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ОглавлениеEINFÜHRUNG
1 Der vermeintliche Zusammenhang zwischen Atheismus und Naturwissenschaft als Motiv einer Untersuchung nach dem Wahrheitsanspruch des Christentums angesichts des Wahrheitsanspruchs der Naturwissenschaften
Der Atheismus ist jedenfalls im Westen ein Massenphänomen geworden, so stellte P. Ehlen an der Schwelle des dritten Jahrtausends fest1. Es ist vielfach üblich, die heutige Krise von Religion und Kirche in eine Entwicklung, die im Laufe des 16. Jahrhunderts begonnen hat, hineinzustellen, wie es etwa der jüngst verstorbene, 2003 zum Kardinal kreierte Dominikanerpater Georges Cottier, ein Kenner der Geschichte des Atheismus und langjähriger Sekretär der Internationalen Theologischen Kommission und Theologe des Päpstlichen Hauses, getan hat2. Die Religionskriege, die Europa im 16. und 17. Jahrhundert heimsuchten, untergruben die Glaubwürdigkeit des Christentums und führten zu einer ersten Kritik an ihm und an Religion überhaupt. Die Kritik wurde im Laufe der Zeit immer massiver und mündete in offenen Atheismus im Namen der Autonomie von Mensch und Welt. Diese Entwicklung wurde begleitet, wenn nicht ermöglicht vom stetigen Verlust der Kirche an politischer Macht und gesellschaftlichem Einfluß seit dem Ende des 13. Jahrhunderts3. Der ausdrückliche Atheismus war lange Zeit die Sache einer kleinen intellektuellen Elite, doch bereits am Vorabend der französischen Revolution hatte sich in weiten Teilen der Bevölkerung Westeuropas religiöse Gleichgültigkeit breitgemacht, und seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts scheinen für viele Zeitgenossen Religionslosigkeit und Atheismus selbstverständlich und Religion und Kirche endgültig etwas von der Vergangenheit zu sein. Die Geschichtsdeutung A. Comtes scheint sich damit zu bestätigen. Bekanntlich sieht er in der Geschichte einem theologischen Stadium, in dem die Ereignisse durch die Annahme fiktiver übernatürlicher Wesen, Götter oder Geister, erklärt werden, ein metaphysisches Stadium, in dem Denken und Leben von abstrakten Notionen von Absolutem beherrscht werden, folgen und dieses metaphysische Stadium schließlich von einem positiven oder wissenschaftlichen Stadium, in dem die Menschheit bei den wissenschaftlich zu studierenden und studierten Erscheinungen bleibt und nichts hinter, unter oder über ihnen sucht, abgelöst werden. Die Verbreitung der religiösen Gleichgültigkeit im Westen hängt mit der Abnahme der gesellschaftlichen Relevanz von Religion zusammen. K. Lehmann erklärt diese Abnahme mit einem Verweis auf die Religionskriege4. Die Erhaltung der gesellschaftlichen Ordnung und des gesellschaftlichen Friedens schien und scheint nicht aufgrund allgemein akzeptierter metaphysischer Prinzipien, sondern nur durch den Verzicht auf einen weltanschaulichen und lebensanschaulichen Konsens möglich zu sein. Dieser Verzicht ist in der Tat eine Voraussetzung der Demokratie.
