende Bemühen, wie ich es genannt habe, befähigt ihn dazu, sich mit den langen Peitschenhieben seiner Gedanken zu martern.
Ich will die Frage anschließen: strebendes Bemühen worum? Es recht zu machen. Gewiss. Aber dieses »Es« ist fragwürdig geworden, inhaltslos, nötigt ihn, wie er feststellt, zu einer entfremdeten Form des Lebens. Das ist die Verdüsterung, die sein Gesicht verändert. Dieses »Es« ist die Negation seiner Persönlichkeit.
Das ist abstrakt gesprochen. Der Ingenieur liebt es, mit Formeln umzugehen. Die Geschichte Günther Neubergers handelt also von der schwierigen Richtungsänderung dieses Bemühens. Er hat mir sein Tagebuch überlassen und erlaubt, nach Bedarf daraus zu zitieren, was es mir erleichtert, seine Entwicklung zu verstehen. Dafür danke ich ihm.
Ich werde den Nachmittag und den Abend eines einzigen Tages nacherzählen. Sonntag, der dritte Juli. Ein heißer, schwüler Tag. Hitze steht zwischen den Häusern, scheint Bewegungen, Geräusche zu verschlucken. Es fällt schwer zu atmen. Ein typischer Sommertag in Frankfurt.
Lassen Sie mich einiges vorausschicken. Günther ist das einzige Kind des Versicherungsagenten Artur Neuberger und seiner Frau Grete, geborene Traustein, die in kurzem Abstand hintereinander starben. Der Vater erlag dem dritten Herzinfarkt, die Mutter starb an einem Krebsleiden. Er lernte Richard Noll, mit dem er an diesem dritten Juli immer noch liiert ist, in den letzten Lebenswochen der Mutter kennen. Ein Glück für ihn! Richard, nunmehr fünfundvierzig Jahre alt, seit zwanzig Jahren kinderlos verheiratet, half Günther über die ersten Monate hinweg, füllte die Lücke aus, die durch den Tod der Eltern entstanden war.
Die Beziehung intensivierte sich, litt jedoch zunehmend unter Richards Ehe. Günther wehrte sich, weil sie über die Zeit ihres Zusammenseins bestimmte und er der Meinung war, dass Richard sich nach den innigen, ausschließlichen Gefühlen zu richten habe, die zwischen ihnen herrschten. Er fand Richards Haltung inkonsequent, ja geradezu beleidigend, nährte die Idee, der Freund missbrauche ihn. Schließlich bestand diese Ehe ja nur noch auf dem Papier. Es gab also nichts, worauf er hätte eifersüchtig sein können. Richard schien diese Situation aussitzen zu wollen, um die Ehefrau und den Freund an die Umstände zu gewöhnen. Mit der Zeit, so hatte er wohl gedacht, würden sich die beiden schicken, Ruhe geben. Günther geriet in eine merkwürdige Rage, die ihn dazu trieb, mit anderen Männern zu schlafen. Die gerechte Strafe Gottes, dachte er, geschieht ihm recht, alles nur seine Schuld, das hat er dieser blöden Ehe zu verdanken.
Entschuldigen Sie, ich schmunzle. Dieses Kind! Was, bitte sehr, sollte ich denn sagen! Ich, der Lebensgefährte eines Schriftstellers, der sich hemmungslos mit anderen Figuren einlässt, ja einlassen muss, um weiterarbeiten zu können, der mir so oft jede Aufmerksamkeit entzieht, mich sitzen lässt! Ach, ich kann ein Lied davon singen. Aber was wäre ich ohne ihn …
Die Rage, in die Günther geriet, hat natürlich ganz andere Ursachen, hängt mit den Vorstellungen zusammen, die er aus dem Elternhaus mitgenommen hat und damit, dass sie nicht mehr (sie taten es niemals zuvor, aber woher sollte er das wissen) für sein Leben taugten. Ich glaube, die Krankheit, die sich langsam seiner bemächtigte, wurde von dem verschobenen Bild bedingt, das sich aus dem in seiner Entwicklung Erlebten ergab, und dem Ideal, an dem es sich immer wieder hat messen müssen. Er hoffte halt, dieses Ideal eines Tages zu erreichen! Aber das Ideal war falsch, die Ehe seiner Eltern eine Katastrophe, forderte zwei zu frühe Tode. Das Idealbild zweier selig miteinander vereinter Menschen wurde von Richards Ehe gestört.
Günther entging nicht, dass die Getriebenheit, die ihn erfasst hatte, Ausdruck innerer Vorgänge sein musste, weil sie zu unmotiviert war, zu quälerisch, um sie ausschließlich Richard anlasten zu können. Er machte sich Sorgen. War sie der Beginn einer Geisteskrankheit, irgendeiner nervösen Verwirrung? Sollte er die Eltern denn als Idiot überleben? Er begann nachzudenken. Vielleicht, fuhr es ihm durch den Kopf, würde er sich von Richard trennen müssen, um ein freies, ungebundenes Leben zu führen! Er erschrak, wies die Idee zurück, weil sie beängstigende Ausblicke eröffnete. Unbehaust, dachte er …
Ich möchte an dieser Stelle einen Abschnitt des Tagebuches wiedergeben, Sätze, die er, soweit ich dem Heft entnehmen kann, auf einer seiner Wanderungen geschrieben hat.
