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2. VOM LEIDEN ALS »FELS DES ATHEISMUS«
ОглавлениеIm 3. Akt des Dramas »Dantons Tod« von Georg Büchner (1835) trifft man auf eine Runde von Gefangenen im provisorisch zur Haftanstalt hergerichteten Palais du Luxembourg, die auf ihre Hinrichtung warten. Unter ihnen kommt es zu einer lebhaften philosophischen Debatte über die Revolution, den Sinn des Lebens, den Tod, die Unsterblichkeit und Gott. In ihr deklamiert der Häftling Payne:
»Schafft das Unvollkommene weg, dann allein könnt ihr Gott demonstrieren; Spinoza hat es versucht. Man kann das Böse leugnen, aber nicht den Schmerz; nur der Verstand kann Gott beweisen, das Gefühl empört sich dagegen. Merke dir es, Anaxagoras: warum leide ich? Das ist der Fels des Atheismus. Das leiseste Zucken des Schmerzes, und rege es sich nur in einem Atom, macht einen Riß in der Schöpfung, von oben bis unten.«4
Dieser Debattenbeitrag im Schatten der Guillotine ist in mehrfacher Hinsicht von Interesse. In ihm wird die Theodizeeproblematik, die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes angesichts einer unvollkommenen von Naturkatastrophen, Seuchen, Kriegen und vielfältigen Leiden heimgesuchten Lebenswirklichkeit, auf den Punkt gebracht. Wie kann Gott angesichts des Bösen in der Welt zugleich allmächtig und gut sein? Müsste die Welt nicht, wenn er allmächtig und gut wäre, vollkommen sein? Kann also nur eine Welt der Vollkommenheit und ungetrübten Harmonie Gott demonstrieren, ihn glaubhaft und einsichtig machen, ja, gar beweisen? Und wäre eine solche Welt nicht der Garten Eden, den Adam, der Mensch, längst verspielt hat, das Paradies, der Himmel auf Erden? Eine Welt unserer Träume?
Aber, das Gedankenexperiment sei gewagt: was für ein Gott wäre das, was für eine Welt und was für ein Mensch, die keine Brüche, Risse, Spannungen, Kämpfe und Streit, keine Übel, Schmerzen, Leiden, Trauer, Tränen und Tod mehr kennen würden? Ist uns eine solche Vollkommenheit überhaupt vorstellbar? Und sollte dies der Fall sein, wäre sie wirklich wünschenswert? Eine Welt, in der alles bestens geregelt ist, ohne Absurdes, Widersinniges, Erschreckendes, Verwegenes, unangenehm Überraschendes, Mühsames, ohne Mangel und Not, wäre sie nicht zeitlos, da ohne Veränderungen unterwegs zwischen gestern und morgen? Gefangen in vollkommener Harmonie, in sich selber kreisend? Wäre es nicht eine Welt ohne Geschichten und daher auch ohne Geschichte, weil ohne Vergänglichkeit und Tod? Und könnte sie wirklich Gott demonstrieren? Vielleicht den Gott der Philosophen, das ens perfectissimum, das »vollkommenste Wesen«, nicht aber den Gott der Bibel, der sich aufs Unvollkommene einlässt, auf den Menschen und seine Welt, auf Leiden, Schmerz, Vergänglichkeit und Tod. Der Mose der Tora, die prophetische Urgestalt Israels schlechthin, weiß sehr wohl darum, dass die Abschaffung der Unvollkommenheit nicht notwendig zur Gotteserkenntnis führt, sondern eher die Gefahr der Gottvergessenheit mit sich bringt:
Wenn dich JHWH, dein Gott, in das Land bringt, von dem er deinen Vätern Abraham, Isaak und Jakob geschworen hat, es dir zu geben, große und gute Städte, die du nicht gebaut hast, Häuser, angefüllt mit allerlei Gutem, die du nicht gefüllt hast und ausgehauene Zisternen, die du nicht ausgehauen hast, Weinberge und Ölbaumgärten, die du nicht gepflanzt hast, und wenn du dann isst und satt wirst, dann hüte dich davor, dass du JHWH nicht vergisst, der dich aus Ägyptenland geführt hat, aus dem Sklavenhaus. (Dtn 6,10–12)
Israel hatte offensichtlich ein feines Gespür dafür, dass eine vollkommene Welt des Guten und der Fülle der Güter nicht zwangsläufig dazu geeignet ist, Gott zu erinnern, ihn zu demonstrieren und im Gespräch mit ihm zu bleiben. Vielmehr überlässt sie sich in ihrer Gottvergessenheit nur zu gern einem praktischen Atheismus. Verführt das Vollkommene, wenn es zum Normalen wird, zur Undankbarkeit?