Wir glauben nicht, daß wir gegenwärtig Zeugen einer „Wiederkehr der Religion“ sind. Wenn von einer solchen schon die Rede sein kann, dann geht es jedenfalls nicht um eine Rückkehr zum traditionellen institutionellen, kirchlichen Christentum. Die Entkirchlichung bzw. Entchristlichung des Westens, wie sie sich etwa im ständigen Rücklauf der Teilnahme an der sakramentalen Praxis der Kirche zeigt, hält unvermindert an. Und soziologisch weist nichts darauf hin, daß das Christentum in Leben und Bewußtsein der Menschen einer anderen institutionellen Religion Platz machte. Wer gleichwohl an der These einer Wiederkehr der Religion festhält, müßte angeben, was er unter Religion versteht. Religion ist schon längst nicht mehr synonym für Gottesglauben bzw. wird schon längst nicht mehr mit „Theismus“, der Bestätigung der Existenz eines die Welt transzendierenden persönlichen, intelligenten und freien, allmächtigen Gottes, der sie geschaffen hat, sie beherrscht und frei in ihr handelt, gleichgesetzt. Bereits für Schleiermacher bedeutete „Religion“ nicht viel mehr als ein unbestimmtes Transzendenzbewußtsein, das im Bewußtsein der Kontingenz des menschlichen Daseins wurzelt5. Man darf sich fragen, inwiefern Religion, wie Schleiermacher sie versteht, bei unseren Zeitgenossen vorhanden ist. J.B. Metz diagnostiziert im Westen am Ende des 20. Jahrhunderts ein Ja zur Religion bei einem gleichzeitigen Nein gegen Gott. Religion im Sinne der Kontingenzbewältigung, des therapeutischen Umgangs mit den Enttäuschungen des Lebens, und somit im Sinne der wohltuenden psychischen Selbstbestätigung ist dem bürgerlichen Subjekt recht, aber der biblische Gott, der für endzeitliche Gerechtigkeit steht und es an seine Verantwortung für die Armen und Unterdrückten erinnert, ist es nicht6. Die offensichtliche Korrelation zwischen dem Niedergang des Christentums und dem Interesse vieler Zeitgenossen für esoterische Praktiken, für Yoga und Zen-Buddhismus usw. scheint die Diagnose Metz’ auch fünfundzwanzig Jahre nach ihrer Erstellung zu bestätigen, aber die Diagnose muß vor allem seit dem 11. September 2001 ergänzt werden um die Feststellung einer im Westen um sich greifenden Feindseligkeit gegenüber „Religion“, vor allem den drei abrahamitischen Religionen, Judentum, Christentum und Islam. Ihnen wird intellektuelle Rückständigkeit vorgeworfen, insbesondere das Festhalten an einem von Philosophie und Wissenschaft überholten (quasi)mythischen Bild von Welt und Mensch, ein Obskurantismus, dem eine vernünftig ebenso unhaltbare Moral und vor allem eine rücksichtslose, gewalttätige Intoleranz gegenüber Andersdenkenden entsprechen7. Dieser Vorwurf wird heute auf ziemlich aggressive Art und Weise vorgetragen vom sog. neuen Atheismus von Leuten wie Christopher Hitchens, Richard Dawkins und Sam Harris. Der Erfolg ihrer Arbeit zeigt, daß sie keine kleine Elite bilden, sondern in breiten Schichten der Bevölkerung des Westens lebende Gedanken formulieren.
Religionskritik und Atheismus haben sich oft mit einem Verweis auf die moderne Naturwissenschaft legitimiert. Der „alte“ Atheismus von Leuten wie Marx und Engels, Vogt und Haeckel tat das nicht weniger als der „neue“ eines Dawkins. Tatsächlich fällt die Verbreitung des Atheismus im Westen zeitlich in etwa zusammen mit dem Aufstieg der modernen Naturwissenschaft. Das heißt aber nicht, daß sie notwendig den Atheismus zur Folge hat. Längst nicht alle Naturwissenschaftler waren oder sind Atheisten oder Religionskritiker. Wichtige Physiker wie Newton und Maxwell waren bekennende Christen. Es bleibt wahr, daß die Welt der Naturwissenschaft und die Welt der Religion einander in vielerlei Hinsicht fremd gegenüberstehen. Teilhard de Chardin versuchte, diese Fremdheit zu überwinden, da er sie als eine Katastrophe empfand. Anders als viele Glaubensgenossen nahm er gegenüber der Naturwissenschaft keine apologetische Haltung ein. Er war von der Wahrheit der Naturwissenschaft überzeugt, meinte aber, daß eine einseitig wissenschaftlichtechnische Beziehung zur Wirklichkeit der