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KAPITEL 1.
Оглавление„Fürchtet den Zorn des Allmächtigen, ihr Sünder und Teufelsanbeter. Gott wird jeden Einzelnen von Euch an jenem Tag strafen, wenn ihr die unverzeihlichen Sünden der Unzucht und des Ehebruchs begeht. Gedenkt der wahren Verse der Zehn Gebote, wie sie die Hand Gottes schrieb und wie Moses sie auf dem Berge Sinai bezeugte: „Du sollst nicht begehren Deines Nächsten Weib!“ Hört mich nun an, und fürchtet die Macht Gottes, welche der Geist und die Seele von Mann und Frau von jedwedem unkeuschen Gedanken wie Sünde, Sodomie und Unzucht läutert. Verneigt Euch in seinem Namen; senkt das Haupt auf den Boden angesichts der Allgegenwärtigkeit des einzigen Gottes der Reinheit und der himmlischen Gerechtigkeit!“
Er war in Schwarz gekleidet, trug eine lange Kutte, die auf dem Boden schleifte und sein zerlumpter Zylinder hatte auch schon bessere Tage gesehen. Er stand auf einem der weißen Kieshügel, die das Wahrzeichen der Minenschächte waren. Er war der hiesige Priester von Lightning Ridge. Dünn wie ein Bleistift, sein angegrauter Vollbart war wirr und sein langes Haar hing ungewaschen herunter. In seinen Augen lag eine brennende, unheimliche Intensität, die schon an Fanatismus grenzte. Aber alle, die ihn umringten, senkten den Kopf und baten um Vergebung, auch wenn die nächste Frau oder die Frau des Nachbarn mindestens hundert Meilen entfernt wohnte. Das hier war Opal-Land, das einzige Vorkommen von schwarzem Opal auf der Welt. Durchdrungen von Hunderten vertikaler Schächte, die bis zu 300 Meter tief in die schneebedeckte, weiße Erde und den Stein gebohrt waren. Es war eine Männerwelt - zu hart und zu rau für Frauen.
Die meisten Minenarbeiter arbeiteten 6 Monate im Jahr und kehrten dann zurück zu ihren Frauen und Familien, die in Sydney, Canberra, Melbourne oder sogar in Perth lebten. Es war ein schweres Leben, voller Leid, Schmerz, Entbehrungen und manchmal herben Enttäuschungen. Binnen drei Wochen konnte ein guter Arbeiter ein kleines Vermögen machen und ein anderer konnte in Armut sterben, nachdem er 10 Jahre lang in der Mine geschuftet hatte. Im Jahre 1959 lebten die Edelsteinsucher meistens unter Tage in höhlenähnlichen Räumen, mit Blechschloten, die aus dem Boden lugten. Die Schlote saugten Rauch von den Feuern nach draußen und sorgten zugleich für frische Luft in den dunklen, stickigen Behausungen. Unter Tage war es viel kühler als auf der Oberfläche, wo es manchmal bis zu 40 Grad waren. Die Temperaturen unter Tage betrugen im Durchschnitt 22 Grad.
In einer dieser unterirdischen Behausungen lebte der Prediger mit seinem siebenjährigen Sohn Jonas. Vor zwei Jahren war seine Mutter an Tuberkulose gestorben. Sie hatte sich angesteckt, als die Familie im Busch bei den Kimberley Ranges lebte, wo der Prediger versucht hatte, die Aborigines zum Christentum zu bekehren.
Der Priester glaubte von sich, ein gottesfürchtiger Vater zu sein. Er schlug seinen Sohn mit einem Akazienzweig, wenn dieser sündigte oder faul war. Manchmal sperrte er ihn auch tagelang in einer kleinen Höhle ein, in der es nichts außer Dunkelheit und Wüstenratten gab. Bestrafung war der einzige Weg zu Gott, pflegte sein Vater zu sagen. Er lehrte den Jungen über die sieben Todsünden und brannte sie ihm ins Herz ein. Er lehrte ihn zudem, dass Gott die Frauen nur aus zwei Gründen geschaffen hatte, nämlich um Kinder zu gebären und um die Züchtigkeit des Mannes einer Prüfung zu unterziehen, damit er ihren gottlosen Verführungskünsten widerstünde.
