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ОглавлениеTEIL I. CHRISTLICHER GLAUBE UND NATURWISSENSCHAFT: EINE HISTORISCHE SKIZZE
KAPITEL 1. DIE ENTWICKLUNG DER NATURERKENNTNIS BIS GALILEO GALILEI
Der Begriff „Naturwissenschaft“ ist nicht univok. Es gibt verschiedene Arten von Naturwissenschaften. Der Unterschied zwischen Physik, Chemie und Biologie ist traditionell. In jeder dieser Wissenschaften sind mehrere, oft hochspezialisierte Subdisziplinen zu unterscheiden. Zugleich fehlt es nicht an Versuchen, die verschiedenen Naturwissenschaften samt ihren Subdisziplinen in Einklang zu bringen. Es läßt sich allerdings neben der synchronen Vielzahl von Naturwissenschaften eine diachrone Differenziertheit der Naturwissenschaft ausmachen. Das 17. Jahrhundert – der Anfang der westlichen „Moderne“ – wird meistens als ein Bruch in der Geschichte der Naturerkenntnis betrachtet. Dank dem Werke Galileo Galileis (1564-1642) wurde in der Physik die Methode von Experiment und mathematischer Berechnung vorherrschend, und diese Dominanz existiert bis heute. Die rationale Naturerkenntnis wie es sie bis zur Zeit Galileis gegeben hatte, war der Form nach eher mit der heutigen Naturphilosophie als mit der heutigen Naturwissenschaft vergleichbar, obwohl das, was heute Physik heißt, im „vormodernen“ Denken nicht ganz fehlte12. Ein kurzer Blick auf die Geschichte der rationalen Naturerkenntnis wird uns helfen, Einsicht in die charakteristischen Merkmale der wissenschaftlichen Methode Galileis und damit in die Beziehung zwischen christlicher Theologie und zeitgenössischer Naturwissenschaft zu gewinnen.
Die Entwicklung der modernen Naturwissenschaft steht im Zusammenhang der Geschichte der westlichen Rationalität. Meistens wird die Geburt der Philosophie in Griechenland im 6. Jahrhundert v.Chr. als der Anfang dieser Geschichte gesehen13. Sie beginnt, wenn Menschen Abstand von den traditionellen mythischen Erklärungen der Welt und des Lebens gewinnen und durch Sinnenerfahrung und unabhängiges Denken einen inneren Zusammenhang zwischen Tatsachen und Ereignissen und schließlich eine innere Ordnung in der Welt suchen. Es besteht insofern eine Spannung zwischen dieser Unternehmung und den Mythen, als diese natürliche Ereignisse durch die willkürlichen Eingriffe übernatürlicher Entitäten, Geister und Götter, in die Welt erklären. Die Mythen stellen diese Entitäten oft vor als das Ergebnis eines genetischen Prozesses und in diesem Sinne als einem anonymen Schicksal unterworfen. Die Geburt der Philosophie wird allgemein als der Übergang der Menschheit vom Stadium der Mythe zu dem der Vernunft gesehen. Traditionelle, unkritisch übernommene volkstümliche Vorstellungen fangen an, Platz zu machen für die Suche nach einem weltimmanenten Zusammenhang zwischen Ereignissen, nach einer inneren Ordnung in der Welt, aufgrund unabhängiger Wahrnehmung und unabhängigen Denkens. Diese Suche schließt nicht per se die Annahme von Transzendentem und Göttlichem aus, möchte sie aber nur durch Denken und Wahrnehmung zu begründen suchen.
Daß es eine innere Ordnung in der Natur gibt, legte sich den Menschen – nicht nur den Griechen – der Antike nahe aufgrund der Regelmäßigkeit von Phänomenen wie den Bewegungen der „Himmelskörper“ und dem Wechsel der Jahreszeiten und den entsprechenden natürlichen Ereignissen (dem Ansteigen von Gewässern, dem Blühen von Bäumen usw.). Die Astronomie ist dementsprechend in verschiedenen alten Kulturen schon weit entwickelt. Ähnliches kann von der Mathematik gesagt werden. Sie wird für die Berechnung der Bewegungen der „Himmelskörper“ gebraucht, aber auch um ihrer selbst willen betrieben.
1 Die westliche Philosophie vor Aristoteles
Die ersten Philosophen sind im wesentlichen „Naturphilosophen“. Die Aufmerksamkeit der Milesier Thales, Anaximander und Anaximenes gilt in erster Linie weniger dem Menschen als der Natur. Sie entwickeln eine Art rationaler Kosmologie. Sie nehmen kritisch Abstand von der mythischen Kosmogonie und streben danach, durch Wahrnehmung und Denken ein umfassendes Weltbild zu entwerfen und der Wirklichkeit – allem, was ist – ein universelles Prinzip (arché im Sinne „elementarer Materie“ oder „substantialer Materie“) zugrunde zu legen. Die Milesier beschäftigen sich aber auch mit der Erforschung konkreter, bestimmter Phänomene14.
Für Thales von Milet kann alles, was es gibt, auf Wasser zurückgeführt werden und treibt die Erde auf Wasser. Nach Aristoteles hatte er „empirische“ Gründe für seine Auffassungen. Er scheint festgestellt zu haben, daß alle Lebewesen sich mit feuchten Sachen ernähren. Sein „Weltbild“ ist also – trotz eines bestimmten Grades an Unkontrollierbarkeit – auf Sinneswahrnehmung und rationales Denkens gegründet. Thales beschäftigte sich nicht nur mit der Entwicklung eines Weltbildes, sondern auch mit der Erforschung konkreter, bestimmter Phänomene. Die Geschichte schreibt Thales die korrekte Vorhersage einer Sonnenfinsternis zu. Eine solche Vorhersage ist naturgemäß empirisch überprüfbar. Sie setzt kein globales Weltbild, dafür aber eine gewisse Erkenntnis bestimmter Phänomene voraus, insbesondere die Fähigkeit, die Bewegungen der (oder einiger) „Himmelskörper“ zu berechnen. Wie oben angegeben, gehört diese Art von Erkenntnis zu den frühesten Formen von Naturwissenschaft insgesamt.
Für Thales ist die arché („elementare Materie“ oder „substantiale Materie“) Wasser, für Anaximenes ist sie die Luft. Anaximander hat eine eigentümliche Vorstellung der arché. Sie besteht seiner Ansicht nach nicht in etwas, das als solches in unserer Welt wahrgenommen werden kann. Er bestimmt die arché als das apeiron, das „Unbestimmte”. Es ist nach F. Ricken als der allumfassende Raum zu verstehen. Ricken glaubt, daß Anaximander es wie einen materiellen Körper auffaßt. Das apeiron ist anderer Natur als die Elemente Luft, Wasser und Feuer. Sie kämpfen miteinander, so daß, wenn eines von ihnen absolut gewesen wäre, es die anderen bereits hätte verschwinden lassen. Das apeiron bestimmt alle Vorgänge im Kosmos. Es ist das Göttliche. Alle Dinge kommen aus dem apeiron hervor. Das eine Ding existiert auf Kosten des anderen. In diesem Sinne kommen die Dinge auseinander hervor und es nimmt das eine den Platz des anderen ein. Die Ordnung, die in dieser Weise sich mit der Zeit einstellt, ist gerecht. Die Erde hat die Gestalt eines Zylinders. Die Vorstellung, daß die Welt auf etwas aufruht, wird abgelehnt. Diese Vorstellung ist absurd, denn sie impliziert einen regressus ad infinitum; das, auf dem die Erde aufruhe, ruhte auf etwas anderem auf, dieses auf nochmals anderem usf. Die Erde steht im Mittelpunkt des Kosmos und wird dadurch, daß sie in entgegengesetzte Richtungen (an)gezogen wird, im Gleichgewicht gehalten.
Von der Sinnenerfahrung ausgehend, versuchen die Milesier durch logisches Denken ein rationales Weltbild zu entwickeln. Sie suchen ein Prinzip all dessen, was es gibt (oder was erscheint). Heraklit tut etwas Ähnliches. Er stellt fest, daß es die Gegensätze in der menschlichen Erfahrung – wie Hunger und Sättigung und Nacht und Tag – nur in ihrer gegenwendigen Einheit und durch sie gibt. Es ist genau durch sie, daß die Gegensätze Gegensätze sind. In ihrer untergründigen gegenseitigen Einheit machen sie die Wirklichkeit aus. Das Wesen des Wirklichen ist die Einheit der Gegensätze. Sie haben Sinn, d.h. als solche ist die Wirklichkeit gut, durch die Gegensätze, durch die sie sich konstituiert. Das Positive gibt es nicht ohne das Negative, so daß es ohne Negatives nichts Positives gäbe. Dank dem Hunger ist es möglich, Sättigung zu schätzen. Das Leben ist lebenswert, weil es den Tod gibt. Der Tod polarisiert das Leben und verspricht dem Menschen die Ruhe, nach der er Ausschau hält.
Heraklit möchte die Wirklichkeit nicht nur kennen, sondern sie auch verstehen. Die empirische Erkenntnis ist fragmentarische Tatsachenerkenntnis und verschafft uns somit keine Einsicht. Einsicht ist die Fähigkeit, das Wesen der Wirklichkeit hinter den Erscheinungen zu identifizieren. Heute würden wir sagen, daß Heraklit den Sinn oder die Bedeutung der Tatsachen sucht. Das ist etwas, was die Unternehmung der Milesier vermissen läßt – wie es auch die zeitgenössische Naturwissenschaft ihrem Selbstverständnis nach tut. Aus heutiger Sicht könnten wir Heraklits Denken insofern philosophisch nennen, als es Aussagen über Sein und Sinn der Wirklichkeit als solcher macht, und wir unterschieden Heraklits Denken insofern von der zeitgenössischen Naturwissenschaft, als es im Gegensatz zu dieser nicht primär an der genauen Bestimmung der Ursachen gewisser konkreter Phänomene interessiert ist.
Der Ausgangspunkt des Denkens Heraklits ist die innere Differenziertheit der Wirklichkeit. Im Gegensatz dazu bestreitet Parmenides Möglichkeit und Wirklichkeit von Werden und Veränderung. Er gibt für seine kontraintuitive Position ein logisches Argument. Veränderung ist entweder der Übergang vom Sein zum Nichtsein oder der Übergang vom Nichtsein zum Sein; doch da das Nichtsein nicht ist, ist Veränderung unmöglich. Im Rückblick können wir dieses Denken „metaphysisch“ im aristotelischen Sinne des Wortes oder ontologisch nennen. Wir haben mit einer Aussage a priori über das Sein als solches zu tun. Parmenides’ Unternehmung ist offenbar keine Naturwissenschaft im heutigen Sinne des Wortes. Er nimmt noch mehr Abstand von der Sinnenerfahrung als Heraklit.
Der Rationalismus behauptet, daß „der Vorgang der Bewegung oder irgendwelcher anderer Veränderung einen bestimmten Widerspruch beinhaltet: Etwas ist in einem gegebenen Zustand und zugleich verläßt es diesen Zustand“15. Da diese rationalistische These nicht leicht widerlegt werden kann, aber nichtsdestotrotz offensichtlich der Wahrnehmung widerspricht, erhält das Problem der Möglichkeit von Veränderung oder der Beziehung zwischen Sein und Werden nachhaltige Aufmerksamkeit von Denkern nach Parmenides und Heraklit16.
Demokrit führt die Wirklichkeit auf räumlich ausgedehnte, doch physikalisch unteilbare Partikel („Atome“17) ohne weitere Qualitäten in einem leeren Raum zurück. Es gibt keine Veränderung außer der Ortsveränderung der Partikel im Raum. Alle wahrnehmbare Veränderung – einschließlich all dessen, was wir heute „Bewußtseinsphänomene“ nennen – kann auf die Ortsveränderung der Partikel im Raum zurückgeführt werden. Wie die oben erwähnten Positionen Heraklits und Parmenides’ ist Demokrits „Atomismus“ keine naturwissenschaftliche Theorie im heutigen Sinne des Ausdrucks, sondern eine philosophische Position. Demokrit versucht nicht sosehr, eine Erklärung gewisser konkreter Einzelphänomene im Zusammenhang mit anderen konkreten Einzelphänomenen zu entdecken, als vielmehr die Möglichkeit der Veränderung als solcher zu denken. Sein Versuch führt zu dem, was man ontologischen Materialismus nennen könnte. Demokrit sieht keinen Plan hinter den Bewegungen der „Atome“. Sie bilden Konglomerate wie Menschenkörper, aber das Auftreten solcher Konglomerate und ihr anschließendes Sichauflösen entsprechen keiner wie auch immer gearteten Absicht. Demokrits Ontologie ist nicht nur materialistisch, sondern auch mechanizistisch. Sie steht in einem klaren Gegensatz zum teleologischen Denken Platons und Aristoteles’.
Die Pythagoreer nehmen in der vorsokratischen Philosophie einen besonderen Platz ein. Sie „vermuteten als erste, daß die kosmische Ordnung in geometrischen Formen fixiert und darum rational faßbar sei“18. Trotz der Diskrepanz zwischen mathematischen Formen und physikalischer Wirklichkeit – so kann eine Linie mathematisch zwar einen Kreis in einem einzigen Punkte berühren, doch ist dieser Sachverhalt niemals verwirklicht im Physikalischen, wo es etwa den Kontakt zwischen einer Schnur und einer Säule immer nur in räumlicher Ausdehnung gibt – waren die Pythagoreer davon überzeugt, daß die Strukturen der Welt von mathematischen Strukturen bestimmt sind. Zusammen mit der Entwicklung der Mathematik führte die weitergehende Entdeckung von Diskrepanzen zwischen empirischen Tatsachen und a priori-Lehren Ende des 5. Jahrhunderts v.Chr. jedoch zum Verfall der pythagoreischen Naturphilosophie19. Platon bemerkte, daß die empirisch zugängliche Natur der idealen bzw. ideellen Welt der Mathematik nicht entspricht und „trennte die mit den Sinnen wahrnehmbare veränderliche, materielle Welt, von der nur mit dem Geiste erfaßbaren unveränderlichen, ideellen Welt der mathematischen Formen. Dabei bilden die mathematischen Gegenstände ein Zwischenreich: Im Sand gezogene Kreise oder Querschnitte von Säulen sind Abbilder von eben so vielen verschiedenen mathematischen Kreisen, diese aber ihrerseits Abbilder der einen Idee ‚Kreis‘“20.
Platon unterscheidet zwischen dem Veränderlichen und Materiellen einerseits und dem Unveränderlichen oder den Ideen andererseits, sieht aber eine positive Beziehung zwischen den beiden darin gegeben, daß jenes an diesem „teilhat“ und sein „Abbild“ ist. Nach Platon können wir nur von den Ideen – die das Sein ausmachen – wahre Erkenntnis haben. Er kennt darum keine wahre Erkenntnis – Erkenntnis im wahren Sinne des Wortes – der materiellen Welt oder der Natur. Die Sinnenwelt – die Natur – ist der Gegenstand der „Meinung“. Epistemologisch ist es so, daß, konfrontiert mit dem empirischen Ding, das das Bild ist, wir die Idee, die das Exempel oder der Prototyp ist, erfassen und in ihrem Lichte das empirische Ding. Das Bild wird nur im Lichte des Exempels adäquat erfaßt.
Platons Sicht widerspiegelt sich in Kants Auffassung, daß es Naturwissenschaft im Sinne der Erkenntnis von „Erscheinungen“ gibt, aber keine Erkenntnis von „Dingen an sich“. Heute sprechen wir von „Naturwissenschaft“, und nicht wenige Zeitgenossen werden sogar dazu neigen, die Naturwissenschaft, besonders die Physik, als die Höchst- und Idealform von Erkenntnis überhaupt zu betrachten, aber epistemologisch werden wir Popper recht geben müssen, wenn er sagt, daß im Prinzip jede wissenschaftliche Aussage falsifizierbar ist und die Wissenschaft demnach keine endgültige Gewißheit bzgl. der materiellen Welt erreicht. Auch für die Naturwissenschaft hat die materielle Welt etwas Undurchsichtiges.
Zurückblickend auf das, was wir vom voraristotelischen griechischen philosophischen Denken über die Natur gesehen haben, kann man sagen, daß verschiedene Denkformen entdeckt worden sind. Menschen denken unterschiedlich über die Natur. Ein Grund dafür ist, daß sie unterschiedliche Arten von Fragen über die Natur stellen. Die Milesier versuchten, ein (quasi)physikalisches Prinzip all dessen, was es gibt, auszumachen. Wir können sagen, daß ihre Unternehmung wiederaufgenommen wird von jenen zeitgenössischen Physikern, die eine wissenschaftliche „Theorie von allem“ (theory of everything, ToE), die alles, was wir wahrnehmen, erklärt, suchen. Ebenso antizipiert der Versuch der Milesier, ein umfassendes Weltbild aufgrund empirischer Erkenntnis und rationalen Denkens zu entwickeln, die zeitgenössische wissenschaftliche Kosmologie. Die heutige Naturwissenschaft zeigt weniger Affinität mit dem Denken Heraklits, Parmenides’ und Demokrits. Sie sind weniger interessiert an der konkreten materiellen Welt als an formalen Aspekten der Wirklichkeit als solcher, wie Werden und Sein, wie Differenz und Identität. Das Denken Heraklits, Parmenides’ und Demokrits ist mehr philosophisch orientiert als das Denken der Milesier. Mehr als diese stellen jene Fragen, die die Philosophie bis heute beschäftigen. Es ist wichtig, zwischen einem philosophischen und einem wissenschaftlichen Diskurs über die Natur zu unterscheiden. Mit A. van Melsen kann man sagen, daß die Naturwissenschaft auf die Beschreibung und Erklärung konkreter und somit partikularer Fakten und Ereignisse (oder die Beschreibung und Erklärung von „Spezies“ konkreter Fakten und Ereignisse) abzielt, während die Philosophie das, was der Natur als solcher, notwendigerweise, zugeschrieben werden muß, untersucht21. In der frühen Philosophie nehmen die Pythagoreer insofern einen besonderen Platz ein, als ihr Auftreten den Durchbruch des Bewußtseins, daß die Natur mathematisch beschrieben werden kann, markiert. Es ist eine entscheidende Voraussetzung der modernen Physik. Platon ist weniger an Fragen der Kosmologie, der Naturphilosophie und der Naturwissenschaft interessiert als an ontologischen, anthropologischen und ethischen Problemen. Für ihn ist das Materielle ontologisch zweitrangig, und ihm kann somit nicht das primäre Interesse des Menschen gelten.
Alles in allem sehen wir im voraristotelischen griechischen Denken wenig Naturwissenschaft im heutigen Sinne des Wortes, d.h. im Sinne des Versuchs, ausgehend von konkreten physikalischen Ereignissen und Fakten, die physikalischen Antezedenzien, die zu ihnen führten und sie „erklärten“, aufzuspüren. Das entspricht der Tatsache, daß die fraglichen Denker primär am Wesen der Wirklichkeit und der Dinge interessiert sind, also an der Frage, was Dinge „an sich“ oder „als solche“ sind. Manche Denker berühren nichtsdestotrotz einige formale Aspekte moderner Naturwissenschaft. Wir denken besonders an die Versuche der Milesier und Demokrits, das Komplexe aufs Einfache zurückzuführen, und an das Bewußtsein der Pythagoreer vom mathematischen Aspekt der Natur.