integralen Entfaltung des Menschseins des Menschen im Wege steht. Sie erfordert nach Teilhard de Chardin eine ethischreligiöse Perspektive auf den Menschen, die der französische Jesuit im Christentum gegeben sah. Er strebte nach einer organischen Verbindung von Wissenschaft und Glauben. Anders als Teilhard de Chardin haben viele römisch-katholische Philosophen und Theologen die Naturwissenschaft vor allem als eine Bedrohung des Glaubens empfunden und versucht, seine Kompatibilität mit der Naturwissenschaft aufzuzeigen. Die Wahrnehmung der Naturwissenschaft als Bedrohung des Glaubens war und ist insofern verständlich, als die Naturwissenschaft in der Tat regelmäßig gegen den Glauben ausgespielt wurde und wird. Wir sehen das heute bei Leuten wie Dawkins, im Namen der Biologie, und Stephen Hawking, im Namen der Physik, geschehen. Vor der Gefahr des Mißbrauchs der Naturwissenschaft, insbesondere des Evolutionsgedankens, für das Propagieren eines materialistischen und atheistischen Weltbildes warnte Papst Pius XII. in der Enzyklika Humani generis (1950), in der er gleichwohl die prinzipielle Kompatibilität besagten Gedankens mit der römischkatholischen Religion bestätigte.
2 Thematik, Gedankengang und Struktur der vorliegenden Untersuchung zum Wahrheitsanspruch des Christentums gegenüber dem Wahrheitsanspruch der Naturwissenschaften
Das zuletzt Gesagte bringt uns zum Thema der vorliegenden Arbeit. Sie beschäftigt sich mit dem Verhältnis zwischen christlicher Religion, insbesondere römischkatholischer Glaubenslehre, und moderner Naturwissenschaft unter dem Aspekt der Frage nach der Haltbarkeit der Aussagen ersterer über das, was ist, im Lichte der Wahrheitsansprüche letzterer8. Wir betonen, in unserer Untersuchung nicht das Christentum, die christliche Religion oder die christliche Theologie im allgemeinen thematisieren, sondern uns auf die Glaubenslehre der römisch-katholischen Kirche konzentrieren zu wollen. Sie ist nicht mit dem Christentum identisch, und wir können nicht beanspruchen, fürs Christentum oder in seinem Namen zu sprechen. Es ist wichtig, hierauf hinzuweisen, weil in orthodoxen und protestantischen Kreisen, etwa unter evangelicals, oft andere Haltungen gegenüber der Naturwissenschaft anzutreffen sind als in der römisch-katholischen Kirche, deren Haltung anders als die der meisten anderen christlichen Glaubensgemeinschaften einen normativen Ausdruck findet in den Aussagen des Lehramtes und damit eine gewisse grundlegende Einheit und Einheitlichkeit aufweist. Es läßt sich nicht leugnen, daß es in der Geschichte Spannungen zwischen christlichem Glauben und moderner Naturwissenschaft gegeben hat. Was die römisch-katholische Kirche betrifft, wird in diesem Zusammenhang in der Regel nicht zu Unrecht an die kirchliche Verurteilung Galileis erinnert. Sie ist jedoch, wie unser Verweis auf die Enzyklika Humani generis bereits andeutete, keineswegs charakteristisch für die Haltung von Kirche und Theologie gegenüber der modernen Naturwissenschaft. Das wird im ersten Teil unserer Arbeit, der die geschichtliche Entwicklung des Verhältnisses zwischen christlicher Religion und philosophischem bzw. wissenschaftlichem Denken über die Wirklichkeit skizziert, deutlich werden. Die historische Untersuchung zeigt unter anderem, daß Kirche und Theologie in der Regel gegenüber diesem Denken Offenheit an den Tag gelegt, für naturwissenschaftliche Fragen jedoch kaum Interesse gezeigt haben. Letzteres ist nicht überraschend, da ihre theologische Relevanz minimal ist und sie in der Offenbarung und ihren normativen Zeugnissen, Schrift und Tradition, allenfalls einen marginalen Platz einnehmen. Diese Feststellung entspricht der Beobachtung Kants, daß die Physik uns nicht die „Dinge an sich“ bzw. den Grund der Wirklichkeit enthüllt, sondern Erkenntnis der „Erscheinungen“ durch die Bestimmung ihrer gegenseitigen Verhältnisse, insofern diese meßbar sind, in mathematischer Sprache ist und somit nichts über einen Gott bzw. die mögliche Existenz oder Nichtexistenz Gottes sagen kann.
