Читать книгу Der Weg der Wandlung - Ramona Loriz - Страница 10

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Ein Rebell von Anfang an

Die Rebellion zeigte sich in zahlreichen Alltagssituationen. Vor allen Dingen gegen den großen Bruder. Hannah fragte sich oft, ob das tatsächlich die "normale" Missgunst unter Geschwistern war. Es war stets extrem. Lea nutzte jede Sekunde, ihren großen Bruder zu ärgern und herauszufordern. Und da dieser sich nichts gefallen ließ, flogen ununterbrochen nicht nur Worte, sondern auch Spielzeuge. Hannah begleitete ständig das Gefühl, Schiedsrichter sein zu müssen und sie verzweifelte sehr oft an diesen zahlreichen, täglichen Streitigkeiten. Hannah machte sich natürlich um die Ursache von Leas Verhalten damals noch keine Gedanken. Leas Bruder war genau das, was Lea sich selbst innerlich schon immer gewünscht hatte zu sein. Nein, nicht nur gewünscht, sie war es ja schon. Ein Junge, verdeckt durch den Mädchenkörper. Somit rebellierte sie nicht nur gegen ihren eigenen Mädchenkörper, sondern auch gegen ihren Bruder, weil er den Körper hatte, den sie zur Vervollständigung ihres Selbst brauchte. Natürlich lief das in dem noch sehr jungen Wesen alles unterbewusst ab. Selbst Hannah als Erwachsene war blind und warum? Weil die gesellschaftlichen Normen den Menschen zur "Normalität" erziehen. Andere Sichtweisen außerhalb der bekannten gesellschaftlichen und sozialen Grenzen wollen erst erlernt sein, vorausgesetzt man wird damit konfrontiert.

Lea hatte bekanntlich "Kumpels“, mit denen oft "Mist gebaut" wurde, was natürlich im Kindergartenalter von sich aus schon entschuldigt wurde. So wurde zum Beispiel mit Tritten versucht, den Müll aus dem Mülleimer an der Bushaltestelle herauszubefördern, bis nicht nur der Müll, sondern das ganze Behältnis auf der Straße lag. Es wurden Fahrradralleys bergab auf Schotter gemacht bis zur Bruchlandung auf dem Gesicht, welches voller Steinchen und blutüberströmt verarztet werden musste. Es wurde an Türen geklingelt und angeblich Spenden eingefordert, um heimlich das Taschengeld aufzubessern. Es wurde verbotenerweise auf den Dächern der Schule herumgeklettert und viele andere solcher Jungenstreiche vollzogen. Judo, Skateboard- und Fahrradfahren wurden dem Gitarrenunterricht und dem Lernen vorgezogen.

Was Hannah sehr verletzte und das Vertrauen in die Wahrheit der zukünftigen Worte Leas brach, war folgende Situation: Lea kam eines Tages nach Hause und hatte angeblich bei einem Freund ihr Handy verloren. Hannah fuhr mit ihr in den Nachbarort zu dem Freund, mit dem Lea am Nachmittag gespielt hatte. Gemeinsam suchten alle, samt der Mutter des Freundes, die kompletten Zimmer des Hauses ab. Sie suchten auf allen Wegen, die draußen begangen worden sind, sowie dem Fußballplatz im Ort. Die Suche dauerte weit über zwei Stunden. Nichts. Kein Handy zu finden. Lea verzog während der ganzen Zeit keine Miene. Das Handy war spurlos verschwunden. Zum Erstaunen Hannahs schien das Ganze Lea "kalt" zu lassen. Sie trauerte in keinster Weise diesem Verlust nach. Erst ein bis zwei Wochen später erzählte sie Hannah, dass ein anderer Freund es ihr weggenommen und sie bedroht hätte, er würde sie schlagen, wenn sie es ihm nicht mindestens eine Woche überlassen wolle.