2 Aristoteles
Als Galilei die moderne Naturwissenschaft entwickelte, nahm er ausdrücklich Abstand von der aristotelischen Naturerkenntnis. In den nächsten Jahrhunderten nahm die Beliebtheit der ersteren stetig zu, während die der letzteren proportional dazu abnahm. Es mag sein, daß die moderne Physik die aristotelische in einigen wichtigen Punkten korrigierte; aber es ist nicht so, daß die moderne Physik die aristotelische Naturphilosophie und ihre charakteristischen Denkmuster zur Gänze als wesentlich falsch entlarvte. Tatsächlich verkörpern die moderne Physik und die aristotelische Naturphilosophie zwei grundverschiedene Denkformen. Eben wegen dieser grundsätzlichen Heterogenität brauchen die beiden einander nicht auszuschließen; es ist durchaus möglich, daß sie im Prinzip beide legitim sind. Das korrekte Verständnis des Aristotelismus ist für unsere Untersuchung jedenfalls unabdingbar. Es hilft uns nicht nur, uns der besonderen Merkmale der modernen Naturwissenschaft zu vergewissern, sondern auch, die Beziehung zwischen moderner Wissenschaft und Theologie zu klären. Denn schließlich hat die Theologie – besonders im Thomismus – vom Aristotelismus charakteristische Denkmuster übernommen.
2.1 Die Grundbegriffe der Naturphilosophie – der Hylemorphismus
Aristoteles unterscheidet zwischen der Substanz, die in sich selber steht, und dem Akzidenz, das nicht in sich selbst, sondern in etwas anderem ist. Die Substanz zeichnet sich durch „substanzielle Einheit“ aus.
Die aristotelische Naturphilosophie versteht das materielle Seiende im Sinne des Hylemorphismus. Jedes Seiende ist „zusammengesetzt“ aus „Materie“ und „Form“. Es gibt keine Materie ohne Form und keine Form ohne Materie. Für Platon steht die Idee über dem Materiellen; für Aristoteles hingegen besteht die Form nur in Materie und nicht außerhalb ihrer. Materie und Form bestehen nicht jeweils an und für sich, sondern nur in ihrer gegenseitigen Einheit. Die Beziehung zwischen Materie und Form kann verstanden werden als die Beziehung zwischen Potenz und Akt. Materie ist Potenz für eine Form; durch die Form ist etwas nicht bloß in Potenz, sondern in actu. Jedes physikalische Seiende, obwohl Akt, ist potenziell etwas anderes. Wo es einen Übergang von Potenz in Akt gibt, gibt es Veränderung. Veränderung ist der Übergang von dem, was potenziell ist, in den Akt.
Materie und Form sind zwei der vier „Ursachen“ oder Prinzipien (archai), die nach Aristoteles ein physikalisches Seiendes als solches umfassend erklären. Als seine vier Ursachen nennt er die Materialursache, die Formursache, die Wirkursache und die Zweckursache. Die Materialursache ist das, aus dem ein Seiendes ist, die Formursache das, was ein Seiendes ist, die Wirkursache das, durch das ein Seiendes ist, und die Zweckursache das, für das oder um dessentwillen ein Seiendes ist. Als Übergang von Potenz in Akt ist Veränderung die Verwirklichung einer inneren Finalität oder Tendenz des fraglichen Seienden. Ein physikalisches Seiendes in actu ist etwas Bestimmtes, aber in Potenz etwas anderes; Veränderung ist eben die Verwirklichung der inneren Tendenz des fraglichen Seienden zum Akt dessen, was es in Potenz ist. In der Regel ist ein bestimmtes physikalisches Seiendes kraft seiner Form die Potenz zum Akt verschiedener anderer Seiender, aber nicht alles Vorstellbaren. Durch die Form ist die Potenz für etwas anderes begrenzt. In der physikalischen Welt sind sowohl Substanzen als auch Akzidenzien der Veränderung unterworfen.
Der Zweck eines Lebewesens, d.h. das, wozu es kraft seiner inneren Finalität tendiert, besteht in seinem eigenen Sein bzw. Wohlsein – das Wohlsein ist nichts anderes als die volle Entfaltung des Seins – und in der Existenz der Spezies, zu der das fragliche Lebewesen gehört. Bei Lebewesen fallen Formursache und Zweckursache zusammen; die Form eines Lebewesens ist sein Zweck. Der Zweck des menschlichen Daseins ist die volle Entfaltung des Menschseins22. Analoges kann vom Dasein von Tieren und Pflanzen gesagt werden. Für Aristoteles ist die volle Entwicklung des Menschseins die Entwicklung des Menschen als eines vernünftigen Wesens, d.h. die Betrachtung der Wahrheit oder des göttlichen Seins bzw. das Leben in der polis („politischen Gemeinschaft“). Das Seinsstreben kann verstanden werden als das Streben nach Teilhabe am Sein selbst, also am Göttlichen; es ist der „unbewegte Beweger“, der sich unter heutigen christlichen Theologen geringer Beliebtheit erfreut.
Im Falle eines zusammengesetzten Seienden, das nichtsdestotrotz eine substantielle Einheit ist, ist das Ganze dessen, was das Seiende ist, seine Form und seiner Teile Zweck. Das ist offensichtlich der Fall bei einem Organismus. Seine verschiedenen Organe dienen seinem Sein. Ihre Bedeutung für den Organismus als solchen erklärt ihr Sein und ihr Funktionieren. Das Prinzip des Lebens eines Lebewesens ist die Seele. Sie ist die Form und der Zweck (der Akt) des Leibes qua Materie (Potenz). Seele und Leib können nicht voneinander getrennt werden. Es gibt sie nicht an und für sich. Als das Ende des Lebewesens ist der Tod das Ende sowohl der Seele als auch des Leibes. Wie jedes andere physikalische Seiende sind die Überreste des Hingeschiedenen als eine Einheit von Materie und Form zu denken, doch haben wir es nicht länger mit einem (menschlichen) Leib und einer (menschlichen) Seele zu tun, da es den Menschen, der als Einheit von Leib und Seele existiert, nicht länger gibt. Da es drei Arten von Lebewesen – Pflanzen, Tiere und Menschen – gibt, gibt es drei Arten von Seele: die vegetative, die tierische und die menschliche Seele. Die erste zeichnet sich aus durchs Vermögen der Selbsterhaltung und Selbstreproduktion, die zweite durchs Vermögen der Ortsbewegung und Sinnlichkeit und die dritte durchs Vermögen rationalen Denkens. Die vegetativen Funktionen werden im tierischen Leben behalten, und die vegetativen und tierischen Funktionen im menschlichen Leben. Im Tiere ist das tierische Leben die Form und somit der Zweck des vegetativen, und im Menschen ist das menschliche Leben die Form und somit der Zweck des tierischen.
Bisher haben wir den Hylemorphismus mit Beispielen aus der lebendigen Natur erläutert. Er gibt uns jedoch ein begriffliches Schema, das auf ein jegliches physikalisches Seiendes nicht nur in der organischen, sondern auch in der anorganischen Natur angewandt werden kann, an die Hand. So kann im Falle des Atoms – um bei einer in der heutigen Naturwissenschaft bekannten und diskutierten Entität zu bleiben – von den subatomaren Partikeln gesagt werden, daß sie kraft des ihnen inhärenten Determinismus gerichtet sind auf die Bildung des Atoms als einer (relativ) stabilen Struktur. Ähnliches kann von einer chemischen Reaktion gesagt werden. Die Reagenzien sind kraft des ihnen inhärenten Determinismus auf die Bildung bestimmter Produkte ausgerichtet. In diesen Fällen ist das Endprodukt der Interaktion zwischen den Komponenten eine mehr oder weniger stabile Struktur. Diese Struktur ist das Ganze, das seine Teile erklärt, ihr Zweck und ihre Form. Wie bereits gesagt, hat ein bestimmtes physikalisches Seiendes kraft seiner Form die Potenz für den Akt verschiedener anderer Seiender. In welches von ihnen wird es übergehen? Das hängt ab von den Seienden, denen es begegnet.
Aristoteles’ Begriff der Veränderung kann sowohl auf Substanzen als auch auf Akzidenzien angewandt werden. Ein Beispiel substantieller Veränderung ist die Veränderung eines Lebewesens zu einem Kadaver. Ein Beispiel akzidenteller Veränderung ist die räumliche Bewegung. Sie kann wie jede andere Art von Veränderung verstanden werden als Übergang von Potenz in Akt. Die räumliche Bewegung wird von einer inneren Richtung gekennzeichnet. Die Idee „richtungsloser“ räumlicher Bewegung (Bewegung im engeren Sinn des Wortes) ist unmöglich und absurd. Dementsprechend muß der räumlichen Bewegung notwendigerweise Finalität zugeschrieben werden. Die Finalität der räumlichen Bewegung ist natürlich anders zu verstehen als z.B. die Finalität von Organen, die auf das Sein des Organismus gerichtet sind. Finalität ist kein univoker, sondern ein analoger Begriff.
Die aristotelische Teleologie wurde im modernen Denken oft kritisiert. U.a. Aristoteles’ Begriff der räumlichen Bewegung begegnete strenger Kritik. Ihm zufolge ist ein Körper in räumlicher Bewegung auf seinen „natürlichen Ort“ gerichtet. Da kommt der Körper zur Ruhe. Der „natürliche Ort schwerer Körper“ ist die Erde, und der „natürliche Ort leichter Körper“ liegt in den Himmeln. Aus der Perspektive der modernen Physik betrachtet, sind sowohl Aristoteles’ Begriff des natürlichen Ortes als auch Aristoteles’ Unterschied zwischen leichten und schweren Körpern überholt. Das bleibt aber ohne Folgen für Aristoteles’ philosophische Lehre über die Finalität (Gerichtetheit) der räumlichen Bewegung. Diese Lehre ist in keiner Weise widerlegt. Jedwede Bewegung, und somit auch eine eventuelle gleichförmige Bewegung, ist zu jedem Zeitpunkt gerichtet auf ein zu erreichendes „Ziel“, ohne welches es überhaupt keine Rede von räumlicher Bewegung geben könnte.
2.2 Aristotelische Naturphilosophie und moderne Naturwissenschaft
Aus heutiger Perspektive erscheint der Hylemorphismus nicht so sehr als eine naturwissenschaftliche als vielmehr als eine naturphilosophische Konzeption. Das ist so, weil er im Gegensatz zur modernen und zeitgenössischen Naturwissenschaft nicht versucht, spezifisch konkrete, bestimmte Phänomene (oder „Spezies“ derselben) zu beschreiben und zu erklären, sondern vielmehr von der Natur als solcher spricht. Der Hylemorphismus versucht, Rechenschaft abzulegen von der Tatsache der Veränderlichkeit und der Veränderung, die unleugbar die Natur als solche und jede natürliche Erscheinung kennzeichnet. Er beschreibt die ontologische Struktur, die das physikalische Seiende haben muß, um Subjekt der Veränderung sein zu können. Aber er gibt keine detaillierte Beschreibung bzw. Erklärung spezifischer Phänomene, und besonders spezifischer Veränderungen (oder Arten derselben), wie des Falles eines Körpers, des Treibens eines Körpers auf Flüssigkeit usw. Eine solche Beschreibung bzw. Erklärung, die die Deduktion eines späteren konkreten Ereignisses aus einem früheren erlaubte, ist typisch für die moderne Naturwissenschaft. Der Hylemorphismus kann jegliche vorstellbare Veränderung im Physikalischen beschreiben, sagt aber nichts über die je spezifische Struktur der je besonderen materiellen Seienden und ihre jeweils eigene, besondere Art von Interaktion. Er ist unfähig, spezifische, bestimmte Phänomene von anderen spezifischen, bestimmten Phänomenen abzuleiten oder aufgrund gewisser Phänomene zu sagen, zu welchen anderen Phänomenen sie führen werden, und somit vorauszusagen, was geschehen wird. Dies ist genau das, worauf die moderne Naturwissenschaft zielt; und genau weil die aristotelische Naturphilosophie das nicht leistet, bezichtigten die Modernen sie der „Sterilität“, der theoretischen und praktischen Unfruchtbarkeit. Dieser Vorwurf ist jedoch nicht ganz berechtigt23. Mit A. van Melsen kann man der Naturphilosophie die Aufgabe, die Merkmale, die der Natur oder dem physikalischen Seienden als solchem notwendigerweise beigelegt werden müssen, zu explizieren, zuweisen. Nach Van Melsen setzt die Naturwissenschaft notwendigerweise bestimmte Aspekte des physikalischen Seienden voraus, ohne sie zu explizieren und kritisch zu analysieren. Die fraglichen Aspekte sind Determinismus und Finalität, Raum und Zeit usw. Da die Naturwissenschaft sich auf besondere Phänomene oder Arten derselben konzentriert, ignoriert sie die erwähnten Aspekte. Sie sind das, was die Wissenschaft über die Natur voraussetzt. Diese Aspekte ans Licht zu bringen und ihre Bedeutung und Relevanz zu untersuchen, ist eine bedeutsame Aufgabe und von alters her eine Aufgabe der Philosophie. Van Melsen sieht einen der Aspekte, die die Naturwissenschaft, und das Denken überhaupt, dem physikalischen Seienden zuschreibt, in der Struktur von Spezies und Individuum. Jede Entität, jedes Phänomen in der Natur und jeder ihrer Aspekte ist ein Individuum – eine individuelle Instanziierung oder ein individueller Repräsentant, ein Exemplar – einer bestimmten Spezies. Eine Nachtigall ist ein individueller Repräsentant der Spezies der Nachtigallen, ein Körper von 25 Kilogramm ist ein individueller Repräsentant der Spezies der Körper von 25 Kilogramm usw. Daß die Natur die Struktur von Spezies und Individuum hat, ist eine grundlegende Voraussetzung der Naturwissenschaft, sagt Van Melsen. Er fügt aber hinzu, daß die Wissenschaft als solche ihre Voraussetzungen nicht explizit reflektiert. Indem die Philosophie diese Struktur ans Licht bringt, sagt die Philosophie etwas, was die Wissenschaft nicht sagt. Die Struktur von Spezies und Individuum entspricht der Struktur, die der Hylemorphismus dem physikalischen Seienden zuschreibt, der Struktur von Form und Materie.
Aristoteles’ Lehre von den vier Ursachen („Prinzipien“) mündet in Teleologie24. Die Zweckursache kann insofern als die wichtigste der vier Ursachen angesehen werden, als von der Zweckursache gesagt werden kann, daß sie eine wirksame, befriedigende Erklärung dessen, was geschieht, gibt. Die Zweckursache tut das in der Tat insofern, als die Antwort auf die Frage, zu welchem Zweck etwas geschieht, die Bedeutung des fraglichen Geschehens offenbart. Etwas hat Bedeutung, wenn es gut genannt werden kann; die Frage, zu welchem Zweck etwas geschieht, ist die Frage, wofür das fragliche Geschehen gut ist; und wenn einmal gezeigt ist, daß etwas effektiv gut ist (oder dem Guten dient), hat die Frage, warum es das gibt, eine befriedigende Antwort erhalten. Der Unterschied zu Erklärungen, die die moderne Naturwissenschaft von Ereignissen gibt, springt ins Auge. Sie stellt nicht die Frage, zu welchem Zwecke Dinge da, oder wofür sie gut sind. Stattdessen versucht die moderne Naturwissenschaft Tatsachen von ihren Antezedenzien abzuleiten. Wenn in dieser Weise eine Antwort gegeben wird auf die Frage, warum Dinge da sind, handelt es sich nicht um eine letzte Antwort. Denn sobald Gegebenes auf seine Antezedenzien zurückgeführt werden kann, erhebt sich die Frage nach den Antezedenzien der Antezedenzien; sobald diese Frage beantwortet ist, erhebt sich die Frage nach den Antezedenzien der Antezedenzien der Antezedenzien, usw. Aus aristotelischer Perspektive könnte man insofern sagen, daß die moderne Naturwissenschaft versucht, die Wirkursachen dessen, was ist, zu identifizieren, als von ihr gesagt werden kann, daß sie die Frage nach dem, was Ereignisse „hervorbringt“, stellt. Man könnte aber ebenso sagen, daß die moderne Naturwissenschaft – um die Terminologie Wittgensteins zu verwenden – „Sachverhalte“ beschreibt, daß sie das tut durch „Gesetze“, die die Form mathematischer Gleichungen haben, und daß diese Gesetze als die „Form“ der fraglichen „Sachverhalte“ verstanden werden können25. Dementsprechend könnte die moderne Naturwissenschaft in einem platonischen Sinne verstanden werden, als die Identifikation der „Idee“, an der das Materielle „teilhat“26, und in einem aristotelischen Sinne, als die Identifikation der „Formursache“ des Materiellen (oder, um mit Wittgenstein zu reden, dessen, „was der Fall ist“).
Die aristotelische Naturphilosophie würde allerdings nie eine mathematische Gleichung als die Formursache von etwas identifizieren27. Eine mathematische Gleichung von der Art, wie wir ihr in der modernen Physik begegnen, drückt eine numerische Beziehung zwischen Entitäten wie Raum und Zeit aus. Für den Aristotelismus aber sind Entitäten wie Raum und Zeit „Kategorien“, die der Substanz als bloße Akzidenzien anhaften. Wenn der Aristotelismus das Sein denkt, denkt er grundsätzlich die Substanz, und er denkt Akzidenzien wie Raum und Zeit bloß in Beziehung auf die Substanz. Wenn der Aristotelismus das Sein denkt, versucht er zu sagen, was eine Substanz ist und warum sie ist, was sie ist. Während manche Akzidenzien der Substanz eines physikalischen Seienden einen mathematischen Aspekt haben mögen, ist sie selbst von ihrer Form bestimmt, und als solche hat diese wenig oder nichts Mathematisches. Die Erklärung der Substanz kann demnach nicht mathematisch erfolgen. Die moderne Physik hingegen ist ursprünglich nicht an dem Wesen oder der Form von Substanzen interessiert. Ursprünglich untersucht die moderne Physik Dinge wie die Beschleunigung von Körperbewegungen, die Kraft, mit der Körper aufeinander treffen, usw. Bedeutsamer als ihr Wesen oder ihre Form ist der numerische Wert quantitativer Aspekte, etwa des Volumens, der fraglichen Körper. Das galt für die Physik Galileis und Newtons, und es gilt für die zeitgenössische Physik. So werden Elementarteilchen in Beziehung auf quantifizierbare Aspekte wie elektrische Ladung, Masse usw. bestimmt. Und von diesen Aspekten werden keine Wesensdefinitionen, sondern „operationale Definitionen” gegeben, d.h. die fraglichen Aspekte werden nicht nach ihrem jeweiligen Wesen – das unbekannt ist – definiert, sondern ihre Definitionen verweisen auf die meßbaren Wirkungen, die Teilchen durch die fraglichen Aspekte haben. Die Frage, was Teilchen an und für sich sind, wird nicht gestellt; sie werden aber in ihren gegenseitigen Beziehungen verstanden28.