Kant hat offenbar nur wenige von seiner Auffassung überzeugen können, denn bis auf den heutigen Tag ist das Verhältnis zwischen naturwissenschaftlicher Erkenntnis und christlicher Lehre Gegenstand erhitzter Diskussionen. Der Erfolg der Schriften von Leuten wie Dawkins und Hawking, die unter Zuhilfenahme der Naturwissenschaft die christliche Religion widerlegen wollen, sollte christliche Denker, die mit Naturwissenschaft und/oder Philosophie, insbesondere Epistemologie und Metaphysik, vertraut sind, dazu bringen, sich erneut auf besagtes Verhältnis zu besinnen. Im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit untersuchen wir das Werk einiger Zeitgenossen, die diesem Gebot der Stunde Gehör schenken. Wir beschäftigen uns mit dem Denken des polnischen Physikers M. Heller, des deutschen Naturphilosophen H.-D. Mutschler, des serbisch-amerikanischen Philosophen T. Nagel und des ungarisch-deutschen Theologen B. Weissmahr. Diese Autoren gehen die zur Debatte stehende Problematik auf hohem reflexivem Niveau und aus einer gewissen Vertrautheit sowohl mit der heutigen Naturwissenschaft und der philosophischen Tradition als auch mit der christlichen bzw. römisch-katholischen Glaubenslehre heraus an. Abgesehen von Nagel, der ein Atheist ist, haben die genannten Autoren eine Ausbildung in römisch-katholischer Theologie genossen; für den Theologen, der zeigen möchte, daß die Rede von Gott, dem Schöpfer der Welt, durch die vermeintliche naturwissenschaftliche Erklärung der Welt nicht widerlegt oder überflüssig geworden ist, ist die Auseinandersetzung mit dem Denken Nagels sinnvoll, weil er durch seine wegweisende Arbeit auf dem Gebiete der philosophy of mind seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts regelmäßig mit strikt philosophischen Mitteln, also nicht aufgrund theologischer Vorgaben, das ontologische Ungenügen der modernen Naturwissenschaft, ihr Unvermögen, das Weltgeschehen adäquat zu beschreiben und zu erklären, enthüllt, aber durch seine unbegründete Weigerung, die erklärende Kraft der Theologie gelten zu lassen, sich seinerseits in unüberwindliche Aporien verstrickt.