Die Vorstellung von einer vollkommenen Welt kann auch Angst machen, da die Unvollkommenheit immer noch das Maß des Menschlichen ist. Könnte eine lückenlos perfektionierte Welt nicht auch zum Ort eines apathischen, leidenschaftslosen und leidenslosen Menschen degenerieren, in Gang gehalten von einem gleichmütigen, an die ewigen Gesetze des Kosmos, der Sterne und der Seele gebundenen höchsten Wesen? Und wäre sie dann im besten Falle nicht eine Welt gnadenloser Langweiler? Gegen derartige Überlegungen ließe sich einwenden, dass die so beschaffene Welt dann eben nicht vollkommen sei. Aber dieser Einwand macht lediglich deutlich, wie schwer es uns fällt, ein solches vollkommenes Weltkonstrukt zu denken.
Das Hiobbuch nötigt uns vielmehr dazu, unsere Welt-, Menschen- und Gottesbilder radikal infrage zu stellen, und sie nicht mit unseren Wünschen zu verwechseln. Ist unser Glaube an einen guten und allmächtigen Gott, unser Verständnis von dem, was Güte und Allmacht bedeuten, nicht viel zu naiv? Es besteht kein Zweifel: Leid und Schmerz sind derjenige Ort, an dem sich die Gottesfrage wie ein Vulkan mit geradezu eruptiver Gewalt auftut. Aber wenn man der Versuchung nachgibt und sich dazu durchringt, sie ein für allemal im Sinne des Atheismus zu beantworten, das Geheimnis Gottes als erledigt zu den Akten zu nehmen, dann ist damit ja nicht das Ende aller Fragen gegeben. Nebenkrater der Sinnsuche öffnen sich, Lavaströme des Zweifels und Selbstzweifels werden aus dem brodelnden Urgrund der menschlichen Existenz an die Oberfläche geschleudert: Wie eigentlich steht es mit der Güte und der Bosheit des Menschen? Wie mit seiner Macht? Wie weit reicht seine Vernunft? Warum ist er so, wie er ist? Woher die Kette der Störungen und Kränkungen des Lebens, die nicht abreißen will und meinen Weg säumen? Warum hat die unheilbare Krankheit, der Unfall, das große Beben ausgerechnet diesen und keinen anderen getroffen? Wird eine Welt ohne Gott vernünftiger, durchsichtiger? Ist der Mensch ohne Gott – ganz auf sich selbst zurückgeworfen – eher und besser dazu in der Lage, die schmerzlichen Kontingenzerfahrungen zu bestehen? Emanuel Lévinas hat den vermeintlichen Gewinn an Vernunft, den atheistische Denker mit der Abschaffung Gottes als großen Befreiungsschlag häufig für sich in Anspruch nehmen, eindrücklich infrage gestellt:
»Was bedeutet dieses Leid der Unschuldigen? Zeugt es nicht von einer Welt ohne Gott, von einer Erde, auf der allein der Mensch das Gute und das Böse misst? Die einfachste, normalste Reaktion wäre, auf Atheismus zu erkennen. Auch die gesündeste Reaktion für alle diejenigen, denen ein etwas einfältiger Gott bisher Preise verteilte, Sanktionen auferlegte oder Fehler verzieh und in seiner Güte die Menschen wie ewige Kinder behandelte. Doch mit welch borniertem Dämon, welch merkwürdigen Zauberer habt ihr denn euren Himmel bevölkert, ihr, die ihr ihn heute für verödet erklärt? Und weshalb sucht ihr unter einem leeren Himmel noch eine vernünftige und gute Welt?«5