Hannah hatte keine Ahnung, was sie noch glauben sollte. Sie nahm Kontakt mit dessen Eltern auf und tatsächlich, das Handy war dort. Und Lea wusste das von Anfang an. Sie hatte alle an der Nase herumgeführt und stundenlang suchen lassen. Wieso diese Lügen? Wieso hatte Lea sich ihrer Mutter nicht anvertraut und ihr die Wahrheit gesagt? Das „Warum“ wurde niemals wirklich aufgedeckt.

Ging irgendetwas in Lea vor, was sie nicht zeigen wollte? Vielleicht den "coolen Jungen" auszuleben und keine "Mädchenschwächen" zuzugeben? Vielleicht etwas zu offenbaren, was nicht verstanden werden könnte? Vielleicht war der unbewusste "innerliche Kampf" im falschen Körper so anstrengend, dass sie diesen durch den Kampf und das Rebellieren im Außen verdrängen wollte? Vielleicht bedeuteten die Lügen eine Art Selbstverleugnung oder Ablehnung des Lebens als Mädchen? Jeder Erklärungsversuch blieb eine Spekulation, denn Lea war zu jung, um ihr Verhalten zu reflektieren und eine plausible Antwort auf all diese Fragen zu geben.

Dass Leas Rebellieren nicht immer gegen andere, sondern auch gegen sich selbst gerichtet war, zeigt folgende Anekdote: Sie hatte wunderschöne, volle, lange, dunkelblond gelockte Haare. Eine Mähne wie im Bilderbuch. Hannah liebte diese Haare an ihrer Tochter, weil es so ziemlich das einzige war, was sie an ein Mädchen erinnerte. Diese Liebe zu Leas Haaren wich allerdings jedes Mal beim Haarewaschen. Diese Aktion glich eher einem "Shampookrieg" mit lautem Geschrei.

Eines Nachmittags holte sich Lea Schere, Papier, Klebestift und Malstifte aus Hannahs Büro in ihr Zimmer unter dem Vorwand, basteln zu wollen. Hannah dachte sich selbstverständlich nichts dabei und freute sich, dass Lea mal so ganz andere Spielarten ausprobieren wollte. Der Schein trog und es dauerte nicht lange, bis Lea mit einem breiten Grinsen und einem großen Büschel Haare in der Hand wieder vor Hannah auftauchte. Das "Loch" der fehlenden Haare direkt vorn über der Stirn war unübersehbar. Hannah erstarrte zunächst, dachte, Lea sei verletzt, aber nein, es waren nur abgeschnittene Haare. Ihr blieb fast der Atem stehen. Diese "Lichtung" inmitten der langen und dichten Mähne konnte man nicht mehr retten.

"Was hast Du gemacht?", fragte Hannah erschüttert, obwohl sie es ja deutlich sehen konnte. Ihr fiel in diesem Moment keine passende Erwiderung ein.

"Diese bekloppten Haare, ich will die nicht mehr, ich will keine langen Haare mehr", platzte es nur so aus Lea heraus. Die Wut war ihr ins Gesicht geschrieben.

Jede Aufregung führte zu nichts, es musste ziemlich schnell der rettende Friseurbesuch terminiert werden.

Was die Auszubildende, welche meist bei Kinderhaarschnitten beauftragt wurde, erwartete, konnte keiner – zum Glück – ahnen. Der Termin wäre wohl sonst nie vergeben worden.

Lea erhoffte sich mit dem neuen Haarschnitt eine Verwandlung in einen Jungen, was sicherlich einer geübteren Hand bedurfte. Als die junge Auszubildende ihre Wünsche hörte, die langen Haare abzurasieren, konnte man genau den Verlauf ihrer hektischen Flecken am Dekolletee verfolgen. Sie blickte Hannah fragend an und dachte sich bestimmt, "wie kann eine Mutter so etwas erlauben?" Sie fing an, stückchenweise die Länge zu reduzieren, bis sie einen ziemlich braven und konservativen Pagenkopf kreiert hatte. Ihre hektischen Flecken vermehrten sich, streuten in ihr Gesicht und sprangen dann an den Hals von Lea. "Das kann nicht sein, wie sehe ich denn aus? Wie eine Oma? Das ist grausam, das ist schrecklich. So gehe ich nie wieder in die Schule, so gehe ich erst gar nicht aus diesem Friseurgeschäft hinaus", brüllte Lea entsetzt und wutentbrannt.