Weiber waren unzüchtig und vom Teufel besessen. Es war Gottes Vermächtnis und seine himmlische Pflicht, das andere Geschlecht vom Fluch des Teufels zu läutern.
„Manchmal,” erklärte er seinem Sohn, „könne es auch nötig sein, ihnen im Namen Gottes das Leben zu nehmen. Nur dann kann ein Mann in einer Welt leben, die frei von Verführungsversuchen und der moralischen Schwäche des Weibes ist.” Zwei Jahre später stürzte der Vater des Jungen in einen Minenschacht und brach sich das Genick. Einige Minenarbeiter glaubten nicht an einen Unfall. Sie glaubten vielmehr, dass der Junge seinen eigenen Vater auf dem Gewissen hatte. Ein Minenarbeiter brachte Jonas nach Canberra, wo er bei dessen Frau und ihren fünf Kindern lebte. Aber der Junge verstand sich nicht gut mit den anderen Kindern. Es gab eine Menge Streit, vor allem mit den beiden älteren Mädchen. Daraufhin überantwortete der Minenarbeiter Jonas den Behörden und ein Richter entschied, dass er von nun an ein Staatsmündel sei. Ab da lebte Jonas acht Jahre lang in einem Heim für verhaltensgestörte Kinder.
DIE KÖRPERLESERIN
Band 1.
RAY WILKINS
DIE KÖRPERLESERIN
Für Cordula
FÜRCHTE DICH VORWÄRTS
„Fürchtet den Zorn des Allmächtigen, ihr Sünder und Teufelsanbeter. Gott wird jeden Einzelnen von Euch an jenem Tag strafen, wenn ihr die unverzeihlichen Sünden der Unzucht und des Ehebruchs begeht. Gedenkt der wahren Verse der Zehn Gebote, wie sie die Hand Gottes schrieb und wie Moses sie auf dem Berge Sinai bezeugte: „Du sollst nicht begehren Deines Nächsten Weib!“ Hört mich nun an, und fürchtet die Macht Gottes, welche der Geist und die Seele von Mann und Frau von jedwedem unkeuschen Gedanken wie Sünde, Sodomie und Unzucht läutert. Verneigt Euch in seinem Namen; senkt das Haupt auf den Boden angesichts der Allgegenwärtigkeit des einzigen Gottes der Reinheit und der himmlischen Gerechtigkeit!“
Er war in Schwarz gekleidet, trug eine lange Kutte, die auf dem Boden schleifte und sein zerlumpter Zylinder hatte auch schon bessere Tage gesehen. Er stand auf einem der weißen Kieshügel, die das Wahrzeichen der Minenschächte waren. Er war der hiesige Priester von Lightning Ridge. Dünn wie ein Bleistift, sein angegrauter Vollbart war wirr und sein langes Haar hing ungewaschen herunter. In seinen Augen lag eine brennende, unheimliche Intensität, die schon an Fanatismus grenzte. Aber alle, die ihn umringten, senkten den Kopf und baten um Vergebung, auch wenn die nächste Frau oder die Frau des Nachbarn mindestens hundert Meilen entfernt wohnte. Das hier war Opal-Land, das einzige Vorkommen von schwarzem Opal auf der Welt. Durchdrungen von Hunderten vertikaler Schächte, die bis zu 300 Meter tief in die schneebedeckte, weiße Erde und den Stein gebohrt waren. Es war eine Männerwelt - zu hart und zu rau für Frauen.
Die meisten Minenarbeiter arbeiteten 6 Monate im Jahr und kehrten dann zurück zu ihren Frauen und Familien, die in Sydney, Canberra, Melbourne oder sogar in Perth lebten. Es war ein schweres Leben, voller Leid, Schmerz, Entbehrungen und manchmal herben Enttäuschungen. Binnen drei Wochen konnte ein guter Arbeiter ein kleines Vermögen machen und ein anderer konnte in Armut sterben, nachdem er 10 Jahre lang in der Mine geschuftet hatte. Im Jahre 1959 lebten die Edelsteinsucher meistens unter Tage in höhlenähnlichen Räumen, mit Blechschloten, die aus dem Boden lugten. Die Schlote saugten Rauch von den Feuern nach draußen und sorgten zugleich für frische Luft in den dunklen, stickigen Behausungen. Unter Tage war es viel kühler als auf der Oberfläche, wo es manchmal bis zu 40 Grad waren. Die Temperaturen unter Tage betrugen im Durchschnitt 22 Grad.