2.3 Naturwissenschaft bei Aristoteles
Nach Van Melsen untersucht die Naturphilosophie das materielle Seiende als solches, d.h. die Merkmale, die ihm notwendigerweise zugeschrieben werden. In der Regel wird unterschieden zwischen anorganischer („toter“) und organischer („lebendiger“) Natur wie auch zwischen Pflanzen und Tieren. Diese Unterschiede sind traditionell, und sie werden immer noch gemacht. Seitdem zwischen Naturwissenschaft und Naturphilosophie unterschieden wird – was in zunehmendem Maße geschieht seit dem Werke Newtons, also seit dem 17. Jahrhundert –, werden Menschen geneigt sein, von Naturwissenschaft zu reden, wenn Zusammenhänge zwischen bestimmten, spezifischen Fakten oder Phänomenen bzw. zwischen bestimmten, spezifischen Arten von Fakten oder Phänomenen, untersucht werden. Die – implizit oder stillschweigend – so verstandene Naturwissenschaft macht keine Aussagen, die die Natur als solche betreffen. Letzteres soll richtig verstanden werden. Wenn die Naturwissenschaft etwa von Licht spricht, spricht sie von Licht „als solchem“ – aber es ist nicht so, daß jedes natürliche Phänomen einfach als ein Lichtphänomen betrachtet werden könnte, und darum ist vom Licht reden nicht vom materiellen Seienden als solchem reden. Im Gegensatz dazu kann von jedem natürlichen Phänomen gesagt werden, daß es in Raum und Zeit situiert ist (oder daß es sich als raumzeitlich bestimmt), so daß Raum und Zeit als Merkmale des materiellen Seienden als solchen gesehen werden müssen. Die Enthüllung und Erforschung der Merkmale des materiellen Seienden als solchen kann zu den Aufgaben der Naturphilosophie, wie Van Melsen sie versteht, gezählt werden29.
Wenn Naturphilosophie und Naturwissenschaft verstanden werden, wie sie hier verstanden werden, kann die eine Disziplin die andere weder bestätigen, noch widerlegen. Naturphilosophie und Naturwissenschaft beziehen sich auf verschiedene Aspekte und Dimensionen der Wirklichkeit und stellen ihr verschiedene Fragen. Es ist aber möglich, daß Entwicklungen in der einen Disziplin zur effektiven öffentlichen Akzeptanz einer korrekten Einsicht – oder zur effektiven öffentlichen Ablehnung einer falschen – der anderen Disziplin beitragen. Tatsächlich hat die Naturphilosophie von der Entwicklung der Naturwissenschaft profitiert. Es sei hier nur erinnert an die Tatsache, daß Demokrits Atomismus – die Idee räumlich ausgedehnter, aber nichtsdestotrotz physikalisch unteilbarer Partikel – trotz seiner logischen Inkonsistenz sehr lange als eine gut zu verteidigende Position in der Naturphilosophie betrachtet wurde, so aber nicht mehr gesehen wird, seitdem die Physik die Idee unveränderlicher Teilchen aufgegeben hat. Gleichzeitig hat der Hylemorphismus durch die Entwicklung der Physik an Plausibilität gewonnen: Materie als solche ist reine Potenz für den Akt einer Form. Strenggenommen gilt nichtsdestotrotz, daß die moderne und zeitgenössische Naturwissenschaft Aristoteles’ Naturphilosophie, wie sie oben skizziert wurde, weder bestätigt, noch widerlegt. Die Lehre der vier Ursachen und der Hylemorphismus sind a priori gültig; sie beruhen auf einer rationalen Analyse des Begriffs des materiellen Seienden als solchen30 und sind somit immun für die empirische Naturforschung. Umgekehrt sagt der Hylemorphismus nichts über spezifische chemische Reaktionen usw.
Im Gegensatz zum heutigen Denken unterscheidet Aristoteles nicht zwischen Naturphilosophie und Naturwissenschaft. Er unterscheidet zwischen Physik, Mathematik und Metaphysik31. Seine „Physik“ hat allerdings wenig mit der heutigen Naturwissenschaft (insbesondere der zeitgenössischen Physik) zu tun, sondern ist in etwa die Naturphilosophie, wie sie oben umrissen wurde. Aristoteles’ Kriterium zur Unterscheidung zwischen Physik, Mathematik und Metaphysik ist der Abstraktionsgrad, der den jeweiligen Wissenschaften qua Erkenntnisformen eigen ist. Die Physik abstrahiert das Wesentliche (als unterschieden vom Akzidentellen), die Mathematik abstrahiert das Quantitative (als unterschieden vom Qualitativen), und die Metaphysik abstrahiert das Sein als solches. Diese Unterscheidung impliziert, daß die Mathematik kein Mittel zum Erfassen des natürlichen Seienden ist, wie bereits angedeutet wurde32. Für die moderne Physik hingegen ist die Mathematik das unverzichtbare Instrument zum Verständnis der materiellen Welt.
Anhand der Unterscheidung Van Melsens zwischen Naturphilosophie und Naturwissenschaft können wir in Aristoteles’ Werk wissenschaftliche Überlegungen zur Natur von philosophischen unterscheiden. Wir finden wissenschaftliche Überlegungen, wo er die Mathematik verwendet, um bestimmte natürliche Phänomene zu beschreiben und zu erfassen, oder wo er Pflanzenarten beschreibt und analysiert. Anders als seine naturphilosophische Arbeit ist seine wissenschaftliche durch die spätere wissenschaftliche Forschung substanziell widerlegt und korrigiert worden. Seine Irrtümer in der Lehre der Bewegung von Körpern stimulierten die Geburt der neuen Naturwissenschaft im Stile Galileis. Die Talfahrt des Aristotelismus in der Neuzeit erklärt sich zum Teil aus Irrtümern dieser Art. Es bleibt jedoch wahr, daß Aristoteles’ naturphilosophische Leistungen von seinen naturwissenschaftlichen Fehlgriffen im Grunde unberührt bleiben. Die Talfahrt der Naturphilosophie Aristoteles’ in der Neuzeit hat jedoch weniger mit ihnen zu tun als damit, daß diese Naturphilosophie insofern „steril“ war, als sie, anders als die moderne Naturwissenschaft, keine Vorhersagen konkreter, spezifischer Phänomene und somit keine Kontrolle über die Natur erlaubte. Für Aristoteles konnte Kontrolle über die Natur jedenfalls nicht das Ziel der Naturwissenschaft sein. Für ihn ist Naturwissenschaft eine theoretische Wissenschaft und wird als solche um ihrer selbst willen betrieben. Theoretische Wissenschaft ist kontemplativer Natur.
3 Mathematik und Naturwissenschaft in der späteren heidnischen Antike
In diesem Abschnitt gehen wir auf einige Schlüsselmomente in der Entwicklung der Naturwissenschaft in der nacharistotelischen heidnischen Antike ein. Das erlaubt es uns, den oben dargelegten Unterschied zwischen Naturphilosophie und Naturwissenschaft zu beleuchten. Wir konzentrieren uns auf Denker, die die Mathematik in die Physik integriert haben.
3.1 Archimedes
Ein scharfer Unterschied zwischen Philosophie und Wissenschaft, besonders zwischen Naturphilosophie und Naturwissenschaft, wird in der vormodernen Zeit nicht gemacht. Aus heutiger Perspektive können wir in den Werken der Denker der Antike nichtsdestotrotz Ideen, die wir philosophisch nennen, von Ideen, die wir wissenschaftlich nennen, unterscheiden. Wir sahen das bereits im Falle des Werkes Aristoteles’. Er ist hauptsachlich als Philosoph bekannt geworden und bedeutsam geblieben. Archimedes hingegen ist als Naturwissenschaftler berühmt geworden. Archimedes’ Name wird bis heute in den Handbüchern der Physik erwähnt.
Aus wissenschaftstheoretischer Perspektive erscheint Archimedes als ein Vorläufer der modernen Physik33. Die Aufmerksamkeit Archimedes’ gilt nicht der Natur als solcher. Er ist nicht so sehr an Charakteristiken des materiellen Seienden als solchen interessiert als vielmehr an spezifischen Arten konkreter Phänomene, besonders auf dem Feld der heutigen Statik und Mechanik. Coyne und Heller zeigen, daß Archimedes methodisch wie heutige Physiker arbeitet. Er formuliert Hypothesen und prüft sie, indem er sie experimentell mit der empirischen Wahrnehmung konfrontiert. Die Hypothesen betreffen z.B. Beziehungen zwischen u.a. dem jeweiligen Platz von Körpern, ihrem jeweiligen Gewicht, dem jeweiligen Gewicht der Körper, mit denen sie verbunden sind, und ihrem gegenseitigen Abstand. Naturgemäß werden Hypothesen dieser Art in mathematischer Sprache formuliert, wenngleich nicht in heutiger symbolischer mathematischer Sprache. Archimedes formuliert allgemeine Formeln aufgrund empirischer Wahrnehmungen, die naturgemäß partikular und begrenzt sind. Die Formeln sind demnach Verallgemeinerungen dessen, was durch partikulare Beobachtungen wahrgenommen wird. Weiter kann seine Naturbeschreibung insofern eine Idealisierung der Wirklichkeit genannt werden, als er Sachverhalte, die als solche nicht wahrgenommen werden, beschreibt. Seine Beschreibung ignoriert den möglicherweise störenden Einfluß externer Faktoren auf die beschriebenen Sachverhalte, durch den sie geändert würden. Archimedes’ Naturforschung teilt mit der modernen Physik den Mangel an Interesse fürs jeweilige Wesen der studierten Dinge und das Interesse für ihre meßbaren Eigenschaften.
3.2 Ptolemäus
Wir erinnern uns, daß in mehreren alten Kulturen die Berechnung der Bewegungen der „Himmelskörper“ schon weit fortgeschritten war. Die auf empirische Wahrnehmung und mathematische Berechnung gegründete astronomische Erkenntnis führte zum Weltbild des Ptolemäus von Alexandrien (2. Jahrhundert n.Chr.)34.
Aristoteles unterscheidet zwischen der ungezwungenen Ortsveränderung der Erdenkörper und der ungezwungenen Ortsveränderung der Himmelskörper. Die Erdenkörper bestehen aus den vier bekannten Elementen und bewegen sich insofern, als sie ihr Ziel, ihren natürlichen Ort, noch nicht erreicht haben. Die Himmelskörper bestehen aus dem unvergänglichen fünften Element, dem Äther; sie beschreiben gleichförmige Kreisbewegungen ohne Veränderung in der Kurve und ohne Anfang bzw. Ende. Die zweite Art von Bewegung „ist von maximaler Vollkommenheit (Symmetrie), denn die Himmelskörper sind seit jeher am Ziel. Daher ändert sich am Himmel nichts mehr. So gelangt Aristoteles zu einer Zweiteilung des Kosmos in einen supralunaren Bereich der Unveränderlichkeit und darum Vollkommenheit […] und in einen sublunaren Bereich der Wandelbarkeit und Unvollkommenheit […]. Die vollkommene Kreisbewegung der Gestirne ergibt sich also für Aristoteles deduktiv aus ihrem Wesen. Er vergißt aber nicht, seine Deduktion mit der Wirklichkeit zu vergleichen, betont er doch, daß nie jemand eine Änderung der Verhältnisse am Himmel beobachtet habe“35.
Es erwies sich aber als unmöglich, die aristotelische Weltsicht, nämlich die aristotelische Annahme, daß die Himmelskörper gleichförmige Bewegungen beschreiben, mit der empirischen Wahrnehmung in Einklang zu bringen. Auf der Grundlage der Arbeiten von Leuten wie Apollonios von Perge und Hipparch von Nicäa erarbeitete Ptolemäus ein Weltbild, das die Berechnung und Vorhersage der Bewegungen der Planeten erlaubte. Das Weltbild des Ptolemäus ist „kinematisch“, d.h. es gibt eine mathematische Beschreibung der erwähnten Bewegungen, ohne sie durch den Verweis auf Kräfte zu erklären. In der klassischen Antike gab es andere kinematische Weltbilder. Ein Beispiel davon finden wir bei Aristarch von Samos. Aristarchs Weltbild ist heliozentrisch, das Weltbild Ptolemäus’ ist geozentrisch. Aus kinematischer Perspektive können diese Weltbilder äquivalent genannt werden. Das geozentrische Weltbild wurde aber bevorzugt, weil es keine Hinweise auf eine Bewegung der Erde gab. Ptolemäus’ Weltbild wurde betrachtet als ein bloßes Modell zur „Rettung der Phänomene“, d.h. zur geometrischen Beschreibung dessen, was durch die Sinne wahrgenommen wird, und nicht so sehr als eine Beschreibung des Kosmos, wie er wirklich ist. Das lag teils daran, daß die ptolemäische Sicht wesentlichen Ideen der herrschenden aristotelischen Kosmologie, etwa der Idee der konstanten Geschwindigkeit der Himmelskörper, widersprach. Ptolemäus’ Weltbild hat sich bis zum Ausgang des Mittelalters behaupten können, weil – obzwar es im Laufe der Zeit immer wieder angepaßt werden mußte – es ziemlich adäquat „die Phänomene rettete” und es Menschen erlaubte, die Bewegungen der „Himmelskörper“ zu beschreiben und vorauszusagen.
Rückblickend auf das, was wir gesehen haben, kommen wir zum Schluß, daß die Haltung der antiken Griechen gegenüber der Rolle der Mathematik in der Naturerkenntnis nicht homogen war. Die meisten Vorsokratiker diskutieren die mögliche Bedeutung der Mathematik für die Naturerkenntnis nicht. Eine Ausnahme bilden die Pythagoreer. Für sie ist die Mathematik eine wahre Beschreibung der Wirklichkeit und als solche a priori gültig. Platon gesteht die Diskrepanz zwischen Mathematik und dem Materiellen. Ihm streitet er die Wirklichkeit im uneingeschränkten Sinne des Wortes ab, während die Mathematik für Platon wahre Wirklichkeit besitzt, weil die Mathematik zum Ideellen gehört. Für Aristoteles mag die Mathematik eine Rolle in der Beschreibung mancher „Akzidenzien“ des (materiellen) Seienden spielen, aber nicht in der Bestimmung seines Wesens. Archimedes erkennt, daß die Mathematik ein Instrument zur Beschreibung von „Sachverhalten“ in der materiellen Welt ist. Dasselbe kann von Ptolemäus gesagt werden. Die Rezeption des Denkens Ptolemäus’ wird aber beherrscht von der Idee, daß Erscheinungen anhand der Mathematik beschrieben werden mögen, sie selbst aber das Wesen der Dinge nicht berührt.
4 Rationale Erkenntnis der lebendigen Natur in der klassischen Antike
Wir haben bisher hauptsächlich von der rationalen – philosophischen und/oder wissenschaftlichen – Erkenntnis der „leblosen“ oder anorganischen Natur in der heidnischen Antike, besonders im antiken Griechenland, gesprochen. In dieser Kultur entwickelte sich aber auch rationale Erkenntnis der lebendigen oder organischen Natur.
Wir haben gesehen, daß zwei Arten rationaler Naturerkenntnis voneinander unterschieden werden können: philosophische Erkenntnis und wissenschaftliche Erkenntnis im modernen und heutigen Sinne des Wortes. Jene ist gegründet auf a priori Einsichten in die Natur des materiellen Seienden als solchen, diese unterscheidet a posteriori Zusammenhänge zwischen konkreten empirischen Fakten oder Erscheinungen (oder Arten derselben). Wir haben festgestellt, daß im Griechenland der heidnischen Antike beide Arten rationaler Erkenntnis der leblosen Natur vorkamen, die philosophische aber überwog. Was in bezug auf die rationale Erkenntnis der leblosen Natur festgestellt wurde, läßt sich auch in bezug auf die der lebendigen Natur sagen.
Die Aufmerksamkeit Heraklits, Parmenides’ und Demokrits galt primär dem Sein als solchem, so daß in ihrem Denken die empirisch wahrnehmbaren Unterschiede in der Natur wie die Unterschiede zwischen lebendigen und leblosen Seienden keine große Rolle spielten36. Der Hylemorphismus des Aristoteles ist eine philosophische Konzeption des zusammengesetzten Seienden als solchen und kann darum zumindest im Prinzip sowohl auf die leblose als auch auf die lebendige Natur angewandt werden. Aber abgesehen davon, daß er den Hylemorphismus entwickelte, widmete sich Aristoteles auch der empirischen biologischen Erforschung der konkreten Arten der Lebewesen. Seine Weise, die Arten der Lebewesen mit Blick sowohl auf ihre mit anderen geteilten als auch auf ihre je spezifischen, distinktiven Züge zu katalogisieren, ist bis heute ein wichtiger Bestandteil der biologischen Forschung geblieben. Aristoteles kennt die Lehre eines transzendenten Schöpfers der Welt nicht. Für Aristoteles ist die Welt mit ihrer immanenten Ordnung ewig, und die Arten der Lebewesen sind es auch. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts begann die moderne Wissenschaft, Abstand vom „statischen“ Bild der lebendigen Natur, das von einer „Evolution der Arten“ nichts weiß, zu gewinnen. Ein „dynamisches“ Bild der Natur bestand jedoch bereits vor Aristoteles37. Die Naturphilosophie des Empedokles (5. Jahrhundert v.Chr.) kann verstanden werden als ein Versuch, das Dilemma, mit dem die entgegengesetzten Positionen Heraklits und Parmenides’ das Denken konfrontiert hatten, nämlich das Dilemma der Beziehung zwischen Sein und Werden oder zwischen der Einheit des Seins und seiner inneren Differenziertheit, zu überwinden. Empedokles identifiziert Erde, Luft, Wasser und Feuer als die vier „Wurzeln“ oder als die letzten Bestandteile des Kosmos. Sie sind nicht geworden, sie ändern sich nicht und sind unvergänglich. Das, was sich ändert, ist ihre Mischung, und mit ihr die Weise, wie sie verteilt sind. Ihre gegenseitige Beziehung wird bestimmt von Liebe und Streit. Durch die Liebe verbinden sie sich miteinander, durch Streit trennen sie sich voneinander. Liebe und Streit gehen endlos ineinander über. So ist der Kosmos dem endlosen zyklischen Prozeß der Amalgamation und Trennung der „Wurzeln“ unterworfen. Aus ihnen besteht alles im Kosmos, einschließlich der Seele. Die Lebewesen entstehen durch einen Entwicklungsprozeß. Erst entstehen die „homogenen Stoffe“ wie Blut und Fleisch, dann die verschiedenen Glieder; anschließend verbinden sich die Glieder miteinander. Dieser Prozeß ist „zufällig“. Die anscheinend harmonische Organisation des Organismus, in dem alles mit Blick auf ein Ziel zu geschehen scheint (z.B. wachsen die passend gebildeten Zähne am passenden Ort im Mund, damit Teile dessen, was man essen will, abgerissen bzw. gekaut werden können), ist das Ergebnis des Zufalls. Es hat Wesen ohne eine solche Beschaffenheit, die für ihre Fortexistenz nützlich gewesen wäre, gegeben, aber sie sind eben aufgrund dieses Mangels verschwunden. Nur die anderen haben sich als überlebenstüchtig erwiesen. Es sind die Wesen, denen wir heute begegnen. Die Rolle des Zufalls in der Natur erklärt auch die Tatsache, daß wir heute immer noch „mißgebildeten“ Wesen begegnen.