Dem Denken Nagels wenden wir uns aber erst zu, nachdem wir jenes Hellers und Mutschlers analysiert haben. Der Physiker Heller, der auch Priester ist, macht sich wie Teilhard de Chardin Sorgen über die sich vertiefende Kluft zwischen traditioneller Religion und zeitgenössischer Kultur, näherhin zwischen dem überholten Weltbild der traditionellen Theologie und dem Weltbild der heutigen Naturwissenschaft. Es zeigt sich, daß Heller diese Kluft überwinden möchte in der für ihn wie für viele Naturwissenschaftler selbstverständlichen Annahme, daß die moderne Naturwissenschaft die Wahrheit über die Wirklichkeit und damit eine normative Vorgabe für die Theologie ist. Mutschler zeigt, daß Hellers Standpunkt aus philosophischer Perspektive fragwürdig ist. Die Naturwissenschaften – es ist besser, von den Naturwissenschaften als von der Naturwissenschaft zu sprechen – sind nicht in der Lage, endgültige Aussagen über die Wirklichkeit zu machen, zu ihrem Wesen oder ihrem Grund vorzustoßen. Umgekehrt gesagt: Die Wirklichkeit, sogar die leblose materielle, ist nicht auf das, was die Naturwissenschaften von ihr sagen, zu reduzieren. Als ein Wesen, das mit Blick auf zu erreichende Ziele handelt, sieht der Mensch die Wirklichkeit anders denn als ein Wesen, das sie in neutraler Distanz zu ihr betrachten und beschreiben möchte, und man kann nicht sagen, daß die erste, praktische Perspektive falsch wäre oder minderwertig im Vergleich zur zweiten, theoretischen, diese also die einzige richtige oder zumindest jener überlegen wäre. Technik und Ethik sind irreduzible Perspektiven auf die Wirklichkeit, die nicht weniger als die Wissenschaft Wahrheit erschließen, wenngleich eine andere Wahrheit als die wissenschaftliche. Leider verkennt Mutschler wie Kant, dessen Konzept von Vernunft sich im Denken Mutschlers widerspiegelt, daß die Naturwissenschaft, von der er zugibt, daß sie keine Aussagen über den Grund der Wirklichkeit machen kann, nicht die einzige theoretische Perspektive auf die Wirklichkeit ist. Es ist möglich, a priori Aussagen über das endliche Seiende und somit über die Natur, Aussagen über das, was sie ist, zu machen. Es ist aufgrund von Aussagen über das endliche Seiende als solches, näherhin durch eine Analyse der Tatsache der Veränderung, daß die Bejahung des Daseins Gottes möglich ist. Zu ihr ist die theoretische Vernunft nach Mutschler nicht in der Lage. Diese seine Auffassung ist die logische Konsequenz seiner Identifikation der theoretischen Vernunft mit der modernen Naturwissenschaft, von der Kant mit Recht bemerkte, daß sie über die Gottesfrage nichts sagen kann. Diese ist für Mutschler wie für Kant im Anschluß an die Frage nach dem Sinn des menschlichen Daseins zu entwickeln und somit eine Sache der praktischen Vernunft. Kants Theologie, für die die Existenz Gottes ein Postulat der praktischen Vernunft ist – der Sinn des menschlichen Daseins läßt sich nur unter der Voraussetzung, daß ein Gott ist, denken –, wird niemanden vom Dasein Gottes überzeugen, es sei denn, die kantische Perspektive werde ergänzt um die Suche nach bzw. den Aufweis von Anzeichen jenes Sinnes, den der Mensch seiner Existenz nicht geben kann, in der Geschichte. Für die heilige Schrift ist die geschichtliche Offenbarung Gottes, die zugleich als eine Offenbarung des Sinnes des menschlichen Daseins verstanden werden kann, kein Beweis der Existenz Gottes.
Nagel erkennt, daß der Mensch strebt nach einem Ziel, das er aus eigener Kraft nicht erreichen kann, weigert sich aber, die Möglichkeit eines theologischen Ausweges aus dieser Aporie in Betracht zu ziehen. Nagel ist vor allem dadurch bekannt geworden, daß er seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Irreduzibilität von Subjektivität auf Objektivität, von Bewußtseinsphänomenen auf materielle Prozesse, wie sie von den modernen Naturwissenschaften beschrieben werden, ins Licht gehoben und schließlich zum Ausgangspunkt einer Kritik dieser Wissenschaften und besonders der „neodarwinistischen“ Version der Evolutionstheorie gemacht hat. In den vergangenen Jahren hat Mutschler auf ähnliche Weise oft die Aporien, in die eine sich materialistisch nennende Ontologie, für die das