In einer dieser unterirdischen Behausungen lebte der Prediger mit seinem siebenjährigen Sohn Jonas. Vor zwei Jahren war seine Mutter an Tuberkulose gestorben. Sie hatte sich angesteckt, als die Familie im Busch bei den Kimberley Ranges lebte, wo der Prediger versucht hatte, die Aborigines zum Christentum zu bekehren.
Der Priester glaubte von sich, ein gottesfürchtiger Vater zu sein. Er schlug seinen Sohn mit einem Akazienzweig, wenn dieser sündigte oder faul war. Manchmal sperrte er ihn auch tagelang in einer kleinen Höhle ein, in der es nichts außer Dunkelheit und Wüstenratten gab. Bestrafung war der einzige Weg zu Gott, pflegte sein Vater zu sagen. Er lehrte den Jungen über die sieben Todsünden und brannte sie ihm ins Herz ein. Er lehrte ihn zudem, dass Gott die Frauen nur aus zwei Gründen geschaffen hatte, nämlich um Kinder zu gebären und um die Züchtigkeit des Mannes einer Prüfung zu unterziehen, damit er ihren gottlosen Verführungskünsten widerstünde.
Weiber waren unzüchtig und vom Teufel besessen. Es war Gottes Vermächtnis und seine himmlische Pflicht, das andere Geschlecht vom Fluch des Teufels zu läutern.
„Manchmal,” erklärte er seinem Sohn, „könne es auch nötig sein, ihnen im Namen Gottes das Leben zu nehmen. Nur dann kann ein Mann in einer Welt leben, die frei von Verführungsversuchen und der moralischen Schwäche des Weibes ist.” Zwei Jahre später stürzte der Vater des Jungen in einen Minenschacht und brach sich das Genick. Einige Minenarbeiter glaubten nicht an einen Unfall. Sie glaubten vielmehr, dass der Junge seinen eigenen Vater auf dem Gewissen hatte. Ein Minenarbeiter brachte Jonas nach Canberra, wo er bei dessen Frau und ihren fünf Kindern lebte. Aber der Junge verstand sich nicht gut mit den anderen Kindern. Es gab eine Menge Streit, vor allem mit den beiden älteren Mädchen. Daraufhin überantwortete der Minenarbeiter Jonas den Behörden und ein Richter entschied, dass er von nun an ein Staatsmündel sei. Ab da lebte Jonas acht Jahre lang in einem Heim für verhaltensgestörte Kinder.
2.Kapitel Mit einer verschwitzten Hand griff Cordelia hastig hinter ihren Rücken, um den Verschluss ihres BHs zu öffnen. Endlich konnte sie sich frei bewegen. Das ist wirklich etwas ganz Großes, dachte sie, als sie das schwarze T-Shirt voller Farbflecken über den Kopf zog. Langsam rieb sie mit bloßen Händen fein gemahlene Kreidepigmente und Hasenhautleim in das dicke, grobe Leintuch. Die neue Leinwand lehnte an einer Wand in ihrem Studio. Sie maß drei mal zwei Meter und war so groß, dass sie sich manchmal auf die Zehenspitzen stellen musste, um den oberen Rand zu erreichen. Sie war 1,50 Meter groß, und ihr langes, mahagonirotes Haar, die ausdrucksvollen braun-grünen Augen und ihre athletische Figur ließen sie trotz ihrer 45 Jahre sehr jung wirken. Sie besaß, was andere Leute einen messerscharfen Sinn kreativer Logik und übersinnliche Intuition nannten. Sie selbst nannte es einfach, menschlich zu sein.
