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Bis zum 2. Geburtstag war alles rosa

"Es ist ein gesundes Mädchen", teilte die Frauenärztin Hannah telefonisch mit. Das heißersehnte Ergebnis der Fruchtwasseruntersuchung lag vor. Hannah war schon 37 Jahre alt, als sie zum zweiten Mal schwanger wurde. Wieder ein Wunschkind. So perfekt. Diese Mitteilung sollte die kleine Familie in Harmonie vervollständigen. Wie im Bilderbuch, Sohn und Tochter. Hannah freute sich so sehr über die Botschaft eines gesunden Mädchens. Wie schon in der ersten Schwangerschaft hegte und pflegte sie den "Inhalt ihres Bauches" und war sehr stolz darauf. Ihr machte es außerordentlich Spaß lauter "Mädchenkram" und rosa Babyklamotten einzukaufen. Da sie zu der Zeit beruflich viel in verschiedenen Städten unterwegs war, nutzte sie jede Mittagspause, um zahlreiche Kinderläden aufzusuchen und "rosa einzukaufen".

Lea kam acht Tage nach dem errechneten Geburtstermin zur Welt. Hannahs Wehen begannen wie so meist in der Nacht. Doch als sie mit ihrem Mann ins Krankenhaus fuhr, hörte der "Spuk" zunächst wieder auf. So als ob sich der kleine Mensch in ihrem Bauch noch einmal umentscheiden wollte. Oder nochmals überlegte "will ich überhaupt in die Welt?" Allerdings musste Hannah zur Kontrolle im Krankenhaus bleiben, da das Fruchtwasser nicht ganz in Ordnung war. Nach etwa zehn Stunden hat sich der kleine Mensch dann wohl doch entschieden. Die Wehen begannen erneut und danach verlief alles im Eiltempo. Zwei Stunden und sie war endlich da. Lea war klein, zart, so zerbrechlich. Ein ruhiges, ausgeglichenes Neugeborenes. Die ganze Nacht nach ihrer Geburt lag sie links an der Herzensseite in Hannahs Arm und schlief ganz zufrieden. Nur ab und zu ein leises Glucksen und Aufstoßen, um sich bemerkbar zu machen und Hannah mitzuteilen "Ich bin jetzt da". Als am kommenden Tag bei einer Untersuchung das erste Mal Blut aus Leas kleiner Ferse gezapft wurde, fühlte es sich für Hannah wie Folter an. Sie hatte die bitterlich weinende Lea fest an ihre Brust gedrückt während die Ärzte das Blut fast vergeblich aus dieser kleinen etwas blau unterlaufenen Ferse zu quetschten versuchten. Hannah hatte das tiefe Bedürfnis, alles dafür zu tun, dieses kleine Wesen besonders gut zu schützen. Damals konnten beide noch nicht ahnen, wie viele Blutabnahmen und ärztliche Gesellschaft ihnen noch bevorstanden.

Aus der Klinik zu Hause angekommen wurde dann alles "Rosa" verwendet, was sich angesammelt hatte. Hannah genoss es, zu Hause zu sein, bei ihrer perfekten kleinen Familie. Sie plante, ihre Elternzeit länger auszuweiten, als damals bei ihrem erstgeborenen Sohn, um mehr für die Kinder da zu sein. Als sie mit der im Kinderwagen schlafenden Lea einen Spaziergang machte, klingelte ihr Handy. Eine fremde Nummer. Hannah meldete sich höflich. Am anderen Ende der Leitung erklang eine fremde, nette, männliche Stimme: "Guten Tag, Sie haben sich vor einem Jahr bei uns beworben. Ist Ihr Interesse noch aktuell?" Hannah stutzte und überlegte, was vor einem Jahr gewesen sein könnte. Da bestand noch keine Schwangerschaft. Oh ja, natürlich. Sie hatte sich bei einer großen Firma für den Außendienst beworben. "Selbstverständlich, natürlich…", antwortete sie. Es begann eine Unterhaltung und am Ende, wie ferngesteuert, sagte sie einem Termin zu einem Bewerbungsgespräch zu.

Dabei war sie sich gar nicht sicher, es waren ja gerade erstmal zwei Monate nach der Geburt Leas vergangen und sie wollte doch längere Elternzeit beanspruchen. Außerdem hatte sie mit dem Jobangebot nach so langer Zeit schon gar nicht mehr gerechnet.