Ganze der Wirklichkeit „nichts als Materie“ und naturwissenschaftlich erklärbar ist, sich verstrickt, benannt. Wenn Nagel darauf hinweist, daß eine vom Mentalen bzw. Geistigen abstrahierende Naturwissenschaft die „Bewußtseinsphänomene“ – Denken, Begehren, Sehen, Fühlen usw. – nicht erklären kann, scheint er aber stillschweigend anzunehmen, daß sie die anorganische Natur hingegen sehr wohl erklären kann. Daß letzteres nicht der Fall ist, wußte Wittgenstein schon. Die Naturwissenschaft bietet keine Erklärung, sondern eine Beschreibung von Sachverhalten oder Ereignissen. Die Tatsache, daß kein Ereignis logisch bzw. ontologisch aus seinen Antezedenzien abgeleitet werden kann, ist eine der grundlegenden Voraussetzungen der modernen Naturwissenschaft als einer empirischen Wissenschaft. Es ist die Voraussetzung, aufgrund der die Naturwissenschaft sich dazu genötigt sieht, alle ihre Aussagen in der Konfrontation mit der Sinneserfahrung zu prüfen. Die Kontingenz des Endlichen und somit des Materiellen ist dem 2005 verstorbenen Jesuitenpater Béla Weissmahr durch seine Ausbildung, durch die er sich mit der Philosophie und Theologie der Neuscholastik vertraut gemacht hat, bekannt, aber in seinen Texten über Gottes Wirken in der Welt betont er das gleichwohl gottgegebene Vermögen des Geschöpfes, selbst tätig zu sein und dabei Neues hervorzubringen. Weissmahr möchte auf diese Art und Weise die Entwicklung des Kosmos, die Evolution des Lebens und sogar die Entstehung der Menschenseele als ein von Gott getragenes „eigenes“ Werk des geschaffenen Seienden denken, mißt u.E. aber der Tatsache, daß das endliche Seiende aus sich selbst heraus nichts vermag, nicht die gebührende Bedeutung bei.
Die Auseinandersetzung der Theologie mit der modernen Naturwissenschaft findet auf sehr unterschiedlichen Ebenen statt. Ein Beitrag Kardinal von Schönborns in der New York Times vom 7. Juli 2005 über die „neodarwinistische“ Version der Evolutionstheorie, die kirchliche Position zu ihr und die Frage nach Finalität und Zufall in der Natur bekam viel Aufmerksamkeit und löste eine breite Diskussion aus, aber ein Zeitungsartikel eines weder naturwissenschaftlich, noch philosophisch ausgewiesenen Theologen, der über das Verhältnis zwischen Schöpfungslehre und Evolutionstheorie nur einige inhaltlich austauschbare Artikel veröffentlicht hat und dabei die Auseinandersetzung mit der Fachliteratur weitgehend scheut, kann kaum die Grundlage einer differenzierten Diskussion über die in Frage stehende Angelegenheit auf der ihrer Komplexität angemessenen, akademischen Ebene sein9. Unsere Analyse der Arbeit Hellers, Mutschlers, Nagels und Weissmahrs gibt den aktuellen Stand der Diskussion der Theologie mit der modernen Naturwissenschaft auf höchstem denkerischem Niveau wieder. Die Diskussion ist nicht bei der Bestätigung der Kompatibilität von Naturwissenschaft und Theologie und der Möglichkeit der friedlichen Koexistenz beider stehengeblieben10. Mutschler und Nagel widerlegen die Ansicht, die Naturwissenschaft, insbesondere die Physik, sei zu einer umfassenden Beschreibung und Erklärung der menschlichen Wirklichkeitserfahrung in der Lage. Wie bereits angedeutet, können wir aber nicht bei den Ergebnissen der Arbeit der vier genannten Autoren stehenbleiben. Sie verfehlen die Möglichkeit, nachzuweisen, daß die theoretische Vernunft qua Suche nach einer Erklärung der sich zeigenden Wirklichkeit die Gottesfrage entdecken und positiv beantworten kann. Heller, Mutschler und Nagel verkennen die Bedeutung der Metaphysik, die die Seienden, ja das Sein überhaupt problematisiert; Weissmahr hat zwar ein „Handbuch“ zur Ontologie verfaßt, verpaßt aber wie die drei anderen die Chance, zu zeigen, daß das Endliche, somit das Universum, nur durch einen transzendenten Seinsgrund, dessen Wirklichkeit sich dem Denken aufdrängt, erklärt werden kann. Ein solcher Aufweis, der in der Diskussion mit den Vertretern des neuen Atheismus von entscheidender Bedeutung ist, findet sich im Schlußkapitel des zweiten Teiles der vorliegenden Arbeit. In diesem Kapitel wird auch die Irrelevanz der modernen Naturwissenschaften und ihrer Ergebnisse für die Gottesfrage aufgezeigt.