Ihre Arbeit, die sich in einem kreativen Schaffensprozess befand, sollte in ModArt, einer neuen, modernen Kunstgalerie im Bürgerhaus in Downtown Canberra ausgestellt werden. Auch wenn der weiße Kreideleim-Gesso noch feucht war, konnte sie schon bald damit beginnen, die Grundierung in einem satten Ockerton mit einem dicken Pinsel aufzutragen. Sie änderte unablässig die Strichrichtung, bis schließlich die ganze Leinwand bedeckt war. Cordelia war wie besessen, sie verlor sich völlig in der Leinwand. Während die Bilder mit Acrylfarben in der warmen Studioluft trockneten, ging sie in die Küche und schenkte sich etwas Chardonnay ein, den sie drei Jahre zuvor aus einem ihrer seltenen Urlaube im Barossa Valley mitgebracht hatte. Sie setzte sich auf das Sofa unter dem großen Fenster, das fast eine ganze Wand ihres Ateliers einnahm. Mit sich und der Welt zufrieden, trank sie langsam und genüsslich ihren Wein. Sie dachte an ihren Kollegen, Geoff Gullamalu, den einzigen Aborigine-Polizisten der Polizeikräfte des Australian Capital Territory.
Geoff war klasse. Sie konnte einfach immer auf ihn zählen, wenn es brenzlig wurde. Er war groß und überragte mit seinen 2 Metern die meisten Leute. Er war früher ein Boxchampion im Schwergewicht beim YMCA gewesen. Sie arbeitete gerne mit ihm zusammen, weil sie oft auf der gleichen Spur waren. Er besaß eine unheimliche Fähigkeit, Gedanken zu lesen. Sie vermutete, dass er dies seiner Aborigine-Abstammung, seiner Intuition und seinem dreijährigen Training in Neurolinguistischem Programmieren verdankte. In fünf Jahren hatten sie eine Menge schwierige Fälle gelöst. Ihre Spezialgebiete waren Mord, Vergewaltigung und Entführung. Ihre Aufklärungsquote lag bei über 95 %, eine der höchsten in der ganzen Truppe.
In letzter Zeit war ihr bei Geoff eine gewisse Ruhelosigkeit aufgefallen. Manchmal, wenn sie Verdächtige observierten, fiel es ihm schwer, still zu sitzen. Immer wieder stieg er aus dem Wagen aus, um sich die Füße zu vertreten oder seine Blase zu erleichtern.
Ich wusste, dass er und seine Frau Janarrapi eine Krise durchmachten. Seit fast drei Jahren versuchten sie vergeblich, schwanger zu werden. Geoff hatte ihr erzählt, dass sie in verschiedenen Kliniken und bei diversen Ärzten gewesen waren, aber nichts schien zu helfen. Beide waren sehr frustriert und traurig. Sie konnte auch unterschwelligen Zorn spüren. Häufig unterbrach er sie und in seiner Stimme lag ein aggressiver Unterton, den sie vor sechs Monaten noch nicht wahrgenommen hatte. Auch Cordelia hatte NLP studiert – bei Carlos Salgado, einem der weltweit besten Trainer. Aber sie vertraute ihrer eigenen Intuition und ihren Instinkten mehr als unbewusster Körpersprache und nonverbaler Kommunikation.
Ich fühle, wie Wut und Frustration aus seinen pechschwarzen Poren strömen.
„Vergiss es, Miss Storm!”, sagte sie laut zu sich selbst.
Es lag wahrscheinlich am hohen Stresspegel, der in letzter Zeit in der Abteilung herrschte und an der Tatsache, dass sie noch immer an einem sehr tragischen und schrecklichen Fall arbeiteten: Ein ritueller Serienkiller, dessen Opfer nur junge Frauen zwischen 19 und 25 waren. Seinen Blutrausch hatte er in Sydney begonnen, wo er binnen zwei Wochen zwei Frauen ermordet hatte, danach gab es zwei weitere Opfer in Melbourne und in Canberra.
Er ging dabei immer auf dieselbe Weise vor. Deshalb vermuteten sie, dass es sich um ein und denselben Täter handelte. Dieser Serienkiller ohne jedwede offensichtlichen oder geheimen sexuellen Fantasien genoss es offenbar, seine Opfer in ritualhaften Posen zu drapieren und war ein Meister darin, keine Spuren an den Tatorten zu hinterlassen, sei es für das Mikroskop oder das bloße Auge.