In mancher Hinsicht steht der darwinistische Evolutionismus der mehr als zwei Jahrtausende vorher entwickelten Konzeption Empedokles’ in bemerkenswerter Weise nahe. Zu denken ist an die Idee, daß die gegenwärtig beobachtbaren natürlichen Seienden das Ergebnis eines langen Entwicklungsprozesses sind, daß dieser nicht schnurstracks und mit innerer Notwendigkeit zum Dasein der fraglichen Seienden führt und somit nicht gelenkt, sondern großenteils, wenn nicht gar größtenteils zufällig ist, und daß nur die Seienden, die am besten ihren Lebensbedingungen angepaßt sind, überlebensfähig sind bzw. gewesen sind. Mit Blick auf die Frage der Methode der Naturerkenntnis ist wichtig, daß Empedokles die Existenz der gegenwärtig beobachtbaren Lebewesen nicht als das Werk übernatürlicher – insbesondere göttlicher – Entitäten erklärt, sondern vielmehr als das Produkt natürlicher (irdischer) Faktoren.
5 Naturwissenschaft in der christlichen Welt
Die heidnische Zivilisation der Spätantike machte Platz für eine vom Christentum geprägte Kultur. Die Naturwissenschaft machte in der Spätantike und im Mittelalter keine großen Fortschritte. In der Regel wird der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit mit der Geburt einer „neuen“ Naturwissenschaft, nämlich der Physik, wie sie von Galilei konzipiert wurde, assoziiert, und dies nicht zu Unrecht. Der Durchbruch der „neuen“ Naturwissenschaft ist der Durchbruch der Moderne. Die Höhen, zu denen die Naturwissenschaft seitdem aufgestiegen ist, sind derart, daß, rückblickend auf die Zeit vor dem bahnbrechenden Werke Galileis, man fast unvermeidlich urteilen wird, daß in ihr auf dem Gebiete der Naturwissenschaft kaum Fortschritte gemacht wurden. Dieses Urteil ist nicht falsch, doch sollten aus ihm keine voreiligen, ja irrigen Schlüsse bzgl. der Haltung des Christentums und der Kirche zur Vernunft im allgemeinen und zur Naturwissenschaft im besonderen, speziell im Mittelalter, gezogen werden. Um solche irrige Vorstellungen zu vermeiden, ist es nützlich, einen Blick zu werfen auf die Entwicklung des wissenschaftlichen Betriebs in der Kultur, die vom Christentum gestaltet wurde. Diese Entwicklung steht und muß verstanden werden im breiteren Zusammenhang des Umgangs des Christentums mit dem Problem des Verhältnisses von „Glauben und Vernunft“. Wie der erste Brief des hl. Paulus an die Korinther zeigt, drängte dieses Problem sich dem Christentum bereits in neutestamentlicher Zeit auf (siehe auch Röm. 1 und Apg. 17), und das Problem beschäftigt christliche Denker bis heute. Im folgenden stellen wir das, was wir als die Kernelemente in der Weise, wie im westlichen Christentum das Verhältnis von Glauben und Vernunft oder von Theologie und Philosophie gesehen worden ist38, und in der Entwicklung der wissenschaftlichen Unternehmung in der vom Christentum beherrschten und gestalteten Kultur betrachten, heraus.
5.1 Die basale Denkform in der klassischen Antike und im Mittelalter als der Hintergrund der Offenheit des Christentums für Vernunft, Philosophie und Naturwissenschaft und der gleichzeitigen Marginalisierung der Naturwissenschaft
Sobald das Christentum sich der nichtjüdischen heidnischen (meistens hellenistischen) Welt öffnete, suchte es die Diskussion mit der zeitgenössischen Philosophie. J. Ratzinger unterstreicht, daß es sich in dieser Hinsicht klar von den heidnischen Religionen abhob, und er schreibt diese christliche Besonderheit der Tatsache, daß im Gegensatz zu ihnen das Christentum von seinem Wesen her immer und überall die Wahrheit gesucht, darum sich der Vernunft geöffnet und dementsprechend seinen natürlichen Partner in der Philosophie gefunden hat, zu39. Bei den Kirchenvätern stößt man jedenfalls kaum auf eine grundsätzliche und umfassende Ablehnung von Vernunft und Philosophie. Im Gegenteil, Vernunft und Philosophie werden generell in einem positiven Licht gesehen. In den folgenden Jahrhunderten wird das so bleiben40. Die herrschende Grundüberzeugung ist, daß es keinen echten Widerspruch zwischen Vernunft und (christlichem) Glauben geben kann. Wir begegnen der Ansicht, daß, wenn die Vernunft zu Erkenntnissen, die bestehenden Glaubensaussagen widersprechen, kommt, dies bedeutet, daß die fraglichen Glaubensaussagen auf einer falschen Auslegung der Offenbarung beruhen und diese darum anders interpretiert werden soll, als bisher geschehen ist41. Das Vermögen der Vernunft, die Wahrheit zu erkennen, wird anerkannt, ebenso aber die Tatsache, daß die Vernunft sich irren kann und ihre Kompetenz nicht unbegrenzt ist, auch und gerade in bezug auf theologische Fragen. Das Eingeständnis der Grenzen der Vernunft folgt jedoch aus der Analyse des Begriffs der Vernunft selbst und nicht aus der Aufnahme eines theologischen Apriori, das der Vernunft fremd wäre. Die affirmative Haltung des Christentums zu Vernunft, Philosophie und Wissenschaft gipfelt in der Scholastik. Des „Rationalismus“ bezichtigt, forderte sie die Verneinung des Vermögens der Vernunft, „autonom“ theologische Aussagen zu machen, durch die Reformation heraus. Bis heute hat die römisch-katholische Kirche konsequent die Lehre von Röm. 1,19-2042, daß der Mensch zu „natürlicher“ Gotteserkenntnis in der Lage ist, verteidigt, und auf dem ersten vatikanischen Konzil hat die Kirche diese Lehre als definitiv bindend proklamiert. Der Protestantismus hingegen erfährt sie oft als eine Herausforderung an die Theologie, hat aber Vernunft und Philosophie nicht gänzlich aus der Theologie verbannt.
Historisch gesehen, hat das Christentum also meistens und grundsätzlich eine wohlwollende Haltung gegenüber der menschlichen Vernunft und der Philosophie eingenommen. Dieses Ergebnis muß jedoch näher bestimmt werden. Wir sagten, daß das Christentum von Anfang an sich mit der Vernunft hat verbünden wollen und darum das Gespräch mit der Philosophie gesucht hat. Die Philosophie ist aber nicht etwas Uniformes und Monolithisches; es gibt sie nur in der Vielfalt von Philosophien. Es gibt eine Vielzahl philosophischer Strömungen. Das frühe Christentum erkannte zwar etwas von sich selbst im Platonismus (bzw. im sog. Mittelplatonismus und Neoplatonismus) und im Stoizismus, aber es konnte diese philosophischen Strömungen doch nicht einfach integral akzeptieren. Denn bis zu einem gewissen Grad waren sie nicht mit dem christlichen Gottesbild und dem christlichen Verständnis der Heilsökonomie zu vereinbaren43. Trotz der Pluralität der philosophischen Strömungen in Antike und Mittelalter läßt sich eine homogene philosophische Kultur in diesen Epochen erkennen. Denn in gewisser Hinsicht verweisen diese Strömungen grundsätzlich auf eine einzige Denkform. Wenn sie sich nicht auf einer gemeinsamen Grundlage bewegten, könnten sie gar nicht miteinander kommunizieren und diskutieren. Das Werk des hl. Thomas von Aquin bezeugt, daß es möglich ist, platonische mit aristotelischen Gedanken zu verbinden, eben wegen des Vorhandenseins einer der platonischen und aristotelischen Philosophie gemeinsamen gedanklichen Basis, die von den inhaltlichen Differenzen zwischen den beiden philosophischen Strömungen unberührt bleibt. Man kann sagen, daß, global gesprochen, das Christentum in der heidnischen Philosophie die ihm eigene Denkform fand. Nach H. Rombach kreist die Denkform der vormodernen (antiken und mittelalterlichen) Philosophie um den Begriff des Seins im Sinne dessen, was bleibt, d.h. im Sinne dessen, was ist und als solches für den Menschen wesentlich oder wirklich bedeutsam ist44. Rombach behauptet, daß diese Art von Philosophie sich im Dienste des menschlichen Lebens sieht45. In der vormodernen Philosophie begegnete dem Christentum somit ein Denken, das ihm verwandt war, nämlich wie es selbst das Sein – die Wahrheit, Gott – in seiner Eigenschaft des guten, d.h. vollendeten Lebens suchte46. Die heidnischen Religionen, besonders die hellenistischen „Mysterienreligionen“, suchen auch das gute Leben, ignorieren aber, im Gegensatz zu Philosophie und Christentum, das Bedürfnis des Menschen nach vernünftiger Begründung seiner Überzeugungen und Praktiken, und das wird schließlich das Ende des Heidentums bedeuten47. Im Vergleich zum Judentum hat das Christentum den Vorteil, eine universalistische Religion zu sein.
Die Feststellung der Affinität des Christentums mit der antiken Philosophie darf einen wichtigen Unterschied zwischen beiden nicht verhüllen. Er besteht im wesentlichen darin, daß das Christentum auf Offenbarung gegründet und darum die Religion der Freiheit, sowohl der göttlichen als auch der menschlichen, ist48. Der Stoizismus ist pantheistisch und kreist um die Idee des fatum, des Schicksals. Anders als vom biblischen Gott kann von Platons Idee des Guten und Aristoteles’ unbewegtem Beweger nicht gesagt werden, daß sie bzw. er aus freien Stücken die Welt geschaffen, sich geoffenbart oder sich inkarniert hat49. Platons Idee des Guten und Aristoteles’ unbewegter Beweger erscheinen nicht so sehr als eine Wirklichkeit, die sich dem Menschen in unerwarteter und überraschender Weise durch historische Erfahrung bekannt macht, sondern eher als etwas, das beim Versuch, die Welt rational konsistent zu denken, mit logischer Notwendigkeit als das begründende oder letzte Element der Welt angenommen werden muß. Für das Christentum ist Gott ein Gott, der dem Menschen in seiner Geschichte begegnet, und kein bloß gedachter Gott; eher als etwas, das das menschliche Denken als logisch notwendig annehmen muß, ist Gott eine Person, die Sich ungefragt und unerwartet dem Menschen aufdrängt. Mit diesem Gottesbild verteidigt das Christentum Gottes radikale Transzendenz mit Bezug auf Welt und Mensch. Im Grunde ist Gottes Transzendenz identisch mit Seiner absoluten Freiheit und darum mit Seiner Personalität. Rationales Denken, wie es sich in Griechenland entwickelte, kann verstanden werden als ein Versuch, Regularität, ja die Ordnung in der Welt bzw. die ihr immanenten Gesetze zu enthüllen50; vom abrahamitischen und somit vom christlichen Monotheismus kann gesagt werden, daß er die Erfahrung, daß das Leben unvorhersehbar ist, aufnimmt und ernst nimmt, ohne der Tatsache der Regularität in der Natur Abbruch zu tun. Der abrahamitische Monotheismus entspricht der Erfahrung der Ungewißheit des menschlichen Daseins, in dem jederzeit jedes geschehen kann und nichts vorhersehbar ist. Der biblische Gottesglaube widerspricht nicht der Wahrnehmung von Ordnung und Regularität in der Welt und besonders in der Natur, er versteht die fragliche Ordnung aber nicht als etwas, das in sich selbst ruht, sondern – im Lichte der Tatsache, daß immer das Unerwartete sich ereignen kann und manchmal auch tatsächlich sich ereignet, zumal auch im Lichte der erkannten freien Selbstoffenbarung Gottes in Wort und Tat in der Geschichte – als etwas, das von Gottes Willen abhängt. Gottes Wille ist kein Willkürwille – sonst wäre die Welt in ihrem Verlauf unvorhersehbar und unzuverlässig, das aber ist offensichtlich nicht der Fall. Gottes Wille ist gleichwohl logisch oder ontologisch nicht derart fixiert, daß die Ereignisse in der Welt und ihr Geschick mit Sicherheit vorausgesagt werden könnten.
Der Unterschied zwischen der heidnischen philosophischen und der christlichen Sicht der Wirklichkeit ist verbunden mit einem Unterschied in der Sicht der Bestimmung des Menschen und der Weise, sie zu erreichen. Für die griechische Philosophie wird die Bestimmung des Menschen von der Ordnung der Wesensbestimmungen der Dinge her und besonders von seinem eigenen Wesen her bestimmt, und er kann und muß seine Bestimmung durch ein entsprechendes, angemessenes Leben erreichen. Für das Christentum hingegen ist die menschliche Bestimmung nicht einfach fixiert durch das menschliche „Wesen“ oder die menschliche „Natur“ (im ontologischen Sinn des Wortes). Gott kann kraft Seiner Freiheit dem Menschen unerwartet mehr geben als das, was er aufgrund der Wesensordnung der Dinge und besonders seines eigenen Wesens erwarten kann. Das ist in der Tat ein Kerngehalt des christlichen Glaubens: Gott wurde Mensch, auf daß der Mensch Gott werde. Das Wesen des Menschen mag in ihm die Hoffnung auf Vergöttlichung wecken, aber mitnichten die Erwartung derselben. Er kann insofern seine Vergöttlichung erhoffen, als er sich für transzendente Erfüllung offen weiß. Schließlich findet er im Endlichen ja keine Erfüllung, da es ihm nicht das Gute als solches verschafft. Er darf seine Vergöttlichung jedoch insofern nicht erwarten, als er sie nicht aus eigener Kraft erreichen kann. Er kann nur durch die Gnade Gottes Erfüllung finden. Das bedeutet nicht, daß das menschliche Leben ohne die Gnade der Vergöttlichung schlechterdings sinnlos wäre. Als solches ist das menschliche Leben sinnvoll51. Von den vorchristlichen griechischen Denkern ist Platon wahrscheinlich derjenige, der der christlichen Perspektive aufs menschliche Leben am nächsten kommt. Er erkennt, daß das Gute als solches, und folglich die menschliche Bestimmung – das Leben der Seele –, das Dasein in der Welt transzendiert. Für Platon aber ist das Erreichen der menschlichen Bestimmung keine Sache der Gnade. Der Mensch soll sich der transzendenten Identität der Seele bewußt werden und dementsprechend leben, auf daß sie zu ihrem Vaterland finde. Ein wichtiger Unterschied zwischen der platonischen und der christlichen Konzeption besteht darin, daß für diese anders als für jene der Mensch dem irdischen Leben nicht zu entfliehen braucht, um des Göttlichen teilhaft zu werden, weil die Bestimmung des Menschen die Liebe ist und er Liebe bereits auf Erden finden kann. Gott ist Liebe, und Er hat Sich in der Geschichte als Liebe manifestiert52. Die starke Betonung der Bedeutung der göttlichen und der menschliche Freiheit und folglich der göttlichen Gnade für das Heil im Christentum entspricht der Tatsache, daß es die Liebe als das Herz des Heils identifiziert. Diese Identifikation ist der Philosophie fremd – sogar Platon, der immerhin die Idee des Guten als die höchste Idee identifiziert.
Trotz der Mängel, die das Christentum in der Philosophie erblickte, suchte es ein ernsthaftes Gespräch mit ihr. J. Ratzinger sucht die Erklärung dieses Phänomens darin, daß beide, Christentum und Philosophie, auf der Suche sind nach der Wahrheit, die durch rationales Denken entdeckt werden soll. Er behauptet sogar, daß das Christentum aus der Verbindung des Judentums mit der griechischen Philosophie gewachsen sei. Es wird jedenfalls auf breiter Ebene anerkannt, daß das Christentum viel von sich selbst wiedererkannte im Platonismus mit dessen Nachdruck auf die transzendente Idee des Guten. Nach den Hinweisen H. Rombachs können wir sagen, daß sowohl die antike Philosophie als auch das Christentum das Sein im Sinne dessen, was für den Menschen wesentlich ist, suchen. Es ist nicht einzusehen, wie man redlich behaupten kann, daß das Christentum die Denkform von der Philosophie (oder den Philosophien) des Griechentums bzw. Hellenismus übernommen habe, obwohl dem Christentum diese Denkform zutiefst fremd war. Es hat vielmehr den Anschein, daß das Christentum die Denkform der griechischen Philosophie als ein veritables Movens in sich einbegreift, bzw. diese Denkform den existentiellen und konzeptuellen Horizont der ganzen hellenistischen Welt, die das Judentum in den Jahrhunderten um den Beginn unserer Zeitrechnung und damit auch die Geburtsstätte des Christentums umfaßte, ausmachte.
Für diese Denkform nimmt die archimedische Naturwissenschaft – die die moderne und heutige Naturwissenschaft antizipiert – natürlich nur einen marginalen Platz im Ganzen des Denkens und Wissens ein. Die Vorsokratiker, besonders die ionischen Naturphilosophen, sind am Materiellen interessiert, aber genau insofern, als in ihm die arché, das Prinzip – das Bleibende oder Wesentliche – alles dessen, was ist, vermutet wird. Die Vorsokratiker sind weniger an der spezifischen Natur der Verhältnisse zwischen bestimmten Phänomenen interessiert. Der Platonismus bestreitet sogar, daß die materielle Welt der Gegenstand von Erkenntnis im strengen Sinne des Wortes sein könne. Erkenntnis ist Erkenntnis dessen, was ist im Sinne dessen, was bleibt; und was bleibt, ist nichts Materielles, sondern die Welt der Ideen. Anders als der Platonismus hält der Aristotelismus das Materielle für erkennbar, aber er faßt die Naturerkenntnis nicht primär im Sinne der archimedischen oder modernen Naturwissenschaft auf. Denn die Aspekte des materiellen Seienden und ihre gegenseitigen Verhältnisse, die die archimedische und die moderne Naturwissenschaft untersuchen – Zeit, Ort, Gewicht, Volumen, Bewegung usw. –, sind akzidentell und haben eine nur marginale Beziehung zur Substanz eines Dinges. Die Substanz wird durch die Form erfaßt. Es verdankt sich dem Wesen oder der Natur der Substanz, daß wir wissen, was Substanz als sie selbst ist. Die Mathematik spielt insofern keine Rolle in dieser Art von Erkenntnis, als das Wesen einer Substanz – das, was sie ist – qualitativer Natur und somit für mathematische Berechnung nicht offen ist. Der Aristotelismus behält jedoch im Ganzen der Erkenntnis einen Platz für die mathematische Naturwissenschaft im Stile Archimedes’. Es ist aber ein marginaler Platz. Schließlich studiert die mathematische Naturwissenschaft bloß einige Akzidenzien des materiellen Seienden. Für den Aristotelismus ist Erkenntnis wirklich Erkenntnis der Substanz durch ihr Wesen, ihre Form oder Natur. Grundsätzlich beabsichtigt die Naturwissenschaft, wie sie Archimedes und Galilei entwickeln, nicht so sehr die Formen von Substanzen als vielmehr die quantitativen Beziehungen zwischen quantitativen und/oder quantifizierbaren Aspekten – wie Gewicht bzw. Masse, Volumen und Ort – von Entitäten, deren Form, Wesen oder Natur – das, was sie sind – im Prinzip unerheblich ist, zu erfassen. Die aristotelisch inspirierte Idee von Wesenserkenntnis spielt aber eine Rolle für die Naturwissenschaft im Stile Archimedes’ und Galileis, wenngleich nicht unbedingt explizit. Denn diese Art von Naturwissenschaft kann nicht darauf verzichten, etwas als das, was es ist, zu erfassen und so von dem, was es nicht ist, zu unterscheiden. So wie in Chemie und Biologie etwas als das, was es ist, erfaßt wird – z.B. als dieses oder jenes bestimmte chemische Element, als diese oder jene bestimmte Art von Lebewesen –, werden in der Physik Entitäten und Phänomene erfaßt als das, was sie sind: als Elektronen, Lichtwellen usw. Nach Rombach aber können wir sagen, daß die moderne Naturwissenschaft kraft der ihr zugrundeliegenden Denkform nicht interessiert ist am Sein im Sinne dessen, was für den Menschen wesentlich ist, sondern vielmehr an der Art und Weise, wie in der materiellen Welt eine Entität auf eine andere verweist (z.B. der Art und Weise, wie Energie auf Masse verweist). Als Wissenschaft des Materiellen ist die moderne Naturwissenschaft weniger interessiert an dem, was bleibt, als an dem, was sich verändert, wie Masse und Volumen. Diese Beobachtung wird nicht widerlegt durch den Einwand, daß die moderne Wissenschaft nach den im Prinzip immer und überall gültigen Gesetzen, die die Veränderung bestimmen, sucht. Es bleibt wahr, daß die moderne Wissenschaft nicht an „substanziellem Sein“ welcher Art auch immer interessiert ist – und es dann auch, was kaum überraschen kann, nicht findet.