Es bildet den Übergang zum dritten Teil, in dem wir auf der Grundlage der in den zwei vorausgehenden Teilen erarbeiteten Einsichten einige im interdisziplinären Gespräch zwischen Naturwissenschaft und Theologie oft gestellte Fragen aufgreifen und systematisch zu beantworten suchen. Nachdem wir die epistemische Tragweite der modernen Naturwissenschaften erkundet haben, zeigen wir, daß sie die Bejahung des Daseins Gottes nicht ausschließen, sondern – wie das Selbst- und Gegenstandsbewußtsein des Menschen überhaupt – gerade einen Weg zu ihr eröffnen. Der Diskussion von Physikalismus und Materialismus, der Widerlegung der Ansicht, die Naturwissenschaft sei zu einer Totalerklärung dessen, was sich dem Bewußtsein aufdrängt, imstande und die Wirklichkeit lasse sich auf das, was sich naturwissenschaftlich beschreiben läßt, reduzieren, folgt eine Untersuchung der Bedeutung „der Evolutionstheorie“ für die christliche Lehre über Gott und die Schöpfung. Dabei wird auch auf die Frage nach dem möglichen Sinn der Rede von Finalität und Zufall in der Natur eingegangen. Anders als oft gedacht, ist diese Frage – wie die meisten heißen Eisen der Diskussion zwischen Naturwissenschaft und Theologie, etwa das Verhältnis zwischen Freiheit und Determinismus und die Legitimität des Materialismus – keine naturwissenschaftliche, sondern eine philosophische Frage, die als solche nicht von der Naturwissenschaft, sondern von der Philosophie beantwortet wird.
Mit dieser Feststellung berühren wir ein wichtiges Ergebnis unserer Arbeit. Das, was man das Gespräch oder gar den Konflikt zwischen Theologie und Naturwissenschaft nennt, ist in der Regel keine Diskussion der möglichen theologischen Relevanz bestimmter naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse, sondern eine Diskussion philosophischer Konzeptionen und sogar populärer Vorstellungen, die von den Naturwissenschaften und ihren Ergebnissen vielleicht suggeriert, aber keineswegs gerechtfertigt werden. Die verbindliche Glaubenslehre über Wesen und Dasein Gottes und über das Verhältnis von Welt und Mensch zu Ihm wird von den Naturwissenschaften und ihren Ergebnissen weder bestätigt, noch widerlegt. So ist es den Naturwissenschaften nicht gegeben, sich zur Gottbezogenheit des Menschen zu äußern. Die Bezogenheit aufs Absolute ist ja etwas vom menschlichen Geiste, und über ihn – über die Frage, ob es ihn gibt bzw. welcher Natur er ist – können die Naturwissenschaften als empirische Wissenschaften nichts sagen. Die Kompetenz der Naturwissenschaften reicht nicht weiter als die Bestimmung quasigesetzmäßiger Zusammenhänge zwischen Sinneswahrnehmungen. Das ist der Grund, warum die Naturwissenschaften auch nicht sagen können, ob etwa materielle Prozesse sich gemäß einem „inneren Determinismus“, der die Möglichkeit der Kausalität durch Freiheit ausschließt, vollziehen. Theologie und Naturwissenschaft berühren einander kaum. Sie können einander weder bestätigen, noch widerlegen. Die Formeln der Physik beziehen sich auf die „Erscheinungen“, die Theologie beschäftigt sich mit dem Sein, das sich nicht in den von der Physik zu studierenden Erscheinungen erschöpft, sondern ihre transzendente Möglichkeitsbedingung ist. Auf diesen Umstand spielt der Titel unserer Arbeit, Von der Formel zum Sein, an. Er ist inspiriert vom Titel einer Arbeit H.