Ein bösartiges Monster. Und Cordelia war wild entschlossen, ihn zu finden und zur Strecke zu bringen. Vielleicht schneide ich ihm sogar die Eier ab, wenn ich ihn habe, dachte sie.
„Scheiße! Schluss mit diesen unnützen, depressiven Storm-Gedanken!”, schrie sie erneut. Ihr Glas war leer und sie selbst war etwas beschwipst. „Zeit für etwas erheiterndere Arbeit!”
Sie ging zurück zur Leinwand, stellte sich vor das Bild und begann, sich in ihrer Fantasie auszumalen, wie sie die Leinwand füllen würde. Drei große Gesichter mit jeweils einem anderen Gefühlsausdruck. Die erste Emotion war “Angst”, aber nicht die alltägliche Angst, vor der wir davonlaufen, die jeder kennt. Es war eine sehr spezielle Emotion, die Angst als Motivation verkörperte – ein Gefühl, das sie selbst nur allzu gut kannte, eine alte, vertraute Freundin. Es war das Gefühl, das sie bei jedem Fall hatte, an dem sie bislang gearbeitet hatte. Hinter dieser Angst lag eine tief empfundene Leidenschaft, den Fall zu lösen und den Täter so schnell wie möglich festzunehmen. Ein sehr subtiles, schwaches Licht in der erdrückenden Dunkelheit, das sie immer in die richtige Richtung führte. Zudem besaß sie ein unheimliches Gespür dafür, die Gedanken und Gefühle der Täter an den Tatorten zu sehen oder zu fühlen. Manchmal konnte sie sogar ihre Gesichter sehen. All das führte bei ihrer Arbeit zu vielen Missverständnissen und zu Unbehagen - vor allem bei ihrem Vorgesetzten, der ihr den Spitznamen „Storm, die Zigeunerin” verpasste.
Sie hielt das Bild des Gesichts vor ihrem geistigen Auge, während sie nach der Zeichenkohle griff, die auf dem kleinen Tisch neben der Staffelei lag. Sofort begann sie, rasend schnell zu zeichnen, fast schon mit unnatürlicher Geschwindigkeit, um die Umrisse des Gesichts so schnell wie möglich auf die Leinwand zu bringen. Das war ein sehr wichtiger Schritt, da dies das Gerüst der fertigen Arbeit darstellte und es musste von Anfang an sitzen. Sie arbeitete wie unter Hypnose. Sie sah oder spürte nicht länger, dass sie in ihrem Atelier war. Cordy existierte nur noch in einer Welt, einer Welt, die aus einem Stück Zeichenkohle und der Leinwand bestand. Sie hielt für einen kurzen Augenblick inne, trat einen Schritt von der Leinwand zurück und studierte eingehend die Proportionen der Gesichtszüge und die Gesamtproportion des Gesichts auf der Leinwand. Alles muss sich in Harmonie und Einklang mit dem Gesamtwerk befinden. Nur dann würde Angst nicht gefürchtet, sondern als mutiges Kunstwerk bewundert werden. Sie wusste, dass viele Kritiker ihrer Arbeit die Botschaft nicht verstanden, die sie in die Welt zeichnen wollte. Sie selbst war der Ansicht, dass jedes Gefühl, ob positiv oder negativ, ob Freude oder Traurigkeit, Hoffnung oder Hoffnungslosigkeit, Liebe oder Hass, Heiterkeit oder Zorn, Wesensanteile eines jeden Menschen waren. Sobald Menschen versuchen, diesen Emotionen zu entgehen, oder sie nicht als Teil ihres Körpers, ihrer Gedankenwelt und ihres spirituellen Wesens akzeptierten, erschaffen sie eine Welt voller Unsicherheit und Unausgewogenheit. Jedes Gefühl entsteht aus Kreativität und Leidenschaft und muss die Möglichkeit haben, sich zu entwickeln und zu entfalten. Nur dann kann ein Mensch erkennen, was richtig oder falsch ist, schön oder hässlich, unschuldig oder schuldig. Sie arbeitete jetzt an den Augen, dem Fenster zur Seele. Nachdem sie die Konturen der Augenlider fertig hatte, skizzierte sie die Iris auf beiden Seiten und vergewisserte sich, dass beide exakt gleich groß waren und die Pupillen sich genau in der Mitte befanden. Das waren nur winzige Details, aber sie halfen Cordy dabei, aus ihren Arbeiten wahre Meisterwerke zu machen. Wenigstens in ihren Augen. Sie lächelte, innerlich und äußerlich, und gab sich ganz ihrem künstlerischen Schaffensprozess hin und genoss es, wie ihre Kreativität von der Hand auf die Leinwand floss. Im Hintergrund spielte das Radio eine ihrer Lieblingsbands: Metallica, mit Nothing Else Matters. Dann hörte sie ein anderes Geräusch, ein Geräusch, das sie in dem Moment überhaupt nicht hören wollte: Das Klingeln ihres Telefons.