Die Denkform des Christentums ist (oder war) die Denkform der griechischen Philosophie. Beide suchen insofern das Sein – das, was ist –, als es fürs menschliche Leben wesentlich ist. Ebensowenig wie die griechische Philosophie schließt das Christentum die archimedische Naturwissenschaft aus, und ebensowenig wie die griechische Philosophie hält das Christentum die archimedische Wissenschaft für echt bedeutsam. Dieses Ergebnis unserer bisherigen Untersuchung wird bekräftigt durch einen Blick auf das, was die Offenbarung über die Beziehung des Menschen zur Natur sagt.
5.2 Über die Beziehung des Menschen zur Natur nach der Heiligen Schrift
Die Denkform, die der griechischen Philosophie zugrunde liegt, ist derart, daß die Aufmerksamkeit, die sie der Naturwissenschaft im Sinne Archimedes’ und Galileis schenkt, bescheiden ausfällt. Durch diese Art von Naturwissenschaft mag man etwas lernen über einige Akzidenzien des materiellen Seienden, man dringt aber nicht zum Sein als solchem vor, und genau dieses ist es, was zählt im menschlichen Leben. Das Christentum teilt diese Denkform mit der griechischen Philosophie, und in der vom Christentum beherrschten Kultur begegnen wir oft derselben Haltung der Naturwissenschaft gegenüber wie in der vorchristlichen griechischen Kultur. Der christlichen Haltung der Naturwissenschaft gegenüber soll aber mehr im Detail nachgegangen werden. Die Haltung des Christentums der Naturwissenschaft gegenüber kann nicht einfach mit jener der griechischen Philosophie identifiziert werden, weil, wie wir bereits herausstellten, Christentum und griechische Philosophie nicht identisch sind.
1 Offenbarung, Gott, Schöpfung, Übel und Erlösung
Das vorchristliche Judentum, in dem die Wurzeln des Christentums liegen, betrachtet sich selbst als die Frucht einer fortschreitenden Selbstoffenbarung Gottes. Das Volk Israel verstand sich selbst als Werk Gottes. Er hat das Volk durch eine Reihe historischer Ereignisse zu Seinem Volk gemacht. Angefangen mit der Berufung Abrahams, gipfelt sie in der Befreiung Israels aus der Sklaverei in Ägypten, der Gabe des Gesetzes des Mose ans Volk und der Ankunft in Kanaan, dem verheißenen Land. Israel ist dazu auserwählt, durch seinen Gehorsam Gottes Willen, dem Gesetze, gegenüber ein Zeichen des Heils für die Völker zu sein. Gottes Plan besteht darin, daß die Nationen, indem sie dieses Zeichen sehen, von Israel angezogen werden und des Heiles, das in ihm aufleuchtet, teilhaft werden53. Das Leben im Gehorsam gegenüber Gott, das Israel zu leben auserwählt ist, verwirklicht und manifestiert sich in gerechten Beziehungen in allen Bereichen des menschlichen Lebens, sowohl in persönlichen als auch in gesellschaftlichen, in sexuellen und familialen nicht weniger als in politischen und wirtschaftlichen Angelegenheiten. Gerechtigkeit, Friede und Wohlergehen mögen die am meisten ins Auge springenden Komponenten des Heils sein, die Herzensmitte aber ist die rechte Beziehung zu Gott. Das Heil ist Gottes Werk. Die Befreiung Israels aus der Sklaverei in Ägypten und das Gesetz, das die religiöse und soziale Ordnung in Israel bestimmt, sind Gottes Gabe. Es ist genau die Untreue gegenüber Gott, die Israel, einmal im verheißenen Land angekommen, in Chaos und Elend werfen wird. Sie gipfeln in der Unterdrückung und Versklavung des Volkes durch fremde Mächte und im Verlust des verheißenen Landes während des Exils in Babylonien. Doch sind die Beziehungen im Volke schon vor dieser historischen Katastrophe gestört; und es ist dies das Ergebnis eines Mangels an wahrer Gottesfurcht. Die Propheten, die zum Volke gesandt werden, beklagen Apostasie (Untreue gegenüber Jahwe und die Verehrung falscher Götter) und soziale Ungerechtigkeit (besonders die Unterdrückung der Armen).
Das Herz des Lebens des Volkes Israel ist die Beziehung zu Gott. Sie beruht auf dem, was als Selbstoffenbarung Gottes wahrgenommen wird. Er hat zu mehreren Personen (besonders Abraham und Mose) gesprochen, Er hat das Leben der Patriarchen (Abraham, Isaak, Jakob, Joseph) so gelenkt, daß aus ihnen das Volk Israel hervorgegangen ist, Er hat es aus der Sklaverei in Ägypten befreit, durch Mose Israel das Gesetz gegeben und durch die Propheten zum Volke gesprochen und es zum Gehorsam Ihm gegenüber ermutigt. Offenbarung geschieht also durch Wort und Tat. Die Offenbarung schafft Neues und Unerwartetes in der Geschichte54. Offenbarung geschieht nicht nur in der Geschichte; Offenbarung schafft auch Geschichte. Offenbarung treibt Menschen dazu an, Dinge, die sie ohne die Offenbarung nie getan hätten, zu tun; sie schafft Fakten, die den Adressaten der Offenbarung eine neue und unerwartete Zukunft eröffnet55. Das Zukunft Schaffende ist genau das, was die Offenbarung offenbart und wodurch sie als solche unterschieden wird; mit anderen Worten, historische Ereignisse werden deswegen als Taten Gottes in der Geschichte und als Seine Selbstmitteilung an Menschen wahrgenommen, weil neue und unerwartete Möglichkeiten eröffnet werden. Offenbarung beinhaltet nicht, daß das Geheimnis der Welt bzw. das Geheimnis hinter ihr sichtbar oder transparent wird. Gott bleibt in der Offenbarung verborgen56. Und als solcher will Er anerkannt, respektiert und geehrt werden. Er ist die absolute Macht über die Welt und als solche transzendent, frei und unfaßbar. Man kann sich demnach kein Bild von Gott machen. Man soll sich keins machen; wenn man es täte, ehrte man Gott nicht so, wie Er ist, sondern tendierte dazu, das Göttliche mit etwas Endlichem zu identifizieren und somit sich von einem Idol versklaven zu lassen. Nach der biblischen Offenbarung ist der Mensch jedoch nach Gottes Bild und Gleichnis geschaffen. Die Theologie hat den Sinn dieser Aussage bis heute nicht vollständig erfaßt57. Es darf aber angenommen werden, daß sie auf die Offenheit des Menschen für die Offenbarung Gottes, die er verstehen und der er frei antworten kann, und für Seine Selbstmitteilung, die er frei entgegennehmen kann, verweist. So zeigt sich, daß im Menschen sich etwas Wesentliches von Gott Selbst widerspiegelt, nämlich etwas von Seiner Freiheit, Seiner Unbegreiflichkeit, Seiner Transzendenz und Seiner Erhabenheit; und durch die positive Antwort auf Gottes Selbstmitteilung hat der Mensch teil an Gottes Leben, so daß er Ihm ähnlich wird. Durch die Offenbarung offenbart Gott Sich als Macht über die Natur und damit als ihr Schöpfer. Sie ist Gottes Willen unterworfen. Der Gott, der Sich als Macht über Natur und Geschichte manifestiert, der nicht in die Welt eingeht und mit ihr untergeht, der vielmehr, erhoben und erhaben über allem, eben dieses All in Seiner Hand hält, ist naturgemäß einer, unvergleichlich und einzig. Es gibt keinen Gott neben Ihm. Der biblische Gottesglaube ist von seinem Wesen her monotheistisch58. Die Offenbarung löst zwar das Geheimnis, das Gott ist, nicht auf, sie offenbart aber immerhin, daß Er ist, und damit, daß Welt und Mensch nicht sich selbst überlassen sind, sondern ihre Wurzeln und Zukunft in Ihm haben. Gottes Macht ist keine Willkürmacht, sondern offenbart sich als wohlwollend und Zukunft schaffend.
Der biblische, insbesondere der alttestamentliche Glaube an Gott als den transzendenten Schöpfer des Universums wirkt sich aus auf das Bild der Natur und des Menschen Beziehung zu ihr. Die Natur ist kein Absolutes und erscheint nicht als ein fatum, dem der Mensch unterworfen wäre. Das ist nicht nur so, weil Gott hinter der Natur steht. Von Gott angesprochen und fähig, Ihm zu antworten, weiß der Mensch sich selbst als frei. Er weiß sich damit frei vor der Natur und frei, über sie zu herrschen. Für den Menschen, der die Natur in den Händen des Gottes, der eine Zukunft für die Welt schafft, weiß, ist die Natur zumindest im Prinzip nicht unberechenbar oder unzuverlässig. Gott herrscht so über die Natur, daß das Leben überhaupt in seiner Vielgestaltigkeit und das menschliche Dasein im Besonderen möglich sind. Im Prinzip ist die Welt ein geordnetes Ganzes. Die bestehende Ordnung darf aber nicht im Sinne eines starren Determinismus verstanden werden. Sie ist das Werk eines souverän handelnden Gottes und hängt ganz von Ihm ab. Seine Herrschaft über die Natur ist keine Willkür, so daß die Natur nicht chaotisch ist, sondern sich in geregelter Weise verhält. Gottes Herrschaft über die Natur unterdrückt auch nicht die eigene Tätigkeit der Geschöpfe – und kann das auch nicht tun, denn die Unterdrückung der eigenen Tätigkeit der Geschöpfe bedeutete die Auflösung der Schöpfung. Es ist dem natürlichen Seienden also gegeben, zu sein und damit selbst tätig zu sein. Die Regularität, die die Natur kennzeichnet, ohne die Leben unmöglich wäre und der Mensch nicht über die Natur herrschen könnte, schließt die Möglichkeit außergewöhnlicher, „wunderbarer“ Ereignisse nicht aus. Offenbarungsereignisse sind solche wunderbare Ereignisse. Ein Offenbarungsereignis ist etwas Unerwartetes, das neue Möglichkeiten und eine unerhörte Zukunft erschließt. Man kann sagen, daß Gott unerwartete Potenziale in Mensch und Natur freisetzt und ihnen so unerwartete Möglichkeiten gibt; anders gesagt: Gott treibt Natur und Mensch zu dem, was K. Rahner Selbsttranszendenz genannt hat59. Denn ohne die je eigene Tätigkeit von Natur und Mensch geschähe nichts in der Natur bzw. im Menschenleben – es gäbe nichts außer dem Tod, der definitionsgemäß Nichtsein ist bzw. dem Leben, allen Möglichkeiten und jeder Zukunft ein Ende setzt und gerade als solcher der „Ort“ von Offenbarung als Eröffnung einer neuen, überraschenden Zukunft werden kann. Im Neuen Testament wird der Tod jener Ort werden.
Gott und die Schöpfung sind strikt voneinander unterschieden. Vom Menschen wird gesagt, daß er nach Gottes Bild und Gleichnis geschaffen worden ist, aber als solcher ist er nicht Gott. Das Geschöpf hat das Sein so empfangen, daß das Geschöpf „auf eigenen Beinen steht“. Seine Unabhängigkeit ist somit relativ; ihm ist das Sein gegeben worden. Die Natur ist profan und hat nichts Göttliches. Der Glaube an Jahwe setzt sich strikt ab von der Weise, wie die Heiden natürliche Phänomene – die Fruchtbarkeit des Landes, das Wetter, menschliche Fruchtbarkeit, Bäume usw. – in individualisierten, sogar personalisierten Gestalten verehren. Die „Entsakralisierung“ der Natur befreit den Menschen von Angst vor ihr und macht ihn frei vor ihr. Er ist der Natur nicht unterworfen, sondern hat die Aufgabe, sie zu verwalten. Das ist die Kehrseite des Glaubens an Jahwe als den souveränen Herrscher der Welt. Die dem Menschen gegebene Aufgabe, sich die Welt untertan zu machen, setzt voraus, daß sie eine erkennbare rationale Struktur hat.
Die Natur ist nicht göttlich, sondern profan. Insofern, als sie geschaffen ist, ist sie nicht schlecht, sondern gut. In ihrer Schönheit und Güte ruft sie Staunen und Bewunderung hervor und bringt den Menschen dazu, den Schöpfer zu verherrlichen und Ihm zu danken (siehe Ps. 104). Für die Schrift ist das Widergöttliche – das Böse – nicht das Endliche oder das Materielle als solches. Die Natur als solche flößt keine Angst ein. Die Natur wird nicht einmal dort „verurteilt“ (oder verflucht), wo der Mensch sie spontan als bedrohlich erfährt: in der Wüste, gegenüber wilden Tieren usw. Die Erfahrung von Bedrohlichem in der Natur ist kein Grund, das, was als bedrohlich erfahren wird, schlecht zu nennen; das, was als bedrohlich erfahren wird, wird vielmehr gesehen als der Erlösung bedürftig (siehe Is. 11,6-8) oder sogar als in gewisser Weise gut auch und gerade in seinen bedrohlichen Aspekten (so wird Israels Verbleib in der Wüste auf dem Wege zum verheißenen Lande als eine Zeit der Gnade betrachtet). Die Schrift ignoriert jedoch mitnichten das, was Philosophie und Theologie später „physisches Übel“ nennen werden, und versucht nicht, es zu rationalisieren. Krankheit und Tod werden als Übel wahrgenommen und als solche benannt. Dieses Übel wird aber nicht dem materiellen Seienden als solchem zugeschrieben. Gott kann den Menschen vor dem Übel schützen bzw. aus ihm erretten, ohne ihn dazu aus seiner materiellen Natur „befreien“ zu müssen. Das impliziert, daß die verschiedenen Gestalten leiblichen und seelischen Leidens, besonders Krankheit und Tod, der Natur nicht inhärent sind. Es scheint, daß, je weiter die Offenbarung fortschreitet, desto mehr das Auftreten jener Leiden bösen Mächten zugeschrieben wird: bösen, Gott und dem Menschen feindlichen Geistern, Dämonen und dem Teufel. Sie sind es auch, die den Menschen zum Bösen verführen; aber für die Offenbarung hebt das die persönliche Verantwortung des Menschen für seine bösen Taten nicht auf. Seine Sünde wird hervorgelockt durch die Versuchung durch eine böse Macht. Die Geschichte der Sünde deckt sich nahezu mit der Geschichte der Menschheit. Die Sünde besteht aus Mißtrauen und Ungehorsam Gott gegenüber und Rebellion gegen Ihn und drückt sich aus in jeglicher Art von Bosheit gegenüber dem Nächsten, die naturgemäß prompt zu Mord führt, stürzt aber zugleich den Sünder selbst in Unglück und Verwirrung. All das ist sicher auf die persönliche Verantwortung des Menschen zurückzuführen, und dennoch ist er nicht nur Betreiber des Bösen, sondern auch dessen Opfer. Der Mensch ist das Opfer übernatürlicher Wesen, die ihm zum Bösen verführen. Insofern, als sie böse genannt werden können, scheinen sie es nicht kraft ihrer Natur (im ontologischen Sinne des Wortes), sondern vielmehr kraft des Gebrauchs ihrer Freiheit zu sein. Doch üben nicht nur diese Wesen einen schlechten Einfluß auf den Menschen aus; auch die Sünde, einmal in die menschliche Geschichte eingetreten, übt Macht über ihn aus, so daß er dazu neigt, böse zu handeln, und unfähig ist, diese Neigung aus eigener Kraft zu überwinden. Sein Elend und sein Leiden können jedenfalls nicht „natürlich“ genannt werden. Ihr faktisches Auftreten war nicht notwendig. Ein „böser Wille“ – dem Menschen und anderen geistigen Wesen zuzuschreiben – ist die Wurzel des Elends des Menschen. Die Schrift sagt nicht, woher diese Bosheit letztlich kommt, und scheint damit der Tatsache, daß das Böse etwas Unerklärliches und Unverständliches hat, Ausdruck zu verleihen. Die Schrift weiß jedenfalls nicht von einer bösen Macht, die gleichursprünglich mit dem guten Gott und so mächtig wie Er wäre; anders gesagt: Die Schrift kennt keinen ontologischen Dualismus. In der Schrift – sogar im Buche Job, das mehr als alle anderen Bibelbücher das Problem der Theodizee diskutiert – begegnen wir kaum einem Versuch, eine letztgültige Erklärung des Bösen in der von Gott geschaffenen Welt zu geben. Wichtiger als diese Frage ist für die Schrift die Frage nach der Erlösung von dem Bösen60. Man kann sagen, daß die biblische Offenbarung genau aus Gottes Antwort auf das Bedürfnis von Mensch und Welt nach Erlösung und auf das Verlangen des Menschen nach Heil besteht. Die Bibelexegese hat gezeigt, daß in Gen. 1-11 die Ausgangslage von Welt und Mensch vor Gott – die Lehre von Schöpfung und Übel – dargelegt wird und in Gen. 12 die Geschichte der Antwort Gottes auf das Böse beginnt mit der Berufung Abrahams, der zum Segen für die Völker werden und damit Heilsbedeutung für die ganze Welt gewinnen soll.
Nach dem Neuen Testament hat Gott Seine Antwort auf das Böse vollendet, indem Er Jesum Christum und den Heiligen Geist in die Welt gesandt hat. Das Böse ist überwunden durch die Sendung Christi und des Geistes. Erlösung geschieht durch die Liebe, die Gott Selbst ist. Durch Christum und im Geiste befähigt Gott den Menschen zur Liebe zu Gott und zum Nächsten. Die Sünde wird von dieser Liebe besiegt. Man hat Zugang zu ihr – zum Sieg über die Sünde – durch die Person Jesu Christi, durch die Gemeinschaft mit Ihm, besonders durch die Teilnahme am Opfer seines Lebens am Kreuz. Man hat Zugang zu Christo durch Seinen Leib, die Kirche; und man wird ihr „einverleibt“ durch die Taufe, durch die die Sünden vergeben werden. Die Gemeinschaft mit Christo, besonders die Teilhabe an Seinem Kreuzesopfer, wird sakramental weitervermittelt durch die Feier des „Herrenmahls“, des Meßopfers, der Eucharistie. Im Falle des Verlustes der Gnade durch die Sünde wird die heiligmachende Gnade bzw. die caritas dem Menschen neu eingegossen durch das Sakrament der Buße und Versöhnung. Im Mittelalter wird diese sakramentale Frömmigkeit das Herz des christlichen Lebens sein, und bis heute sollte sie das katholische Glaubensleben bestimmen. Zugleich aber wurde und wird auch immer abgehoben auf das tägliche Leben als den Ort, in dem das Gnadenleben sich verwirklicht. Liebe bezeigt sich und verwirklicht sich in der Tat in der Liebe zum Nächsten, besonders zu den Geringsten der Menschen, deren Nöte sie zu lindern sucht.