Auch der Atheismus löst die Frage des Menschen nach sich selbst und seinem Schicksal nicht. Im Gegenteil, an ihm bricht sie mit einer ganz unvermuteten Wucht wieder auf, die Frage des Schmerzes, des Versagens, der Schuld und der Vergänglichkeit. Jetzt, nachdem er Gott abgeschworen hat, muss der Mensch diese Fragen mit sich selbst ausfechten, gefangen in einer unendlichen Kette der Monologe und Selbstthematisierungen. Das Gegenüber, nach dem Hiob in seiner Verzweiflung geschrien hat, ist ihm abhanden gekommen. Er bleibt mit seinen Fragen, seinen Klagen und mit sich allein zurück, schwankend zwischen der Hoffnung auf die Allmacht der Vernunft und der Verzweiflung abgrundtiefer Einsamkeit. Im Atheismus bleibt Hiob kein Gegenüber und keine Chance.
Odo Marquard hat in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam gemacht, dass mit dem Ausfall Gottes dieser auch nicht mehr vor das in der neuzeitlichen Philosophie als Theodizee bezeichnete menschliche Tribunal zitiert werden könne. Die Folge davon ist eine zunehmende »Tribunalisierung der modernen Lebenswirklichkeit«.6 Wenn Gott nicht mehr zu rechtfertigen ist, dann hat sich das Nichtgöttliche, also der Mensch und die Welt, alles und jedes zu legitimieren:
»Denn heute bedarf offenbar alles der Rechtfertigung: die Familie, der Staat, die Kausalität, das Individuum, die Chemie, das Gemüse, der Haarwuchs, die Laune, das Leben, die Bildung, die Badehose; nur eines bedarf – warum eigentlich? – keiner Rechtfertigung: die Notwendigkeit der Rechtfertigung vor allem und jedem.«7
Und weil dieser Rechtfertigungsdruck der Moderne sehr schnell zu einem unerträglichen Überdruck werden kann, hat der Mensch eine Reihe von überaus ambivalenten Entlastungsstrategien entwickelt, um ihm auszuweichen.
Die Autonomisierung: Autonomie wurde zum Zauberwort der Moderne. In der Hierarchie der Werte hat sich die Selbstbestimmung auf den Thron des Schöpfers gesetzt. Mit der Entmachtung Gottes ermächtigt sich der Mensch »zur Autonomie des Übermenschen«,8 der glaubt, in einer gewaltigen Eruption oder durch das lebenslange Diktat der Arbeit an seiner Selbstbefreiung jede Form der Heteronomie, der Fremdbestimmung überwinden zu können. Weil damit aber der »böse Schöpfer« als Verantwortungsträger für die bleibenden Weltübel ausfällt, und der »Übermensch« für sie die Verantwortung weder übernehmen kann noch will, flüchtet er sich immer wieder in die Rolle des »guten Erlösers« seiner selbst, der sich um der künftigen Erlösung willen von der Verantwortung für alle Übel freispricht. Und wo ihm das nicht gelingt, werden die Übel von ihm oft noch forciert, um die Temperatur der Erlösungssehnsucht der Massen bis zum Siedepunkt anzuheizen, von dem man sich schließlich den revolutionären Umschlag in das Reich der Freiheit verspricht. In ihm degenerieren dann alle Übel der Welt zu einer Quantité négligeable. Theodizee wird zur säkularen Eschatologie umfunktioniert9 mit all ihren beklemmenden Folgen, die die gewalttätigen Ideologien des 20. Jh. hervorgebracht haben.