-D. Mutschlers, Von der Form zur Formel. Während er in dieser Arbeit die Beziehung zwischen Metaphysik und Naturwissenschaft untersucht, untersuchen wir in unserer Arbeit die Beziehung zwischen Naturwissenschaft und Theologie. Eine konsequente Untersuchung der Beziehung zwischen Naturwissenschaft und Metaphysik hätte u.E. jedoch auch den Titel Von der Formel zum Sein tragen können. Eine konsequent durchgeführte Metaphysik, wie sie auf der Grundlage des Denkens des hl. Thomas von Aquin etwa von F. Ulrich erarbeitet wird, problematisiert ja das Sein der Seienden. Eine solche Metaphysik stößt damit zum transzendenten Seinsgrund, den wir Gott nennen und zu dem die Naturwissenschaft prinzipiell keinen Zugang hat, vor. Die Tatsache, daß zwei Jahrtausende lang die Metaphysik der bevorzugte Gesprächspartner der Theologie gewesen ist und sie während dieser Zeit das Gespräch mit der empirischen Naturwissenschaft kaum gesucht hat, beruht nicht auf einer bedauernswerten Verirrung der theologischen Vernunft, sondern auf ihrem rechten Selbstverständnis. Die theologische Wahrheit ist nicht mit der naturwissenschaftlichen, sondern mit der metaphysischen verwandt11. Dieser Sachverhalt ist allerdings, wie unsere Untersuchung nach dem Wahrheitsanspruch des Christentums angesichts des Wahrheitsanspruchs der Naturwissenschaft in der Diskussion der Gegenwart zeigt, nicht allen Zeitgenossen, die über das Verhältnis zwischen Theologie und Naturwissenschaft nachdenken, hinreichend deutlich und verdient es, neu ins Bewußtsein gehoben zu werden.
1 So EHLEN, Atheismus, S. 302.
2 Siehe COTTIER, Dieux, S. 95-128.
3 Siehe den geschichtlichen Überblick bei MARTINA, Storia I, S. 53-123.
4 So LEHMANN, Gegenwart, S. 11-34.
5 Siehe GREISCH, Buisson I, S. 73-119.
6 Siehe METZ/PETERS, Gottespassion, S. 11-62.
7 Weitverbreitet ist die Überzeugung einer umgekehrten Proportionalität zwischen Bildungsstand und Religiosität. „Eine Gesellschaft hört wie eine Person auf, religiös zu sein in dem Maße, in dem sie entwickelter und freier ist. Das scheint mir eine der grundlegenden Überzeugungen des heutigen Atheismus zu sein“, schreibt SEBASTIÁN AGUILAR, Fe, S. 335.
8 Mittlerweile findet man sogar bei manchen Theologen – etwa BÖTTIGHEIMER, Not, passim – die Ansicht, daß das Bittgebet durch die Entwicklung der Naturwissenschaft obsolet geworden ist. Wir fragen uns, wie sie diese Ansicht vereinbaren können mit Jesu Auftrag, unablässig Gott um alles, was wir verlangen, zu bitten. Böttigheimers Auslassungen irritieren umso mehr, als er offensichtlich kein Bedürfnis, sie durch erkenntnistheoretische und ontologische Analyse zu erhärten, spürt.
9 Zur vom Artikel Kardinal von Schönborns von 2005 ausgelösten Kontroverse, siehe unten, S. 392-394.
10 Siehe SCHOCKENHOFF, Kosmologie, S. 119-127.
11 Denn „alles Theologische ist schließlich metaphysisch“, ja „vielleicht ist alle Metaphysik nur anonym gebliebene Theologie“, meint HENRICI, Philosophie, S. 20.