2 Konsequenzen für die Beziehung zu Natur und Naturwissenschaft
Können wir sagen, daß der Glaube an die biblische Offenbarung Naturphilosophie und Naturwissenschaft begünstigt? Wir werden diese Frage differenziert beantworten müssen.
1. Der Zweck der Offenbarung besteht nicht in der Mitteilung von Naturerkenntnis. Er besteht in der Gemeinschaft von Mensch und Welt mit Gott und im Sieg über das Böse. Grundsätzlich wird das Böse nicht in der Materie oder der Natur gesehen, sondern im bösen Willen. Der Sieg über das Böse und die Gemeinschaft mit Gott sind Sache der Gnade, also das Werk Gottes; aber der Mensch muß ihr zustimmen. Aus dieser Perspektive betrachtet, scheint der Glaube an die Offenbarung das Interesse an der Natur nicht zu befördern. Der Glaube an die Offenbarung entspricht der Suche nach Gott, und Gott kann nicht mit der Welt oder etwas in ihr identifiziert werden. Er ist strikt transzendent61. Für die christliche Frömmigkeit und Theologie ist Gott nicht die Natur, bzw. Er ist der andere im Verhältnis zur Natur, und in der Geschichte der christlichen Frömmigkeit ist die Natur bestimmt nicht der bevorzugte Weg auf Gott zu. Für viele – auf exemplarische Weise für den hl. Augustinus62 – war und ist der bevorzugte Weg zu Gott des Menschen „inneres Leben“, zu dem er Zugang hat durch Gebet und Liturgie. Als vernünftiges Wesen, ausgestattetet mit Denken und freiem Willen, transzendiert der Mensch alles Endliche und öffnet sich für Gott; er wird entdecken, was ihm den Zugang zu Gott versperrt, und versuchen, es aus dem Weg zu räumen. Ein typisches Beispiel der Frömmigkeit, die wir hier diskutieren, kann gesehen werden in des hl. Augustinus’ bündiger Zusammenfassung dessen, was er zutiefst verlangt: „Gott und die Seele will ich erkennen – sonst gar nichts!“63 Gewiß, der Christ, der von der Sünde erlöst ist, richtet seinen Blick „nach außen“. Das Gnadenleben des Christen ist ein Leben der Liebe: Man überwindet seine Selbstversklavung, und das „in sich verkrümmte Herz“ öffnet sich für den anderen. Die Liebe wird jedoch primär als Liebe zu Gott – manche Mystiker werden sagen, daß die Liebe zu Gott im Grunde die Liebe zur Liebe selbst ist, denn Gott ist Liebe – und zum Nächsten verstanden (vgl. Mk. 12,28-34). Der Blick des Christen „nach außen“ richtet sich also primär auf seine „Mitmenschen“. Das ist sowohl in der Schrift als auch in der späteren christlichen Tradition so.
2. Die christliche Spiritualität hat nichtsdestoweniger Platz für die Natur. „Liebe und tu, was du willst“, ist eine bekannte Aussage des hl. Augustinus. Sie deutet an, daß das menschliche Dasein durch die Gnade dazu bestimmt ist, gänzlich und als solches Liebe zu werden. Es ist demnach nicht so, daß die christliche Liebe sich auf bestimmte Gegenstände beschränkt. Wenn letzteres der Fall wäre, liebte der Mensch nur in bestimmten Umständen – zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten –, aber nicht grundsätzlich und in der Regel. Dann wäre die Rede von der Erlösung des Menschen für Freiheit und Liebe im Grunde absurd und leer. Wie aber manche Mystiker sagen, nimmt der Mensch durch die Gnade – in der Gemeinschaft mit Gott, der die Liebe ist – mehr und mehr das Dasein, ja die Gestalt der Liebe an. Dank der reinen Beziehung zu Gott nimmt der Mensch die Natur in ihrer Schönheit und Güte wahr – wir sagten schon, daß die Offenbarung die Natur nie negativ, sondern immer in einem positiven Licht porträtiert, und das rechtfertigt das spätere theologische Axiom gratia non destruit, sed supponit et perficit naturam –, und umgekehrt ist der reine Blick auf die Natur ein Element der rechten Beziehung zu Gott64. Die Liebe gibt dem Menschen einen reinen Blick auf die Natur, und durch diesen Blick, ungetrübt von der Sünde, nimmt der Mensch in der Natur die Gegenwart Gottes, des Schöpfers der Welt, der Sich um alles, was Er geschaffen hat, kümmert, wahr (vgl. Mt. 6,19-34). Die Welt erscheint in ihrem ursprünglichen Gutsein und ihrer ursprünglichen Schönheit und somit als ein Verweis auf Gott und als ein Medium der Gotteserkenntnis (vgl. Röm. 1,19-24)65; insofern, als die Welt unter dem Bösen zu leiden hat, erscheint sie als der Erlösung und der Heilung bedürftig (vgl. Röm. 8,19-22). Dort, wo der Blick des Menschen auf die Natur von der Sünde verzerrt ist, nimmt er Gott in der Natur nicht wahr, bzw. nimmt Ihn in entstellter Weise wahr (vgl. Mt. 6,19-34; Röm. 1,19-24). Faktisch ist der Blick des Menschen auf die Wirklichkeit getrübt von der Sünde (vgl. Röm. 1; Joh. 9). Durch die Erlösung werden seine Augen geöffnet (Joh. 9). Die christliche Erlösungslehre impliziert somit, daß die Gemeinschaft mit Gott in der Liebe ein heiles Verhältnis zur Natur mit sich bringt. Es ist keine analytische, wissenschaftliche Beziehung, keine Erkenntnis der Weise, wie die Natur funktioniert, sondern vielmehr eine Haltung der Bejahung und der Hochschätzung, der Bewunderung und des Staunens. Wir sehen diese Haltung verkörpert im hl. Franz von Assisi. Im Prinzip vertieft sie das Interesse an der Natur und stützt somit die Erforschung der Natur.
3. Im Prinzip steigert die Offenbarung das Interesse an der Natur und deren Erforschung auch insofern, als im Lichte der Offenbarung die Natur als Gottes Schöpfung und als der Ausdruck Seiner Vorsehung, somit nicht als sakral, sondern als profan erscheint66 – für den Gläubigen ist die Natur nicht beängstigend (auch die Himmelskörper haben nichts Göttliches), und sie hat keine Bereiche, die ihm prinzipiell verschlossen („tabu“) wären –, und überdies eine rational intelligible Struktur aufweist. Der Mensch ist dazu bestimmt, die Erde zu kultivieren – und in diesem Sinn sie sich untertan zu machen – und sie somit zu erforschen. Nach Gen. 1 ist das ein Auftrag, der dem Menschen mit der Schöpfung gegeben ist. Die thomistische Lehre der Selbsterfahrung des Menschen als eines Wesens mit einem natürlichen Verlangen nach Erkenntnis entspricht diesem Auftrag. Theologisch beruht die Möglichkeit, die innere „Logik“ der Welt zu untersuchen, auf dem Glauben an die Schöpfung der Welt durch einen guten, allmächtigen Gott, der als solcher rational handelt. Aufgrund dieses Glaubens an Gott kann angenommen werden, daß die Werke Seiner Schöpfung rationaler Forschung offenstehen. Jesu Gebot, den Nächsten zu lieben, und Seine Sorge für die Kranken werden den Christen zur Kultivierung der Gesundheitspflege, der medizinischen Praxis und damit der Wissenschaft und Forschung anregen. Dieser Stimulus hat seine Spuren im Ordensleben hinterlassen.
4. Freilich: Obwohl in der vom Christentum beherrschten Kultur der Spätantike und des Mittelalters das intellektuelle Leben im Laufe der Zeit eine große Entwicklung durchmachte, wurden auf dem Feld der Naturwissenschaft und der Naturphilosophie de facto kaum Fortschritte erzielt. Das mag z.T. daran liegen, daß im christlichen Glaubensleben die Beziehung des Menschen zu Gott, zu seinem Nächsten und zu sich selbst Priorität hat und der Erforschung der Natur um ihrer selbst willen keine grundsätzliche Bedeutung beigemessen wird. Das ist bereits in der hl. Schrift so, und es wird in der christlichen Kultur so bleiben bis zum Ende des Mittelalters67. Das Ziel des menschlichen Daseins wird in der Gemeinschaft mit Gott und der beseligenden Gottesschau gesehen68, und dementsprechend besetzen Theologie und Philosophie – insbesondere Metaphysik – die ersten Plätze unter den Wissenschaften. Obwohl die Aussage des hl. Thomas von Aquin, daß alle Erkenntnis mit den Sinnen anfängt, gelesen werden könnte als ein Bekenntnis, daß für ihn Theologie und Philosophie durch die rationale Naturerkenntnis vermittelt werden, bleibt es so, daß das, was für ihn wirklich wichtig ist, weniger Naturwissenschaft im Sinne detaillierter Erkenntnis konkreter empirischer Tatsachen wie sie in der Moderne entwickelt werden wird, ist als die philosophische, insbesondere ontologische Analyse, im Geiste des Aristoteles, der formalen Struktur des materiellen Seienden als ein Medium der Metaphysik und der Theologie. Solche Naturphilosophie hängt zweifellos von der Sinneserfahrung ab – in der Konfrontation mit ihr hat sich die Naturphilosophie zu bewähren, sie darf ihr nicht widersprechen –, kann aber nichtsdestotrotz in hohem Maße a priori entwickelt werden69. In diesem Zusammenhang muß auch gesagt werden, daß die Aussage des hl. Paulus, daß der Mensch Gott und Seinen Willen durch die Schöpfung erkennen kann, kein Auftrag, wie Archimedes oder Galilei Naturwissenschaft im Sinne detaillierter Erkenntnis konkreter empirischer Tatsachen mit Blick auf die Erkenntnis Gottes anzustreben, ist. Wie bereits gesagt, verweist diese Aussage auf die Tatsache, daß durch den Blick auf die Natur dem Menschen bewußt wird, daß sich in ihr eine Ordnung, durch die alles, was lebt, existieren kann, auftut und daß die Natur in ihrer Kontingenz somit auf einen intelligenten, mächtigen und guten Schöpfer und Herrscher der Welt, den transzendenten Gott, verweist. Auch der hl. Thomas von Aquin denkt so70. Die Beziehung zu Gott ist demnach kaum abhängig von der Naturwissenschaft im Sinne detaillierter Erkenntnis bestimmter, konkreter Phänomene (oder Arten derselben), so daß diese Art von Wissenschaft von sekundärer Bedeutung ist für die mittelalterliche Person, die der Beziehung zu Gott absolute Priorität vor allem anderen zuerkennt. Das ist aber nicht der einzige Grund, und unserer Ansicht nach nicht einmal der wichtigste Grund, warum Naturphilosophie und Naturwissenschaft in der vom Christentum beherrschten Kultur der Spätantike und des Mittelalters nur geringe Fortschritte verbuchten. Tatsächlich nahm in der zweiten Hälfte des Mittelalters das Interesse für Naturphilosophie und Naturwissenschaft zu. Der relative Mangel an Interesse in früheren Perioden hat wichtigere Gründe als die aus der christlichen Spiritualität sich ergebenden.
5.3 Geschichtliche Gründe für die schwache Entwicklung der Naturwissenschaft in Spätantike und Mittelalter
1 Die geschichtliche Entwicklung des intellektuellen Lebens im Mittelalter
Vorher gaben wir eine grobe Skizze der Entwicklung des rationalen Denkens über die Natur in der vorchristlichen europäischen Antike. Es ging öfter um Naturphilosophie als um Naturwissenschaft. Die Denker der Antike skizzieren oft die Struktur des Seins des materiellen Seienden aus metaphysischer oder ontologischer Perspektive – im Rahmen einer Untersuchung des Seienden als solchen – und geben selten eine derartige Erklärung spezifischer Phänomene (oder Arten derselben), daß Vorhersagen natürlicher Fakten möglich werden. Die Astronomie als mathematische Beschreibung der Bewegungen der „Himmelskörper“ ist gut entwickelt, schließt aber kaum eine empirisch überprüfbare physikalische Erklärung dessen, was beschrieben wird, mit ein. Manche Denker suchen ein Prinzip (arché) dessen, was ist, in etwas Materiellem, auf das alles, was erscheint oder ist, zurückgeführt werden muß, aber sie kommen kaum weiter als auf mehr oder weniger durchdachte, auf einer Verbindung von Wahrnehmung und Räsonnement beruhende Vermutungen. In den Werken mancher Autoren begegneten wir freilich detaillierten empirischen Studien konkreter Phänomene (oder Arten derselben), die in die Richtung heutiger Naturwissenschaft gehen. Aristoteles hat zahlreiche Phänomene in der lebendigen Natur beschrieben. Er hat insbesondere viele Arten von Tieren katalogisiert. Archimedes kann insofern als ein entfernter Vorläufer heutiger Physik gelten, als er aufgrund experimenteller empirischer Forschung „Naturgesetze“ über quantitative Aspekte des materiellen Seienden formulierte, derart, daß durch Berechnung Phänomene vorausgesagt werden können. Mit dieser Denkform blieb er eine isolierte Gestalt in der Antike. Im zweiten Jahrhundert n.Chr. entwickelt Ptolemäus jenes mathematische Weltbild, das mehr als ein Jahrtausend lang funktionieren wird als das Modell, das es Menschen erlaubt, die Bewegungen der „Himmelskörper“ zu berechnen, obwohl es im Laufe der Zeit mehrmals korrigiert werden muß. Um diese Zeit kommt das rationale Denken über die Natur in Europa zum Stillstand – also geraume Zeit bevor das Christentum die vorherrschende kulturelle Kraft in Europe wird. Es kann demnach nicht davon beschuldigt werden, das rationale Denken über die Natur stillgelegt zu haben. Lange bevor das Christentum die europäische Kultur entscheidend gestalten konnte, war die Zeit des Fortschritts im rationalen Denken über die Natur schon Vergangenheit. Wie wir gesehen haben, kannte die vormoderne Zeit kaum so etwas wie Naturwissenschaft im heutigen Sinne des Wortes. Wie wir bald sehen werden, kann der späte Durchbruch dieser Art von Wissenschaft nicht einfach durch den Mangel an Interesse für die Naturwissenschaften im Christentum erklärt werden.
Der Untergang des weströmischen Reiches und die „Völkerwanderung“ (um 400-800 n.Chr.) machten die unabhängige Ausübung von Wissenschaft und Philosophie in Westeuropa fast unmöglich. Dank der Kirche und besonders den Orden konnte viel vom kulturellen Erbe der klassischen Antike gerettet werden. Bis ins 11. Jahrhundert hinein bestand die intellektuelle Kultur des Mittelalters hauptsächlich aus Abschreiben und Weitergeben bestehender wissenschaftlicher, philosophischer und theologischer Werke. Mehr war kaum denkbar. Die Klosterschulen und Domschulen gelten als die Vorläufer der Universitäten; deren Geburtstort im 12.-13. Jahrhundert waren die Domschulen. Die Theologie wird als die Höchstform der Wissenschaft angesehen; aber die Universitäten haben auch Platz für die Profanwissenschaften, besonders für Medizin und Jura. Diese Periode kennt erhitzte Diskussionen über das Verhältnis von Glauben und Vernunft sowie die Beziehung zwischen Theologie und Philosophie. Das hängt z.T. zusammen mit der Verbreitung einiger Hauptwerke Aristoteles’ im Europa des 13. Jahrhunderts, nachdem sie dort lange Zeit unbekannt geblieben waren. Die vom hl. Thomas von Aquin verteidigte Idee von Glauben (Offenbarung) und Vernunft als zwei Erkenntnisquellen, die einander nicht widersprechen können, wird bald auf breiter Ebene akzeptiert werden. In der Entwicklung dieser Idee und der Universitäten kann man einen ersten Schritt auf dem Weg zur Säkularisierung des Denkens, d.h. zu seiner Loslösung von religiöskirchlichen Vorgaben, sehen. Die so verstandene Säkularisierung ist insofern theologisch legitim, als sie dem Gebot, das nach Gen. 1 dem Menschen mit der Schöpfung gegeben worden ist, entspricht, nämlich dem Gebot, die Erde zu kultivieren und sich sie in diesem Sinn untertan zu machen, somit die Natur unabhängig von Theologumena zu erforschen. Für die katholische Theologie bedeutet der Unterschied zwischen natürlicher und übernatürlicher Ordnung, daß das menschliche Dasein auch ohne die übernatürliche Vergöttlichung des Menschen Sinn hat71. Diese theologische Konzeption gesteht der „natürlichen“, nicht vom Glauben erleuchteten Vernunft, Kompetenz in Angelegenheiten, die nicht unmittelbar das „übernatürliche“ Ziel des Menschen betreffen, zu – und ist damit die theologische Rechtfertigung der Autonomie, die die „profane“ Wissenschaft später für sich einfordern wird. Überdies ist die natürliche Vernunft auch kompetent in theologischen Angelegenheiten, obwohl sie die geoffenbarte(n) Glaubenswahrheit(en) nicht ganz aus sich selbst heraus entdecken kann. Die natürliche Vernunft ist natürlicher Gotteserkenntnis fähig. Die theologische Anerkennung der Legitimität des Gebrauchs der nicht vom Glauben erleuchteten Vernunft berechtigt also nicht zu einer komplett atheistischen oder agnostischen Weltsicht. Die Kirche hat die Vorstellung, daß Vernunft und Glauben einander widersprechen könnten, insbesondere, daß etwas in der Philosophie wahr, in der Theologie aber falsch sein könnte (oder umgekehrt), immer abgelehnt.