„Hi, Mum! Was machst Du gerade? Malst Du oder verdrischst Du gerade Kriminelle?”
„Haha, sehr witzig. Ich male. Ich arbeite gerade an der Leinwand Dreifaltigkeit der Gesichter, von der ich Dir erzählt habe. Alles klar bei Dir?”
„Ja, alles super. Außer, dass ich nächste Woche Nachtschicht habe.”
„Na ja, dann gerätst Du wenigstens nicht in Schwierigkeiten, mein Schatz. Oder landest in den warmen Betten unwiderstehlicher Männer.”
„Haha, … auch sehr witzig. Sind wir jetzt quitt?”
„Wir sind quitt, Jessie.”
„Aber mal im Ernst, Mum. Manchmal arbeitest Du einfach zu viel. Ich meine, niemand arbeitet so viel wie Du, nicht mal Geoff. Und wenn wir schon beim Thema sind, weißt Du schon das Neueste? Juanita, die auf der Dialyse-Station arbeitet, kennt Janarrapi wirklich gut und sie hat mir neulich in der Mittagspause erzählt, dass Janarrapi ernsthaft darüber nachdenkt, Geoff zu verlassen. Hat er mit Dir darüber gesprochen? Ihr zwei seid doch so gut befreundet, oder?”
„Vielleicht weiß er noch nichts davon.”
„Mum, Geoff ist ausgebildet in NLP. Er kann quasi Gedanken lesen.”
„Ich weiß, aber manchmal ist es so, dass, wenn man selbst gefühlsmäßig zu nahe an jemandem dran ist, es schwierig ist, zu spüren, was der andere denkt. Es ist viel einfacher, wenn ein kaltblütiger Killer Dir beim Verhör gegenübersitzt.”
„Themawechsel. Kann ich Dich mal was Persönliches fragen?”
„Du bist wirklich meine Tochter, keine Frage.”
„Läuft da was zwischen Dir und Geoff? Ihr habt so lange zusammengearbeitet und Ihr versteht Euch wirklich gut.“
„Hör mal, Jessie. Erstens ist Geoff immer noch verheiratet. Zweitens ist er einer meiner besten Freunde und Freunde sind viel wichtiger als Liebhaber. Ich will ihn als Freund nicht verlieren. Und drittens hab ich Dir schon oft genug gesagt, dass ich überhaupt kein Interesse daran habe, eine Beziehung mit einem Mann anzufangen. Und übrigens auch mit keiner Frau!”
„Okay, okay, ich wollte ja nur mal fragen. Du weißt ja, wie ich bin: immer gerade heraus.”
„Nein, Du bist nicht immer gerade heraus. Ich finde eher, dass Du eine ziemlich neugierige Nase bist. Und ich habe keine Zeit für Small Talk. Wir sehen uns dann nächste Woche, Jessie, mein Schatz. Pass auf Dich auf und bring Deine Patienten nicht um!”
„Mum, Du bist einfach zum Knutschen!”
Cordelia lächelte. „Ich weiß, Liebes. Bis dann!” Sie legte auf und ging zu ihrem Bild zurück.