»Die Hochhäuser der Banken stehen gegen die Nacht. Sie sind schwarz. Die Lichter der Stadt spiegeln sich nicht auf ihren Häuten. Der Kopf des Deutsche-Bank-Turmes (die Bank, bei der er beschäftigt ist! Anmerkung des Erzählers) ist erleuchtet, schwebt, unseliges Gestirn, vor den Konturen der Konsumverwaltung. Die Sinnlichkeit Frankfurts ist eine Hure. Du musst sie dir kaufen, dann zeigt sie, was sie gelernt hat.«
Lassen Sie mich unterbrechen und etwas hinzufügen, das heißt, ich möchte erklären, woher dieses Gefühl nur käuflich zu erwerbender Sinnlichkeit rührt. Natürlich kann er sein Leben in diesem Reifungsprozess nicht lustvoll empfinden, schließlich ist seine Persönlichkeit in Bewegung geraten, sucht nach ihrer Mitte. Das macht ihn orientierungslos, er versinkt in Stimmungen. Günther:
»Vielleicht rührt dieses Empfinden von dem Problem her, das mich schon so lange umtreibt, mich hier nicht zuhause sein lässt: als würde Frankfurt dem Bankkaufmann nicht erlauben, endlich zu einer Lösung zu gelangen. Woran das wohl liegen mag, frage ich mich so oft, schließlich ist Frankfurt die Stadt der Bankkaufleute, mein eigener Ort – oder bin ich etwa in mir selbst nicht zu Hause?«
Nicht wahr! Da kann man sehen, in welcher Gemütsverfassung er sich befand.
Beginnen wir also mit dem Nachmittag des dritten Juli. Ich verarbeite in dieser Rekonstruktion nicht nur Passagen des Tagebuches, sondern auch Auskünfte, die mir Günther auf bestimmte Anfragen erteilt hat. Das Tagebuch ist nicht immer vollständig. Es gibt abgebrochene Sätze, Zusammenhänge, die sich ihm in einer Art von Müdigkeit entziehen …
Dieser dritte Juli ist wie alle vorangegangenen Sonntage. Das gemeinsame Wochenende ist für Günther zu einem sinnlosen Ritual geworden, hat ihn die innere Auseinandersetzung doch längst aus der Beziehung getragen. Die beiden hatten sich nach dem Mittagessen hingelegt. Richard würde gegen vier Uhr gehen müssen, bis dahin hatte er Zeit, denn Doris, seine Frau, würde nicht das ganze Wochenende alleine verbringen wollen. Das konnte er ihr nicht zumuten. Ach, dachte er, diese ewigen Pflichten. Seine Ehe war doch nur eine Farce. Im Grunde machten sie sich beide etwas vor. Doris wie einen guten Freund behandeln? Das kam nicht in Frage. Sie war seine Frau wie in den ersten Tagen ihrer Ehe, würde einen Rollenwechsel niemals hinnehmen. Dafür war es zu spät. Sie hatte sein vorhergegangenes Leben überdauert, stand nun wie ein altes Erbstück überall im Weg. Ja, sie war ihm lästig. Gab es zu. Aber wenn er an eine Trennung dachte, eine Entflechtung der gemeinsamen Jahrzehnte … da war es besser, während der verbleibenden Stunden in den Duft von Günthers Haut einzutauchen, die Augen zu verschließen. Das würde ihn kräftigen, einige Tage weitertragen.
Ein Wort zu Richards Entwicklung. Der Autor würde gerne weiterschreiben, aber er muss sich gedulden. Ich habe die Verantwortung für diesen Bericht übernommen, möchte einfügen, dass Richard erst im Alter von zweiundvierzig Jahren angefangen hat, seine Homosexualität zu verwirklichen, was mich an mein eigenes Leben erinnert. Ich war schon fünfzig Jahre alt. Er hat in seiner Jugend, genau wie ich, das eine oder andere intime Erlebnis gehabt, sicher, sexuelle Spielereien zwischen Heranwachsenden. Er wuchs in einer pfälzischen Kleinstadt auf. Vater war im Krieg gefallen, Mutter kompensierte ihre Angst um die Kinder (zwei Söhne, eine Tochter) mit herrischer Zucht und Ordnung. Um es kurz zu machen: sein Wille, den beengten Verhältnissen zu entfliehen, erlaubte es ihm, die Entwicklung seiner sexuellen Identität hinter einer Karriere als Geschäftsmann (Wein-Ex- und Importe) niederzuhalten. Er heiratete. Vielleicht, so hatte er gehofft, würde diese leidige Sehnsucht nach männlicher Zärtlichkeit in einer Ehe versiegen. Auch ich habe mir da etwas vormachen wollen …
Aber bitte, Herr Autor, sie haben das Wort. Strengen Sie den Erzähler an.