An den Universitäten wurden verschiedene Profanwissenschaften um ihrer selbst willen geübt, aber es gab keine unabhängige Naturwissenschaft. Die Praxis der Naturphilosophie und Naturwissenschaft war dem Mittelalter jedoch nicht fremd. Doch die Rolle, die die empirische Naturforschung im mittelalterlichen wissenschaftlichen Betrieb spielte, war eher marginal. Das hat etwas mit der Eigenart des mittelalterlichen Wissenschaftsbetriebs zu tun. Wie gesagt, war er zunächst hauptsächlich beschränkt aufs Kopieren und Weitergeben bekannter theologischer, philosophischer und wissenschaftlicher Werke. Später transformierte sich diese Praxis in deren Diskussion und Kommentierung. Diese Veränderung war der Reflex der Beobachtung von Spannungen zwischen den Äußerungen der verschiedenen „Autoritäten“, also der Autoren, deren Werke studiert, kopiert und weitergegeben wurden. Der geographische, kulturelle, historische und religiöse Hintergrund der „Autoritäten“ war sehr heterogen. Unter ihnen treffen wir griechische und römische, heidnische und arabische, islamische Philosophen, christliche Autoren usw. an. Ebenso heterogen waren die literarischen Gattungen der studierten Werke: Wir begegnen unter ihnen doktrinären Definitionen des Lehramts der Kirche, Gebeten und Katechesen der Kirchenväter, philosophischen Traktaten usw. Da all diese Texte zumindest auf den ersten Blick inhaltlich nicht immer miteinander übereinstimmten, aber gleichwohl von Autoren, die anerkannte Autoritäten waren, stammten, wollte der mittelalterliche Gelehrte untersuchen, ob anscheinend einander widersprechende Aussagen nicht dennoch miteinander versöhnt werden könnten durch eine logische Analyse, die ihre Tragweite und Bedeutung ans Licht brächte. Die mittelalterliche intellektuelle Kultur bestand somit großenteils aus dem Studium bestehender Werke, einschließlich der Studien in Naturphilosophie und Naturwissenschaft. Diese Art intellektueller Arbeit stimuliert aber nicht die empirische Naturforschung. Die Bedeutung des Empirischen und insbesondere des Experimentellen für die Naturforschung wird gleichwohl erkannt von zwei englischen Denkern aus dem 13. Jahrhundert, Robert Grosseteste und Roger Bacon. Ersterer macht nicht nur die Naturwissenschaft von der Mathematik abhängig, sondern erkennt auch, daß die Naturwissenschaft methodisch arbeitet mit dem, was später Induktion genannt werden wird. Für letzteren ist die Bedeutung der „Autoritäten“ für die Naturwissenschaft der Erfahrung untergeordnet. Die Anerkennung des empirischen Charakters der Naturwissenschaft wird philosophisch untermauert werden im Nominalismus. Er bestreitet, daß ein bestimmter, distinkter Begriff – der in Sprache und Denken im Prinzip auf verschiedene individuelle Gegenstände angewandt werden kann und faktisch auch darauf angewandt wird – einer bestimmten, distinkten Wirklichkeit entspricht. Der Nominalismus impliziert damit, daß ein jedes individuelles materielles Seiendes in seiner Unterschiedenheit nur durch die Sinneswahrnehmung erkannt werden kann. Er entspricht insofern der christlichen Lehre von Gott und der Schöpfung, als fürs Christentum Gottes schöpferischer Akt, wenn überhaupt, dann nur an logische Notwendigkeit gebunden ist, mitnichten aber an die vermeintliche Notwendigkeit ontologischer Wesensbestimmungen, die angeblich dem Schöpfungswerk Standards setzten. Man kann sagen, daß die darwinistische Evolutionstheorie die nominalistische Logik verkörpert, da für diese Theorie ein Lebewesen nicht einfach als ein repräsentatives Exemplar einer bestimmten, klar definierten Art betrachtet werden kann, sondern immer nach seinen individuellen Charakteristiken bestimmt werden muß.
Im Mittelalter wird Fortschritt auf dem Gebiete der Naturwissenschaft hauptsächlich durch die Entwicklung der Militärtechnik, Architektur, Medizin, Alchemie usw. erzielt. Der Mensch lernt die Materie, ihre Qualitäten und Aspekte, primär durch die praktische Arbeit mit ihr zur Verwirklichung der Ziele, die er sich selbst setzt, kennen. Diese Art des praktischen Umgangs mit der Natur entspricht unmittelbarer als die theoretische Betrachtung der Aufgabe, die der Mensch nach Gen. 1 mit der Schöpfung erhalten hat, und wird auch den Übergang zur modernen Naturwissenschaft im Laufe des 16. Jahrhunderts einleiten. So ist die Entdeckung der Bewegungsgesetze teils der Untersuchung des Fallens und des Wurfes von Körpern mit Blick auf die Entwicklung von Waffenzeug zu verdanken. Der moderne Geist ist sich offensichtlich dessen bewußt, daß seine Beziehung zur Natur und seine Erkenntnis von ihr höchst praktisch sind, ohne daß es dem objektiven Wert der Erkenntnis schaden müßte. Nach Francis Bacon und René Descartes dient des Menschen Erkenntnis der Natur deren Beherrschung, und Immanuel Kant weiß, daß die Natur dem Menschen nur auf das, wonach er sie fragt, antwortet.
2 Die Bedeutung des Mittelalters für die Geburt der modernen Naturwissenschaft
Das Werk Galileis wird meistens als der Beginn der Naturwissenschaft, wie wir sie heute kennen, betrachtet. Das erklärt sich daraus, daß Galilei zum Gewinn von Naturerkenntnis als erster konsequent jene Arbeitsmethode, die seitdem die rationale Erforschung der Natur, vor allem der anorganischen, leitet, angewandt hat. Aufgrund der Sinneswahrnehmung wird eine persistierende systematische („gesetzmäßige“) Beziehung zwischen meßbaren Aspekten des Materiellen vermutet; sie wird ausgedrückt in einer mathematischen Gleichung; die so formulierte Regel wird experimentell mit der Sinneserfahrung konfrontiert; und der experimentelle Test wird die anfängliche Vermutung entweder bestätigen oder widerlegen. Die Einsichten, die durch die Anwendung dieser Methode in der Naturwissenschaft gewonnen werden, erlauben Vorhersagen konkreter natürlicher Phänomene und Anwendungen in der Technologie. Es ist vornehmlich die Technologie, die die Naturwissenschaft im Stile Galileis, die im Werke Newtons einen ersten – vorläufigen – krönenden Abschluß fand, ermöglicht hat, wodurch das menschliche Dasein und das Antlitz der Erde in beispielloser Weise verändert worden sind. Diese Art von Naturwissenschaft taucht in der Geschichte der Menschheit relativ spät auf. Die moderne Naturwissenschaft entstand an einem ganz bestimmten Ort zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt und somit in einer ganz bestimmten Kultur, nämlich in der westeuropäischen Kultur des 16. und 17. Jahrhunderts. Sie hatte sich entwickelt aus der Begegnung und Verschmelzung des griechischen und römischen Denkens der klassischen Antike mit dem Christentum und war nach Leuten wie P. Duhem und S. Jaki der ideale Nährboden für die moderne Naturwissenschaft, so daß es kein Zufall ist, daß sie sich eben im Westeuropa des 17. Jahrhunderts entwickelte und nicht anderswo.
Es stimmt, daß gegen Ende des Mittelalters sich eine Kultur, die in gewissen Hinsichten die Geburt der modernen Naturwissenschaft fördert, entwickelt. Die traditionelle christliche Lehre, daß Gott alles in absoluter Freiheit, mit Weisheit und aus Güte erschaffen und den Menschen dazu auserwählt habe, sich die Erde untertan zu machen, ermutigt ihn dazu, die Welt zu erforschen. Sie besitzt eine rationale Struktur, die als solche dem menschlichen Verstand zugänglich ist, und hat nichts Sakrales oder Beängstigendes an sich. Die wiedergefundene Vertrautheit mit dem literarischen Erbe der klassischen Antike einerseits und die theologische Anerkennung des eigenen Sinnes der natürlichen Ordnung andererseits begünstigen das intellektuelle Interesse für die Welt und das menschliche Dasein als solche, unabhängig von deren religiösen Bedeutung. Der Nominalismus, der konsequent die Freiheit Gottes verteidigt und vielleicht auch deswegen die Philosophie an den Universitäten gegen Ende des Mittelalters beherrscht, widmet seine Aufmerksamkeit dem Besonderen und Einmaligen und impliziert die Anerkennung der Bedeutung der Sinneswahrnehmung für die Naturerkenntnis.
Diese spätmittelalterlichen Entwicklungen mögen die Geburt der modernen Naturwissenschaft – im Sinne Galileis und Newtons – begünstigt haben, es ist nichtsdestoweniger so, daß das Erscheinen der modernen Wissenschaft etwas Neues in der Kulturgeschichte Europas darstellt. Kennzeichnend für die moderne Naturwissenschaft ist nicht nur ihr empirischer, experimenteller Charakter, sondern auch ihr Interesse für das, was die griechische Philosophie oft als „akzidentell“ betrachtete, besonders das Phänomen der Bewegung (Ortsveränderung), und ihre erklärte Absicht, diese akzidentelle Wirklichkeit mathematisch zu beschreiben. Es gibt nur wenige Präzedenzien hierfür im vormodernen Denken. Weder das Interesse fürs Akzidentelle im allgemeinen und für Ortsveränderung im besonderen, noch die Absicht, es mathematisch zu beschreiben, fehlte im griechischen Denken, aber wie wir bereits sahen, widmete dieses seine Aufmerksamkeit doch hauptsächlich dem Bleibenden, dem Sein im Blick auf das, was für die menschliche Existenz wesentlich ist, und beschrieb es in der dem Qualitativen angemessenen Sprache. In dieser Hinsicht unterscheidet sich das antike und mittelalterliche christliche Denken kaum vom antiken griechischen. Trotz des Platzes, der im Spätmittelalter geschaffen wird für die Erforschung des eigenen Sinnes der „natürlichen Ordnung“, unabhängig von ihrer Bedeutung für die Beziehung zu Gott, bleibt für das Christentum die Gemeinschaft mit Gott bzw. die selige Gottesschau die wahre Bestimmung des Menschen, und beim Erreichen dieser Bestimmung kommt der Erforschung der Natur keine wesentliche Rolle zu.
Aristoteles’ irrige Ansichten über die Bewegung fliegender und fallender Körper blieben im wesentlichen unumstritten bis zum Ende des Mittelalters. Es war hauptsächlich das Bedürfnis nach akkuratem Waffenzeug, also die Entwicklung der Technologie, die dazu führte, daß diese Ansichten als falsch entlarvt und korrigiert wurden72. Ihre Berichtigung erforderte die Arbeit mehrerer Forschergenerationen und wurde von Galilei besiegelt. Auch auf anderen Gebieten der Naturwissenschaft war es oft durch die Entwicklung der Technologie oder den Willen, das was heute „Lebensqualität“ genannt wird, zu verbessern, nämlich durch wachsende Einsichten auf den Gebieten von Medizin, Architektur usw., daß Fortschritte erzielt wurden. Auch heute noch ist das erwähnte Bedürfnis oft die treibende Kraft hinter den Entwicklungen in den Naturwissenschaften. Diese Entwicklungen werden aber ebenso vorangetrieben vom alten Ideal der Erkenntnis um der Erkenntnis willen73. Das ist besonders deutlich zu sehen im Falle der Astronomie und der Kosmologie. Besagtes Ideal war auch entscheidend für die Arbeit Galileis selbst. Mit ihr beginnt die Erfolgsgeschichte der modernen Naturwissenschaft.
Die Verschmelzung der antiken griechisch-römischen Kultur mit dem Christentum mag einen idealen Nährboden für die Entwicklung der modernen Naturwissenschaft geschaffen haben, sie erscheint nichtsdestotrotz recht spät auf der Bühne der Geschichte. A. van Melsen erklärt dies folgendermaßen74: Naturwissenschaft kann sich erst entwickeln, wenn es gelungen ist, eine gesetzmäßige Beziehung zwischen bestimmten Aspekten des Materiellen zu enthüllen. Aber eben dieser Anfang der Naturwissenschaft ist schwierig. Angesichts der Vielfalt der Aspekte der materiellen Welt – Farbe, Klang, Gewicht, Härte, Umfang usw. – ist es nicht immer einfach zu entdecken, welche Aspekte miteinander zusammenhängen bzw. wie die miteinander zusammenhängenden Aspekte sich zueinander verhalten. Doch wenn man einmal einen bestimmten Zusammenhang zwischen bestimmten Faktoren entdeckt und die Weise, in der man ihn entdeckt hat, gesichert hat, ist man orientiert für weitere Forschung, sowohl hinsichtlich ihrer Methode als auch hinsichtlich ihres Inhalts. Man kennt relevante Faktoren und kann ihren Einfluß auf andere Faktoren untersuchen. Aber einer solchen Initialentdeckung, die den Anstoß zu einer Reihe weiterer Entdeckungen zu geben vermag, geht eine Reihe fehlgeschlagener Versuche, gesetzmäßige Beziehungen zwischen natürlichen Faktoren zu entdecken, voraus. Diese fehlgeschlagenen Versuche gehören zum Fortschritt der Naturwissenschaft, denn sie erlauben die Eliminierung offensichtlich falscher Vorschläge zur Lösung von Problemen. Die Tatsache, daß man keinen Zusammenhang zwischen bestimmten Phänomenen sieht oder einen Zusammenhang zwischen bestimmten Phänomenen vermutet, ohne ihn genau bestimmen zu können, ist frustrierend und erklärt, warum man seine Aufmerksamkeit vom Studium der empirischen Natur abwendet und sich dem Studium von Problemen, deren Lösung nicht unerreichbar scheint, widmet. Das sind Probleme der Philosophie, einschließlich der Naturphilosophie, und der Theologie, aber auch der Mathematik und der Logik. Wenn die Sinneserfahrung in Philosophie, Theologie, Mathematik und Logik überhaupt eine Rolle spielt, ist sie jener des rationalen Denkens, das in den genannten Disziplinen in vielen Hinsichten sich selbst genügt, untergeordnet.
Wir haben verschiedene Gründe für die langsame Entwicklung der Naturwissenschaft in Spätantike und Mittelalter erwähnt. Zunächst verwiesen wir auf die vormoderne Denkform. Das vormoderne Denken ist nicht so sehr interessiert an dem, was vorübergeht, wozu im wesentlichen die ganze materielle Welt gehört, als vielmehr am Sein – an dem, was bleibt –, nämlich insofern dieses als wesentlich fürs menschliche Dasein betrachtet wird. Sodann verwiesen wir auf die turbulente soziale – gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche – und existentielle Lage der Menschen, besonders im Frühmittelalter, die kaum unabhängige wissenschaftliche Forschung erlaubte und stattdessen eine Kultur des Studiums bestehender Werke begünstigte. Sie sollte bis ins Spätmittelalter hinein dominant bleiben. Schließlich verwiesen wir auf die Anfangsschwierigkeit, mit der die Naturwissenschaft im engeren Sinne des Wortes – im Sinne, im dem die Moderne sie versteht – unvermeidlich konfrontiert wird, und die darin besteht, inmitten der vielen Aspekte des materiellen Seienden diejenigen, zwischen denen eine gesetzmäßige Beziehung waltet, zu identifizieren und die genaue Art dieser Beziehung zu bestimmen.
Die verschiedenen Faktoren, die als Ursachen der langsamen Entwicklung der Naturwissenschaft in vormoderner Zeit benannt wurden, hängen natürlich miteinander zusammen. In einer Welt, in der nichts sicher ist und das Leben ständig bedroht wird von Krankheit, Gewalt und Kargheit – Epidemien, Kriegen und Hunger –, sucht der Mensch nach einem Halt, und diesen sucht er spontan nicht in der Welt um sich herum, welche Welt ja genau der Bereich der Instabilität und des Todes ist, sondern in etwas, das die Welt transzendiert75. Der Mensch neigt insofern dazu, so zu handeln, als er das Leben in dieser Welt als chaotisch erfährt, so daß er sich nicht ermutigt fühlt, eine immanente Logik in den Ereignissen, denen gegenüber er sich hilflos vorkommt, zu suchen76. Er wendet sich von der chaotischen Welt ab und sucht Heil im transzendenten Sein. So wird die Entwicklung der Naturwissenschaft verzögert. Die Untersuchung naturwissenschaftlicher Probleme verspricht keinen großen Erfolg, und sie erscheint angesichts der dringenden Probleme des täglichen Lebens wie ein Luxus, den sich nur eine kleine Elite vom Leben Privilegierter leisten kann – so wie in der klassischen Antike die Philosophie etwas für eine kleine Gruppe freier Menschen war77.
12 „Es gibt […] niemanden, […] der bestreiten möchte“, daß Galilei „wohl am meisten zum Zustandekommen der klassischen Naturwissenschaft beigetragen hat”. Er ist „die zentrale Gestalt im Übergang vom antik-mittelalterlichen zum klassischen naturwissenschaftlichen Denken“, schreibt DIJKSTERHUIS, Mechanisering, S. 368-369.
13 Das ist zumindest die „lange Zeit selbstverständliche Beurteilung der geistesgeschichtlichen Entwicklung“ gewesen (WALDENFELS, Mythos, S. 259). Dieser Beurteilung entsprechend sprach man lange unproblematisch vom Übergang „vom Mythos zum Logos“, aber heute wird anerkannt, daß „der Mythos seinen eigenen Logos offenbart“ (ibid., 266).
14 Unsere Darlegung des Denkens der milesischen Philosophen folgt RICKEN, Philosophie, S. 21-43; SUCHAN, Geschichte, S. 93-101.
15 COYNE/HELLER, Comprehensible, S. 66; vgl. SELVAGGI, Filosofia, S. 561.
16 Vgl. HOENEN, Philosophie, S. 15-21.
17 Natürlich hat Demokrits Atombegriff wenig oder nichts mit dem Atombegriff der heutigen Physik und Chemie zu tun (vgl. MEESSEN, Aufbau, S. 12-13).
18 ERBRICH, Makrokosmos, S. 20.
19 Nach COYNE/HELLER, Comprehensible, S. 12, bestand die Rolle der Entwicklung der Mathematik in diesem Prozeß in der Entdeckung der irrationalen Zahlen. Sie zerstörte die pythagoreische Überzeugung, daß die Konstitution der Welt auf Beziehungen zwischen ganzen Zahlen zurückgeführt werden kann.
20 ERBRICH, Makrokosmos, S. 21.
21 Siehe VAN MELSEN, Natuurfilosofie, S. 7-31, 48-50.
22 „Mit dem bloßen Leben […] hat der Mensch noch nicht sein ihm eigentliches Ziel erreicht. Dies ist erst das gute, gelungene Leben, das sich in derjenigen Praxis einstellt, in der der Mensch seine Anlagen entfaltet und gemäß dem ihm eigenen Lebensplan zur Verwirklichung bringt“ (HONNEFELDER, Gesundheit, S. 112-113).
23 Zum folgenden, siehe VAN MELSEN, Natuurfilosofie, S. 14-31, 48-50, 320-343; ID., Natuurwetenschap, S. 17-20.
24 Siehe SPAEMANN/LÖW, Frage, S. 51-78.
25 Siehe DOLCH, Kausalität, S. 168-185.
26 Anders als Platon wird die moderne Naturwissenschaft der „Idee“ jedoch keine unabhängige objektive Existenz zuschreiben.
27 Siehe COYNE/HELLER, Comprehensible, S. 16-19.
28 Für die Revolution im Denken, die der Durchbruch der modernen Naturwissenschaft impliziert, siehe ROMBACH, Substanz I, S. 11-56.
29 Zum folgenden, vgl. VAN MELSEN, Natuurfilosofie, S. 320-343; ID., Evolutie, S. 42-63; ID., Natuurwetenschap, S. 17-20.
30 Das aristotelische Substanzdenken stößt in der heutigen Naturphilosophie auf Kritik. Wir sind jedoch davon überzeugt, daß der Substanzbegriff nicht überholt ist, sondern sich dem Denken aufdrängt. Für die Kontroverse, siehe CLARKE, Explorations, S. 102-122.
31 Der Unterscheidung zwischen Physik, Mathematik und Metaphysik geht eine andere voraus, nämlich die Unterscheidung zwischen praktischer, poietischer („herstellender“) und theoretischer Wissenschaft. Physik, Mathematik und Metaphysik gehören alle zu den theoretischen Wissenschaften. In ihnen wird Einsicht um ihrer selbst willen gesucht.