Die Auszubildende, welche sich zwischendurch vor lauter Nervosität schon dreimal in die Finger geschnitten hatte und diese nun mit Pflastern umklebt waren, hörte auf zu schneiden. "Ich mach nicht weiter, ich kann das nicht", erwiderte sie und wandte sich hilfesuchend an ihre Kolleginnen.

Lea schwang sich mit ihrem Friseurumhang wie Batman von dem Friseurstuhl und kroch blitzschnell unter einen Stuhl in dem kleinen Warteraum, der die Mitte des Friseursalons ausmachte. Unter diesem Stuhl machte sie ihrer Wut weiterhin lautstark Luft, "nie wieder gehe ich hier raus, bis ich eine gescheite Frisur habe.“ Hannah versuchte sie zu beruhigen, aber nichts half. Die Kunden in dem Geschäft schauten Hannah forsch, vorwurfsvoll und manche auch mitleidig an. Der große Bruder war auch mit dabei und wäre am liebsten im Erdboden versunken vor lauter Peinlichkeit. Die Chefin des Ladens eilte rettend herbei, kniete sich neben Leas Versteck und versuchte diese zu beruhigen, "Lea, ich mache nur noch eine Kundin fertig und dann schneide ich dir die Frisur, die du willst, ok?"

Ein brummendes "Ja" murmelte die völlig verheulte Lea, die sich unter dem Stuhl zusammenkauerte. Es wurde still. Puh, Erleichterung, wenigstens Ruhe. Nach einer Weile saß Lea wieder auf dem Friseurstuhl. Die Chefin setzte ihre ganze Erfahrung als Frisurenkünstlerin und auch Psychologin ein und machte kurzen Prozess. Der Nacken wurde auf Leas Wunsch hin ausrasiert und auf dem Oberkopf der verbleibende zurechtgeschnittene Schopf mit Haargel nach hinten gestylt.

Die Verwandlung zum Jungen war nach langem Aufruhr und einem eher peinlichen Theaterstück geglückt. Lea strahlte wieder. Die Friseurin war die Heldin des Tages und Lea konnte mit ihrer Mutter und ihrem Bruder endlich zufrieden dieses Friseurgeschäft verlassen.

Ab diesem Tag war Lea in der Öffentlichkeit nicht mehr als Mädchen zu erkennen.

Beim Shoppen fragten die Verkäufer immer, "was kann ich denn für den jungen Mann tun?" Hannah korrigierte diese daraufhin und erwiderte, "das ist kein junger Mann, es ist ein Mädchen. Zwar mit sehr kurzen Haaren, aber ein Mädchen." Leas Gesicht lief bei dieser Erklärung ihrer Mutter stets dunkelrot an. Sie sagte aber nichts und das auch mehrere Jahre nicht.

Doch irgendwann platzte es aus ihr heraus, "Mama, du sollst nicht immer sagen, dass ich ein Mädchen bin. Das will ich nicht. Es ist doch gut, dass alle denken, ich bin ein Junge. Ich will es so. Sag das nicht mehr. Das ist peinlich."

Da zu Hannahs Philosophie als Erziehungsberechtigte dazugehörte, ihre Kinder ernst zu nehmen und in ihrer Persönlichkeit zu schätzen, hat sie von diesem Zeitpunkt an nie wieder jemand eines Besseren belehren wollen.

Nicht nur Verkäufer, auch Ärzte und alle, die Lea noch nicht kannten, erkannten sie nicht als Mädchen. Lea wurde überall als Junge wahrgenommen.

Und Hannah blieb des lieben Frieden willens nichts anderes übrig, als ihr Wissen um ihre Tochter zu verbergen und Leas Wunsch, ein Junge sein zu wollen und auch als dieser erkannt zu werden, Folge zu leisten.

Der Weg der Wandlung

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