Es folgten einige Überlegungen und Gespräche mit ihrem Mann, danach das Bewerbungsgespräch, in dem Hannah sofort eine Zusage erhielt und so entschieden sie sich beide der lieben Finanzen wegen, dass Hannah ihren Job wiederaufnehmen und ihr Ehemann in die Hausmannrolle wechseln sollte.

Hannah brach es das Herz. Bald schon musste sie zur Schulung anreisen und nicht nur Lea in ihren jungen Babyjahren, sondern auch ihren älteren Sohn missen.

Hannah war motiviert, da es sich bei der Firma um ein renommiertes, weltbekanntes Unternehmen handelte. Ein Neuanfang und viel mehr Geld, was dafür sorgen sollte, dass es der kleinen perfekten Familie finanziell gut ging. Trotz des in Aussicht gestellten materiellen Wohlergehens plagte sie ihr Gewissen jeden Tag, der sie von ihren Kindern trennte. Ihr kamen die Tränen, als ihr Mann ihr erzählte, dass ihn Lea in den ersten Nächten der siebenwöchigen Abwesenheit Hannahs nur ansah und lange wartete, bis sie aus ihrem Fläschchen trank. So, als ob sie ihn mit Blicken fragen wollte: "Wer bist Du denn? Wo ist das vertraute Gesicht? Wo ist meine Mama?"

Doch was blieb Hannah übrig, als ihre Gefühle zu unterdrücken und sich jede Woche auf das Wochenende zu freuen, an dem sie ihre Kinder in die Arme schließen konnte.

Die Zeit verging und Lea wurde älter. Schon mit zweieinhalb Jahren drängte sie darauf, mit ihrem Bruder den Kindergarten zu besuchen, der sich übrigens direkt gegenüber dem Haus der kleinen Familie befand. Während andere Kinder, die so jung zum Kindergarten gingen, weinten und ihre Eltern lieber festhielten, schien es Lea sehr zu gefallen "außer Haus zu sein". Die Begleitung ihres großen Bruders machte die Sache sicher leichter, doch sie war charakterlich auch sehr aufgeschlossen, kontaktfreudig, gesellig und fand schnell Freunde. Genau, Freunde, keine Freundinnen. Lea, zwar rosa gekleidet, spielte lieber mit Jungs als mit Mädchen. Hannah dachte, es läge daran, dass sie einen großen Bruder hatte. Es also eine Art Gewohnheit war, mit Jungs zu spielen.

Lea liebte es, mit ihren „Kumpels“ und ihrem älteren Bruder mit dem Bobby Car die Einbahnstraße vor ihrem Haus in die verkehrte Richtung herunterzusausen. Es war eine verkehrsberuhigte Zone, doch ging die Straße dermaßen steil bergab, dass Hannah nicht hinsehen konnte. Zum Glück ging dabei immer alles gut. Und Hannah ließ es zu, weil Verbote spannend waren und gerne gebrochen wurden. Fahrrad, Lego, Polizei, Feuerwehr und eigentlich alles, womit sich Jungs beschäftigen, zog Lea dem Spielzeug für Mädchen vor. Den Puppenwagen und die darin liegende, ebenfalls rosa bekleidete Puppe, welche ein Geschenk ihrer Patentante war, stellte sie in die Ecke und die Puppe musste sich von Lea die Haare schneiden lassen. Kurze Haare, wie ein Junge. Ein Puppen-Mädchen lehnte Lea ab. Allerdings wurde auch der Puppen-Junge später in eine Ecke geschmissen.

Es war klar, Puppen waren ein "no go". Und der Puppenwagen wurde als Bobbycar umgerüstet und musste auch, zum Glück ohne Inhalt, die steile Einbahnstraße in Gegenrichtung testen.

Lea stellte fest, "Bobbycars sind robuster als Puppenwagen und Puppen zum Spielen machen für mich keinen Sinn".