Malitätsbonisierung: Die vielfältigen Übel unserer Lebenswirklichkeit werden damit zum Zwecke der Entlastung funktionalisiert. Es wird ihnen ein Zweck zugeschrieben, der sie in dieser oder jener Hinsicht doch noch für etwas gut erscheinen lässt, sie rechtfertigt und »entübelt«. Die »Neugier wird aus einem Laster zur zentralen Wissenschaftstugend« erklärt, das »Nichtschöne« und »Hässliche« wird ästhetisiert, der »Sündenfall« wird zur »Freiheitspflicht« gemacht, »der Schmerz wird als Sensibilitätsgewinn gefeiert«,10 das Altern wird zur Gelegenheit für einen aktiven Neustart in eine nun nicht mehr fremdbestimmte, sondern erfüllte zweite Arbeitsbiographie ausgerufen. Jedes malum, jedes Übel, wird zu einem bonum, zu etwas Gutem uminterpretiert, zuweilen wohl auch umgelogen.
Kompensation: Die Übel der Welt werden durch eine Fülle von Erfahrungen des Guten und der Güter aufgewogen. Die »Gutmachung der Übel« wird durch »Wiedergutmachung« ersetzt.11 Wenn der Mensch schon an Alter, Krankheit und Tod nicht vorbeigehen kann und an all den Schmerzen und Defiziterfahrungen, die seine Endlichkeit unweigerlich mit sich bringen, dann soll er sich wenigstens auf das Gute konzentrieren, auf Essen und Trinken, auf Wohlstand, Glück und die Liebe. Carpe diem heißt die Devise der Kompensatoren, die bereits der Skeptiker Kohelet seinen Lesern ins Stammbuch geschrieben hat:
Geh und iss mit Freude dein Brot
und trink mit frohem Herzen deinen Wein,
denn längst hat Gott dein Tun gefallen.
Zu jeder Zeit mögen deine Kleider weiß sein
und an Öl auf deinem Haupte möge es nicht mangeln.
Achte auf das Leben mit der Frau, die du liebst,
alle Tage deines vergänglichen Lebens,
die er dir gegeben hat unter der Sonne,
alle deine vergänglichen Tage.
Denn das ist dein Teil am Leben und deiner Mühe,
mit der du dich abmühst unter der Sonne. (Koh 9,7–9)
Dass all diese Strategien im Umgang mit dem Bösen entlastende Momente enthalten, soll hier gar nicht bestritten werden. Der Ausfall des Theodizee-Tribunals, das der Mensch mit Gott veranstaltete, und die damit gegebene immer weiter um sich greifende Tribunalisierung der Welt- und Lebenswirklichkeit haben aber letztlich auch keine befriedigenden Antworten auf die Frage nach dem Bösen geliefert. Daher bleibt für Odo Marquard eine wache Skepsis immer noch der angemessene Modus des Denkens, das sich den Fragen nach der Theodizee und dem Bösen stellt.
»Es existieren menschliche Probleme, bei denen es gegenmenschlich, also ein Lebenskunstfehler wäre, sie nicht zu haben, und übermenschlich, also ein Lebenskunstfehler, sie zu lösen. […] Deshalb ist der Skeptiker verliebt in jene Metaphysik, die so viele Antworten produziert, daß sie einander wechselseitig neutralisieren, und gerade dadurch – teile und denke! – die Probleme offenläßt, so daß es ihr im Fazit ergeht wie jenem löwenfreundlichen Löwenjäger, der, gefragt, wie viele Löwen er schon erlegt habe, gestehen durfte: keinen, und darauf die tröstende Antwort bekam: bei Löwen ist das schon viel.«12
Wir werden also weiter fragen müssen, auch dann und gerade dann, wenn dem Löwen des Bösen keine Waffe, kein Jäger und kein Kraut gewachsen ist. Das jedenfalls können wir von Hiob lernen, dass ein Abschied von Gott die Probleme nicht löst, die er zu beklagen hat.