32 Siehe oben, S. 35-36.
33 Siehe COYNE/HELLER, Comprehensible, S. 21-25.
34 Zum folgenden, siehe ERBRICH, Makrokosmos, S. 29-41.
35 ERBRICH, Makrokosmos, S. 31.
36 Demokrits Denken ist besonders provokativ, weil es impliziert, daß sowohl der Unterschied zwischen lebloser und lebendiger Natur als auch jener zwischen Irrationalem und Rationalem nichtig ist. Die Milesier scheinen ähnlich wie Demokrit zu denken, indem sie ein einziges und universales materielles Prinzip für alles, was es gibt, suchen.
37 Zum folgenden, siehe ERBRICH, Makrokosmos, S. 12-14; VAN MELSEN, Geschiedenis, S. 40-42; RICKEN, Philosophie, S. 53-54.
38 Eine Zusammenfassung der Geschichte des Verhältnisses zwischen christlicher Theologie und Philosophie bis 1900 findet sich bei VERWEYEN, Philosophie, passim; für dieses Verhältnis in der Antike siehe ibid., S. 109-179.
39 Siehe RATZINGER, Gott, S. 19-29 (für einen Kommentar zu diesem Text, siehe VERWEYEN, Joseph, S. 28-34; RATZINGER, Glaube, S. 133-141); vgl. RATZINGER, Einheit, S. 71-79.
40 Siehe COYNE/HELLER, Comprehensible, S. 33-60.
41 Der hl. Augustinus „fordert, daß im Falle eines Widerspruchs zwischen einer biblischen Aussage und einer gut begründeten wissenschaftlichen Wahrheit, wir uns um eine metaphorische Interpretation der Bibel bemühen sollten“ (HELLER, Chance, S. 186).
42 Für eine Erklärung dieses Abschnitts bzgl. der Möglichkeit natürlicher Gotteserkenntnis, siehe unten, S. 61-62.
43 Siehe hierfür etwa VON IVÁNKA, Plato, passim; RICKEN, Homousios, passim.
44 Siehe ROMBACH, Gegenwart, S. 47-72. Ähnlich äußert sich GIBLET, Temps, S. 39-41.
45 HADOT, Philosophie, S. 265-352, sagt etwas Ähnliches, ist aber der Ansicht, daß die Philosophie ihre „existentielle“ Bedeutung in der Moderne nicht gänzlich verlor – oder fallenließ.
46 Das könnte Nietzsches berühmtes Diktum, das Christentum sei „Platonismus fürs Volk“, erklären.
47 Siehe COYNE/HELLER, Comprehensible, S. 37.
48 Hegel hat diesen Aspekt des Christentums stark betont. Siehe GREISCH, Buisson I, S. 166-168.
49 „Der Platonismus war zutiefst überzeugt von dem unendlichen Abstand zwischen Gott und Welt, Geist und Materie; eine direkte Befassung Gottes mit den Dingen der Welt mußte ihm gänzlich unmöglich erscheinen“ (RATZINGER, Einheit, S. 72).
50 Die antike Idee des fatum kann als eine Vorwegnahme der modernen Idee der Naturgesetze gesehen werden. Siehe COYNE/HELLER, Comprehensible, S. 5.
51 Siehe COTTIER, Questions, S. 96-102. Man kann sagen, daß alles Menschliche und Irdische insofern Sinn hat, als es am Guten teilhat, das Irdische aber insofern unbefriedigend bleibt, als es das Gute nicht ist und einen immer mehr als das jeweils Erreichte verlangen läßt. Rein menschliche Liebe hat in sich selbst Sinn, entbehrt aber der Aussicht auf die Unsterblichkeit und das vollkommene Glück des Geliebten, und hat damit etwas Unbefriedigendes.
52 Zum Verhältnis zwischen Platonismus und Christentum, cf. PEPERZAK, Quest, S. 48-72.
53 Siehe LOHFINK, Gemeinde, S. 28-31, 78-86, 154-170, 196-203; ID., Kirche, S. 37-59.
54 Die Entfaltung des biblischen Offenbarungsbegriffs ist inspiriert von ROMBACH, Welt und Gegenwelt, S. 22-26; vgl. BARTHELEMY, Pauvre, S. 97-106.
55 In der Enzyklika Spe salvi schreibt Papst Benedikt XVI.: „das Evangelium ist nicht nur eine Mitteilung von Dingen, die man nicht wissen kann, sondern eine Kommunikation, die Tatsachen schafft und das Leben verändert. Die dunkle Tür der Zeit, der Zukunft, ist geöffnet. Wer Hoffnung hat, lebt anders; ihm ist neues Leben gegeben“ (zitiert von BAGNASCO, Saluto, S. 18-19).
56 Siehe KASPER, Gott, S. 160.
57 Siehe dazu und zum folgenden den Überblick bei L. Ladaria in SESBOÜE (ed.), Histoire II, S. 89-147.
58 Nach ziemlich verbreiteter Auffassung taucht der Monotheismus im strikten Sinne des Wortes – das Bekenntnis, daß es nur einen Gott gibt, und daß, was immer auch als eine Gottheit neben Ihm angebetet werden mag, wenn es überhaupt etwas ist, kein Gott ist – spät innerhalb der Geschichte Israels auf. Viele Forscher sagen, daß in vor dem Exil des Volkes Juda in Babylon (6. Jahrhundert v.Chr.) entstandenen Texten nicht ausdrücklich geleugnet wird, daß es andere Götter als Jahwe gibt. Dem Monotheismus wäre eine Phase der Monolatrie oder des Henotheismus – eine Phase, in der die Existenz mehrerer Götter nicht geleugnet, aber nur Jahwe wirklich verehrt wurde, bzw. andere Götter als Ihm unterlegen betrachtet wurden – vorausgegangen, und die Königreiche Israel und Juda seien im Grunde über eine längere Zeit polytheistisch gewesen. Die durchgehende Verurteilung der Verehrung von anderen Göttern als Jahwe im Alten Testament wird oft gesehen als das Werk von Autoren aus der Zeit während des Exils in Babylonien oder nach ihm. Sie hätten das Exil als eine Strafe für die Verehrung von anderen Göttern als Jahwe in Israel und Juda erklärt. Da wir hauptsächlich insofern am Judentum interessiert sind, als es eine Rückwirkung aufs Christentum gehabt hat, und nicht sinnvoll bestritten werden kann, daß das Judentum zur Zeit Jesu strikt monotheistisch war, ist das Problem der historischen Ursprünge des jüdischen Monotheismus für uns nicht wesentlich. Dennoch sei eine knappe Problemskizze gegeben: Unserer Ansicht nach ist der Unterschied zwischen Monotheismus, Henotheismus und Monolatrie bloß ideell. Die Selbstbegrenzung auf die Verehrung eines einzigen Gottes ist logisch nicht mit der Bejahung der Existenz mehrerer Götter vereinbar. Wer die Existenz mehrerer Götter bejaht, aber nur einen einzigen Gott anbetet, hat offenbar einen schillernden Gottesbegriff. Einer, der so handelt, betrachtet nur den Gott, den er verehrt, als eine Gottheit im wahren Sinne des Wortes – als die Macht, die das eigene Geschick wie auch das Geschick der Welt und der Menschen bestimmt –, und betrachtet die anderen Götter insofern nicht als echte Götter, als er sie als dem Gott, den er verehrt, unterworfen betrachtet. Implizit bejaht er die Existenz eines einzigen Gottes. Daß in den Königreichen Israel und Judah andere Götter als Jahwe neben Ihm oder statt Seiner verehrt wurden, wird im Alten Testament nicht verheimlicht, sondern offen zugegeben – als eine Praktik, die es verurteilt. Es scheint, daß der Polytheismus für viele in Israel und Juda akzeptabel war, und mehrere Könige heidnische Praktiken nicht nur duldeten, sondern sogar förderten. Nichts aber berechtigt zur Annahme, daß damals in Israel und Juda noch niemand im Namen des Glaubens an Jahwe die Verehrung anderer Götter neben Ihm oder sogar statt Seiner verurteilt hätte. Wenn das Exil als Strafe für die Verehrung anderer Götter als Jahwe aufgefaßt wurde, bedeutet das tatsächlich, daß in Israel und Juda bereits vor dem Exil der Glaube an Jahwe verbunden war mit der Aufforderung, Jahwe allein und keinen anderen zu verehren. Die alttestamentlichen Texte deuten in der Tat an, daß diese Verbindung bereits in vorexilischer Zeit bestand. Der Prophet Osee betrachtet – wie sein ruhmreicher Vorgänger Elias – die Verehrung anderer Götter als Jahwe in Israel als Untreue des Volkes gegenüber Ihm und dem Bund mit Ihm. Die Propheten Isaias und Jeremias fordern die Könige Judas dazu auf, ihre Hoffnung einzig und allein auf Jahwe zu setzen. Es scheint nicht sinnvoll, in den betroffenen Texten – die, was ihren Inhalt angeht, als paradigmatisch fürs ganze Alte Testament gelten können – nur Henotheismus oder Monolatrie und keinen Monotheismus zu vermuten, da die fraglichen Propheten Jahwe allein reale Macht über Welt und Geschichte zugestehen und somit nur Ihn als Gott im wahren Sinne des Wortes betrachten. Die Texte zeigen auch, daß die Propheten voraussetzen, daß ihre Gesprächspartner sich dessen bewußt sind, daß Jahwe der einzige wahre Gott ist. Alles weist somit darauf hin, daß der Glaube an Jahwe bereits vor dem Exil in Babylonien monotheistisch war, auch wenn der Monotheismus zu jener Zeit noch nicht von allen akzeptiert oder gelebt wurde. Wir sehen außerdem keinen Grund, daran zu zweifeln, daß der Monotheismus in Kanaan von der Gruppe um Mose eingeführt wurde und letztlich auf Offenbarungen an verschiedene Personen, besonders Abraham und Mose, beruhte; denn die alternativen Erklärungen der Geburt des monotheistischen Glaubens an Jahwe und seiner Entwicklung in Israel und Juda sind nicht überzeugend, sondern höchst hypothetisch und unsicher. SCHARBERT, Jahwe, S. 170-171, 179, 181-183, zeigt, daß es den strikt monotheistischen Glauben an Jahwe bereits vor der Monarchie gab. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß die Gruppe, die Mose in Kanaan führte, den dort verehrten Gott El mit dem Gott Jahwe, den sie selbst anbetete, identifizierte oder Ihm Züge Els und möglicherweise anderer kanaanitischer Götter zuschrieb. Dieser Prozeß wird kaum eine modifizierende Rückwirkung auf den Glauben an Jahwe selbst gehabt haben. Es scheint, daß, wenn im Rahmen dieses Glaubens die Anerkennung der Existenz von anderen Göttern als Jahwe jemals möglich gewesen ist, es sich dabei kaum um eine echte Anfechtung des Monotheismus gehandelt haben kann, denn nichts weist darauf hin, daß im erwähnten Rahmen die fraglichen Götter jemals als Jahwe mehr oder weniger ähnlich und ebenbürtig aufgefaßt wurden. Sie wurden nicht als Götter im eigentlichen Sinne des Wortes verstanden. Die Tatsache, daß in den Königreichen Israel und Juda – bzw. von vielen in ihnen – andere Götter als Jahwe und möglicherweise zusammen mit Ihm verehrt wurden, bedeutet nicht, daß der Glaube an Jahwe als solcher jemals die Anerkennung der Existenz von anderen Göttern als Jahwe und die Möglichkeit der Verehrung der fraglichen Götter als Ihm mehr oder weniger ähnlich und ebenbürtig implizierte oder tolerierte, sondern nur, daß die ausschließliche Verehrung des einen und einzigen Gottes Jahwe Israel nicht leicht fiel.
59 Siehe OVERHAGE/RAHNER, Problem, S. 55-78.
60 Siehe GESCHE, Dieu I, S. 15-44.
61 Die zweite Person der Allerheiligsten Dreifaltigkeit, das Wort, hat menschliches Fleisch angenommen in Jesu von Nazareth. In Ihm ist das Wort Mensch geworden. Aus verschiedenen Gründen aber kann selbst der Mensch Jesus nicht einfach mit Gott identifiziert werden. Erstens ist das in Jesu fleischgewordene Wort in uneingeschränktem Sinne der Träger der göttlichen Natur, aber trotz der vollkommenen Einheit der göttlichen Personen erschöpft sich die Allerheiligste Dreifaltigkeit nicht in der zweiten Person, der Person des Wortes oder des Sohnes (vgl. z.B. Mt. 11,25-27). Zweitens fällt das Wort nicht zusammen mit der historischen Gestalt Jesu von Nazareth. Denn das Wort ist vor der Fleischwerdung, und trotz der Einheit zwischen der göttlichen und der menschlichen Natur im fleischgewordenen Wort wird der Unterschied zwischen den Naturen durch die Inkarnation nicht aufgelöst. – Es dürfte besser sein, zu sagen, daß in Jesu Gott – genauer: die zweite Person der Allerheiligsten Dreifaltigkeit – die menschliche Natur angenommen hat, als zu sagen, daß der Mensch Jesus Gott ist. Denn letzterer Ausdruck könnte suggerieren, daß das Menschsein Jesu Seine Göttlichkeit trägt und umfaßt, aber nach der doktrinären und theologischen Tradition der Kirche ist es die Person des Wortes, die die zwei Naturen des Gottmenschen trägt. Logisch und ontologisch wird man der Tradition zustimmen müssen; die Vorstellung, daß ein Mensch aus sich selbst heraus in der Lage wäre, die göttliche Natur zu tragen, ist logisch und ontologisch absurd und widerspricht der hl. Schrift.
62 Siehe GRESHAKE, Freiheit, S. 41-44; ID., Erlöst, S. 13-17.
63 Siehe das Zitat bei LOHFINK, Gemeinde, S. 212. Eine ähnliche Haltung dürfte sich beim mittlerweile seliggesprochenen Kardinal J.H. Newman (1801-1890) finden (vgl. HONORE, Pensée, S. 34-36).
64 „Die Evangelien stimmen […] überein in der Überlieferung des ‚freundschaftlichen‘, ‚versöhnten‘, ‚harmonischen‘ Verhältnisses Jesu zur Welt. Die Außenwelt wird von ihm angenommen als vom Vater geschaffene Wirklichkeit, außerordentlich reich an göttlichen Gaben, die der Mensch mit klaren und selbstlosen Augen betrachten und in ihrem Reichtum und ihrer Majestät bewundern soll (cf. Mt. 6,28-31; Lk. 12,22-31). Die Wirklichkeit der Natur wird von ihm mit Sympathie beobachtet als Geschöpf des Vaters, Ort, Mittel und Zeichen der Brüderlichkeit und des Teilens unter den Menschen“ (FISICHELLA/IAMMARRONE, Salvi, S. 24).
65 Siehe SCHULTE, Wirken, S. 131-135. Zum Problem der „natürlichen“ Gotteserkenntnis im hier zitierten Abschnitt, siehe DUBARLE, Manifestation, S. 201-235.
66 Siehe MINNERATH, Sens, S. 22-23.
67 Nach WANSBROUGH, Use, S. 84, kämpfte der hl. Bernhard von Clairvaux „gegen die zu seiner Zeit von Abélard vertretenen entstehenden intellektuellen Bewegungen logischer und wissenschaftlicher Forschung“, „weil er sie für unwichtig für die Suche nach Gott hielt“.
68 Siehe DIJKSTERHUIS, Mechanisering, S. 99.
69 Auch in der Moderne wurde die Naturphilosophie (als unterschieden von der Naturwissenschaft im Stile Galileis und Newtons) oft a priori entwickelt. Es wäre hier etwa an Kants Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft zu denken.
70 Siehe die Darstellung der fünf „Wege“ des hl. Thomas zu Gott bei ELDERS, Metafysica II, S. 134-217. Der Ausgangspunkt jedes „Weges“ ist eine Gegebenheit der Erfahrung (ibid., S. 202). Für den fünften „Weg“ ist es die Tatsache von Finalität und Ordnung in der Natur.
71 Für die „christliche Bedeutung der Säkularisierung“, siehe COTTIER, Questions, S. 79-106.
72 Siehe DIJKSTERHUIS, Mechanisering, S. 275-276, 297-298; COYNE/HELLER, Comprehensible, S. 79-81. Auch Galileis Werk war maßgeblich von der Entwicklung der Technik, namentlich Schiffsbau und Schußwaffen, inspiriert. Siehe dazu BÜTTNER/RENN, Kosmologie, S. 55-59.
73 Die Verflechtung von Entwicklung der Technik und Streben nach Wissen um des Wissens willen als treibende Kraft hinter der Entwicklung der Physik zeigt das Beispiel der speziellen Relativitätstheorie. „Auch die Relativitätstheorie, die theoretische Grundlage der modernen Kosmologie, verdankt ihre Entstehung nicht zuletzt den epistemischen Herausforderungen neuer Technologien, mit denen schon der junge Einstein in der elterlichen elektrotechnischen Fabrik konfrontiert war. Die neuen Raum- und Zeitbegriffe, die Einsteins spezielle Relativitätstheorie von 1905 einführt, sind in der Tat das Resultat seiner Versuche, Probleme der Elektrodynamik bewegter Körper zu lösen. Solche Probleme stellen sich dort, wo mechanische Bewegung und elektromagnetische Phänomene zusammentreffen, wie z.B. beim Dynamo oder bei der spekulativen Frage, ob man etwa einen Lichtstrahl überholen kann – wie sie sich schon der junge Einstein stellte“ (BÜTTNER/RENN, Kosmologie, S. 69-70).
74 Siehe VAN MELSEN, Natuurwetenschap, S. 29-39.
75 Das Evangelium von Jesu Leben, Tod und Auferstehung nimmt die Zerbrechlichkeit des irdischen Lebens ernst, öffnet aber zugleich eine Perspektive auf Leben über den Tod hinaus, d.h. auf transzendentes Heil.
76 Das widerspricht nicht dem, was wir vorher über die Implikationen des Schöpfungsglaubens sagten (siehe oben, S. 59-61). Das nach Gen. 1 mit der Schöpfung gegebene Gebot, das auch das Gebot, die Welt zu erforschen, ist, wird gegeben an einen Menschen, der sich findet in einer Welt, in die das Übel noch nicht hereingebrochen ist und die somit noch nichts Beängstigendes hat, vielmehr dem Menschen als geordnet erscheint. Weiter ist zu bemerken, daß Gen. 1,1-2,4 auch dazu dient, dem jüdischen Volke, das in turbulenten Zeiten lebt und ihm unverständliche Leiden – den Fall Jerusalems und das Exil in Babylonien – erdulden muß, Hoffnung zu schenken, indem dem Volke gezeigt wird, daß Gott die Fäden von Gelingen und Leiden in Seinen Händen hält.
77 Nach S. Breton war es jedoch „notwendig“, daß die moderne Naturwissenschaft im Sinne eines quantitativen deterministischen Naturverständnisses nach „Naturgesetzen“ entstand, weil ein Naturverständnis, das bei den Qualitäten stehenbleibt, nichts erklärt und die Freiheit nur in einer Natur wie die moderne Naturwissenschaft sie versteht, sich verwirklichen bzw. bestehen kann. Siehe dazu BRETON/DUBARLE/COSTA DE BEAUREGARD/LATOUR, Idée, S. 52-71.