Als Lea drei Jahre alt wurde, trennte sich Hannah von ihrem Ehemann. Lea, ihr großer Bruder und Hannah zogen aus dem gemeinsamen Haus aus, in eine weiter entfernte Stadt. Für Leas Bruder, der schon die erste Klasse der Grundschule besuchte, war dieser Schritt sehr schwer. Er liebte seine sichere und gewohnte Umgebung und brauchte immer viel Zeit, um Freunde zu finden, denen er vertraute. Lea hingegen, vielleicht lag es auch an ihrem Alter, aber sicherlich auch an ihrem extrovertierten Charakter, dachte weniger darüber nach und fand in dem neuen Kindergarten schnell wieder neue "Kumpels". Trotzdem gab es einen Unterschied: Sie saß lange am Kindergartenfenster und sah Hannah jeden Morgen sehnsüchtig nach, wenn diese zur Arbeit aufbrach. Der große Bruder, der jetzt die Schule besuchte, fehlte ihr und ebenso die alten Freunde. Zudem war die neue Umgebung ungewohnt. Sie wirkte trotz ihres jungen Alters von drei Jahren irgendwie nachdenklich. Parallel wich die rosa Kleidung und machte der blauen Kleidung ihres älteren Bruders Platz, die sie ohne Einwände weiter anzog. Die Sachen waren wie neu, denn die Oma sorgte dafür, dass ihr Bruder viel zu viel davon besaß und gar nicht alles anziehen konnte.

In diesem neuen Kindergarten weilte Lea nicht lange. Hannah musste mit ihren Kindern nach acht Monaten schon wieder umziehen. Der Vermieter wollte das Haus, welches sie gemietet hatten, verkaufen. Hannah suchte nicht lange und fand ein neues zu Hause für ihre beiden Kinder und sich selbst. Wieder ein neuer Kindergarten für Lea, wieder eine neue Schule für ihren Bruder. Auch hier saß Lea lange an der Ein- und Ausgangstür des Kindergartens und blickte Hannah lange nach, nachdem diese sich von Lea verabschiedete, um zur Arbeit zu fahren. Doch trotz anfänglichem Abschiedsschmerz fand Lea schnell wieder neue "Kumpels". Sie war sehr beliebt bei den Jungs, weil sie eben ein "cooles Mädchen" verkörperte und gerne für jeden Unsinn bereit war.

Es wurde immer offensichtlicher. Je älter Lea wurde, nun, sie war ja erst vier Jahre jung, aber an "Rosa“ war nicht mehr zu denken. Die Mädchenabteilung im Kaufhaus war endgültig "out". Selbst in der Innenseite eines Hosenbundes durfte keine rosa Schrift, geschweige denn irgendein blumenähnliches Symbol abgebildet sein. Darauf reagierte Lea beinahe allergisch.

Sie beschloss, nur noch in der Jungenabteilung einkaufen zu gehen. Hannah blieb keine andere Wahl, als das zu akzeptieren.

Eine kleine letzte Anekdote zum Thema Kleidung zum Ende dieses Kapitels:

Leas Oma war mit ihr im Sommerurlaub. Lea war zu dem Zeitpunkt fünf Jahre alt. Die Oma kaufte ihr Sandalen, es war ja schließlich warm. Lea fuhr mit Winterstiefeln los. Als sie die Sandalen anziehen sollte, wurde sie total wütend, schmiss die Sandalen durch die Gegend und schrie, "die ziehe ich niemals an, die sind so blöd.“ Zum Entsetzen der Oma ging Lea mit Winterstiefeln zum Strand und sogar abends in die Kinderdisco. Sie tanzte fröhlich und selbstbewusst, die Blicke der Zuschauer waren ihr egal. Die Oma amüsierte sich ebenfalls sehr, auch wenn sie sich bei Lea mit der Schuhauswahl nicht durchsetzen konnte.

Die Oma konnte allerdings diese Andersartigkeit nicht verstehen. Für sie musste ein Mädchen eben Mädchen sein. Sie sah die Kinder sehr selten, weil sich ihr Wohnort in einer weiter entfernten Stadt befand.

Sie reiste öfter mit Leas Bruder in den Urlaub, der für sie immer als braves Kind galt, sich anpasste und hörte, wenn man ihm etwas sagte.

Mit dem kleinen Rebell Lea hatte die Oma deutliche Schwierigkeiten, auch wenn sich im Nachhinein einige Urlaubsszenarien als lustig herausstellten. So ging Lea beispielsweise während eines Urlaubstages alleine in die Stadt und kaufte sich Schuhe in Größe 43. Diese waren selbstverständlich zu groß, obwohl sie tatsächlich in ihrem jungen Alter von 10 Jahren schon Größe 41 vorzuweisen hatte.

Lea wollte zeigen, dass sie wirklich (!) ein kleiner "Mann" war.

Der Weg der Wandlung

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