Читать книгу Die kalte Stadt - Ralph Roger Glöckler - Страница 9

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Ich möchte eine Tagebucheintragung zitieren, die, wie ich meine, auf das oben erwähnte Problem hinweist.

»… und die Tatsache, dass ich mich nicht aus dieser toten Beziehung zu befreien vermag, wirkt wie ein zu heftiger Stromkreis, der mich jeden Abend durch die Stadt jagt. Ich bin in mir gefangen, kraftlos, so kommt es mir vor, ich weiß, dass es etwas gäbe, die Unruhe auszuschalten, weiß sogar was: der Sprung über den Schatten. Aber da verlässt mich der Mut.«

Ja klar. Angst vor dem Unbekannten, dem Wagnis, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Aber es kommt der Punkt, an dem er keine Wahl mehr haben wird.

Günther fühlte sich öde, leer, nachdem Richard gegangen war, kein Zustand, den er mit einer Stunde Schlaf hätte besänftigen können. Er wanderte in seiner Wohnung umher, fühlte sich wie ein Tier im Käfig. Es war dieser Stromkreis, dessen überhöhtes Voltampere ihn zerschliss. Günther steckte kurz entschlossen Geld in die Hosentasche, würde das Haus verlassen, nicht auf Richards vereinbarten Anruf warten, dieser Unruhe einen größeren Körper verschaffen, würde sie in die Straßen der Stadt strömen lassen, die Verlängerungen seiner Nervenbahnen.

Er blieb vor der Haustür stehen. Es war heiß. Die Wärme stand zwischen den Häusern. Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen, aber sie glitten in die schmierige Frankfurter Hitze hinaus. Die Häuser wirkten schemenhaft, verbargen sich hinter geschlossenen Jalousien. Günther ging langsam die Straße entlang.

Ich werde spazieren gehen, dachte er.

Eine gute Idee. Das würde ihn entspannen. Die Straße war wenig befahren. Die Mainbrücke, in die sie mündete, spannte ihren Bogen verwaist über den Fluss, leitete den Blick an jenem silbrig schlanken Hochhaus hinauf, das wie die Klinge eines Stiletts in der Sonne blitzte. Die Straßenbahn fuhr geräuschlos gelb an ihm vorbei, glitt wie ein Reptil aus ihm hervor, und er wusste, dass »Spazierengehen« nur ein besänftigendes Wort für die Wanderung war, deren Kurs seine Getriebenheit vorgeben würde.

Ich nehme an, Günther wird eines Tages anfangen zu malen. Ein in Bildern empfindender, für deren Magie empfänglicher Mensch. Interessant bei der Lektüre der Notizen zu beobachten, wie der (imaginäre) Stich des Stiletts einen Gedanken befreien kann! Er gleitet im Gewand eines Straßenbahnzuges hervor, verwandelt sich in Worte. Ich erinnere mich an eine Tagebuchstelle, die ich unbedingt wiedergeben möchte. Er schreibt da:

»Stehenbleiben. Umkehren. Dem Sog der Getriebenheit entkommen. Aber es wird sich nichts ändern, solange ich meine Bedürfnisse verachte, ja, andere über sie zu Gericht sitzen lasse. Unterwerfung und Besserung schließen einander aus. Ich weiß.«

Was verbirgt sich in diesem Gedanken- und Gefühlsbrodeln? Günthers Getriebenheit ist nicht nur auf das Schuldenkonto seines Freundes zu rechnen. Die gespannte Abwehr gegen ihn hat gute Gründe, das wissen wir, aber das Feindbild Richard/Ehe verschleiert einen anderen, tieferen Konflikt. Er spricht von Bedürfnissen, die er sich, wie wir noch sehen werden, nicht wirklich eingesteht. Die Sätze brechen bei diesem Thema ab, als schäme er sich, darüber Buch zu führen, spricht von Verachtung, Gericht. Ich will nicht zu weit vorgreifen. Die folgenden Szenen, die ich behutsam nachzuzeichnen versuche, sprechen eine eigene Sprache.

Günther blieb auf der Brücke stehen. Irgendetwas hielt ihn davon ab, weiterzugehen. Die Hochhäuser auf der anderen Seite des Flusses ragten glänzend in den Himmel. Sein Wille war zu schwach, dieses Bild zu durchdringen. Die Hitze hatte ihn auf dem Asphalt zerlaufen lassen. Günther blickte umher, als könnten ihm die Dinge Halt verleihen. Der Turm des Domes stand in sandsteinernen Farben. Motorboote zogen schmutzig-gelbe Furchen in das Wasser. Die Uferanlagen: voller Menschen, die dort flanierten, Fahrrad fuhren, auf den Wiesen lagen.

Günther schloss die Augen. Der Wind legte eine ölige Haut auf sein Gesicht. Er stand eine Weile reglos da, ließ die Wärme auf sich wirken. Die Brücke begann unter dem Gewicht einer vorüberfahrenden Straßenbahn zu vibrieren. Das rumpelnde Geräusch, das der Hohlraum unter der Brücke noch verstärkte, wurde von Kinderstimmen übertönt, die vom Ufer her an sein Ohr drangen.

Aus den Eintragungen geht hervor, dass er in diesem Augenblick eine seltsame Erscheinung gehabt hat. Eine Art Vision. Plötzlich, so schreibt er, habe er sich selbst auf der Brücke stehen sehen! Eine merkwürdig belichtete Fotographie, die er da vor Augen hatte, ausgebleicht von der Sonne seiner inneren Wüstenei. Er habe leblos auf diesem Foto gewirkt, gegenständlich, als habe ihn eine unbekannte Absicht dort oben hingestellt.

Er öffnete die Augen. Kinder liefen schreiend hinter einem Ball her, der in geräuschlosen Bögen den Weg entlang sprang, bis er ausrollte, liegenblieb. Er betrachtete ihn eine Weile, ging, ohne es wahrzunehmen, über die Brücke zurück, als habe der Ball ein Signal ausgesandt, ihm zu folgen. Günther bog in den Schaumainkai ein, schlenderte unter den Platanen entlang. Er wusste, wohin dieser willenlose Weg ihn führen würde, wehrte sich nicht, ließ es geschehen, hoffte, sein Verstand könnte ihn aufhalten, aber er war nicht frei, diesem Gefälle zu wehren.

Günther betrat den Platanenhain. Die Kronen der Bäume verwoben sich zu einem dichten Blätterdach, in dem der Himmel verlorenging. Sie verschatteten nicht nur den Ort, sondern schienen auch sein Vorhaben zu verhüllen. Er fühlte sich sicherer hier, missbilligender Aufmerksamkeit entzogen, einer Aufmerksamkeit, die er ja doch nur selbst auf sich richtete. Aber er war bereits in den Bann der Tür geraten, die sich am Ende des Hains im sandsteinernen Mauerwerk abzeichnete.

Er blieb stehen, wartete ab, was dort vorne geschehen würde. Männer stießen die Tür auf, betraten die öffentliche Toilette, hielten sich endlos darin auf. (Es dürfte dem Leser, auch wenn er unsere Neigung nicht teilt, bekannt sein, dass diese Aborte ein beliebter Treffpunkt für Schwule sind. Das Bewusstsein, dort andere Männer treffen zu können, hat sich leider aus Zeiten herübergerettet, in denen unsere Variante der Sexualität kriminalisiert war. Das Pissoir wird im Szenenjargon »Klappe« genannt.)

Günther ging zum Geländer hinüber, das die Terrasse des Platanenhains gegen das Mainufer hin begrenzte, setzte sich auf eine Bank, von der aus er Kommen und Gehen auf der »Klappe« beobachten konnte. Er erkannte die Gleichgesinnten, jene einsam umher sitzenden Männer, die mit gespanntem Gesichtsausdruck zur Klotür blickten.

Ich werde mich ausruhen, dachte er, auf den Fluss hinaussehen, versuchen, an dieser Tür vorbeizugehen, auf die Brücke hinauf, hinaus ins Licht, hinüber zur Stadt … Und er wusste, dass er nicht auf die Brücke hinaufgehen würde, hinaus ins Licht, hinüber zur Stadt, was tue ich nur, sagte eine Stimme, bin ich wirklich so tief gesunken, erhob sich, in Gottes Namen, um die Tür mit dem Fuß aufzustoßen, sich zwischen die anderen Männer zu stellen …

Die kalte Stadt

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