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2. DIE TRAGÖDIE UND DAS TRAGISCHE

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Die Tragödie als literarische Gattung verdankt die Menschheit der griechischen Dichtkunst. Der Begriff »Tragödie« setzt sich aus zwei Bestandteilen zusammen, den griechischen Nomina tragos (Bock) und ode (Lied). Ursprünglich bezeichnete er wohl die »Bocksgesänge«, die beim Opfer eines Bockes im Dionysoskult angestimmt wurden.15 Die attische Tragödie hat demnach kultische Wurzeln, die eine literarische Dramatisierung erfuhren. Vergleicht man allerdings die Erzählung von Jiftach und seiner Tochter in Ri 10,6–12,7 mit der »Iphigenie in Aulis« des Euripides in formaler Hinsicht, dann sind die Unterschiede unübersehbar. Während sich in der Handlung der griechischen Tragödie mit einer gewissen Folgerichtigkeit ein Moment aus dem jeweils vorausgehenden ergibt, wirkt der Abschnitt aus dem Richterbuch, der uns über das Leben des Richters Jiftach und das Geschick seiner Tochter unterrichtet, eher wie die Zusammenstellung unterschiedlicher Episoden und Erzählfragmente, die nicht zwingend aufeinander bezogen worden sind. Den hohen literarischen Anforderungen, die Aristoteles in seiner Poetik an die »Tragödie« stellt (kompositorische Ausgewogenheit von Anfang, Mitte und Ende; Einheitlichkeit und Folgerichtigkeit der Handlungsführung),16 genügt Ri 10,6–12,7 jedenfalls nicht. Wenn die Erzählung von Jiftach und seiner Tochter im Untertitel dieses Buches als »Eine biblische Tragödie« bezeichnet wird, dann ist dies nur in einem erweiterten, umgangssprachlichen Sinn des Begriffes »Tragödie« zu verstehen.

Daher wird im Folgenden zwischen der Tragödie als einer literarischen Gattung und dem Tragischen als einem Phänomen unterschieden, das mitunter wie ein dunkler Schatten über dem menschlichen Leben liegt und in ganz unterschiedlichen Textsorten begegnen kann. Ohne Zweifel stellen die attischen Tragödien des Dreigestirns Aischylos, Sophokles und Euripides Höhepunkte in der Darstellungskunst des Tragischen dar. Letzteres ist aber nicht an die literarische Gestalt der attischen Tragödie gebunden. Daraus ergibt sich die grundsätzlichere Frage, was eigentlich einen Text, ob Tragödie oder nicht, zu einem tragischen Text macht. Was ist das Tragische? Die Antworten, die in der Literatur- und Philosophiegeschichte auf diese Frage gegeben wurden, sind vielfältig. Und sie mündeten letztlich wie nahezu alle großen Menschheitsfragen in einer Paradoxie, die Peter Szondi eindrücklich beschrieben hat:

»Die Geschichte der Philosophie des Tragischen ist von Tragik selbst nicht frei. Sie gleicht dem Flug des Ikaros. Denn je näher das Denken dem generellen Begriff kommt, um so weniger haftet an ihm das Substantielle, dem es den Aufschwung verdankt. Auf der Höhe der Einsicht in die Struktur des Tragischen fällt es kraftlos in sich zusammen.«17

Es kann also immer nur um Annäherungen an das Phänomen des Tragischen gehen. Gerade weil sich das Tragische nicht fassen lässt, sondern in mancherlei Gestalt begegnet, bleibt die Aufgabe bestehen, ihm in seinen jeweiligen individuellen, literarischen und geschichtlichen Ausprägungen nachzuspüren. Denn das Tragische lässt sich nicht einfach aus den konkreten und vielfältigen Lebensvollzügen herausfiltern, in die es verwoben ist. Man tut daher gut daran, die einschlägigen Text- und Lebenswelten auf ihre tragischen Momente oder Aspekte hin in Blick zu nehmen.

Da es sich bei der Iphigenie in Aulis wie auch in der Erzählung über Jiftach und seine Tochter um antike Texte handelt, ist es sinnvoll, die Spur auf der Suche nach dem Tragischen zunächst auch bei einem antiken Denker aufzunehmen, um nicht unsere neuzeitlichen Vorstellungen von dem, was tragisch sei oder nicht, unbesehen in diese Textwelten einzutragen.

Der grundlegende Text, der die Debatte um die Gestalt und das Wesen der Tragödie bis in die Moderne hinein bestimmt, findet sich in der »Poetik« des Aristoteles.18 Für ihn besteht die »tragische Dichtung« aus Nachahmungen von Charakteren, menschlichen Handlungen und Leiderfahrungen, die der Lebenswirklichkeit entnommen sind.19 Sie geht auf einen »Mythos« zurück, der »das Fundament und gewissermaßen die Seele der Tragödie ist«.20 Mit dem Begriff des Mythos ist dabei ganz schlicht das gemeint, wovon die »Rede«21 ist: Eine »Zusammenfügung von Geschehnissen« und Handlungen,22 die das Leben schreibt und die in der Tragödie aufgegriffen und gestaltet werden. Wir würden heute vom »Plot« oder von der »Story« sprechen, die ihr zugrunde liegt. Diese Storys/Mythen liegen in der Regel im reichen Schatz der Volksüberlieferung bereit, in kurzen Erzählfragmenten, Fabeln, Sagen und Heroengeschichten, die sich zunächst nur von Mund zu Mund verbreitet haben und ihren Weg durch die Jahrhunderte nahmen, bevor sie verschriftet und in literarischen Texten verarbeitet wurden.

Im Mittelpunkt tragischer Storys steht das Leiden ihrer Helden. Sie werden Opfer ihres eigenen Tuns sowie widriger Lebensumstände, in die sie gerieten. »Die tragische Dichtung ruht« demnach – wie Walter Benjamin zugespitzt formulierte – »auf der Opferidee.«23 Da aber nicht jedes Leid, das Menschen trifft, und jedes Geschehen, dessen Opfer sie werden, als tragisch empfunden wird, stellt sich sofort erneut die Frage, was menschliche Opfer- und Leiderfahrungen zu einem tragischen Leiden machen. Den Schlüssel für die Beantwortung dieser Frage hat Aristoteles zunächst in den Wirkungen und Affekten gesucht, die die Tragödien beim Publikum auslösen. Es geht in ihnen um die Nachahmungen der Protagonisten eines Geschehens, das

»Jammer (eleos) und Schaudern (phobos) hervorruft und hierdurch eine Reinigung (katharsis) von derartigen Erregungszuständen bewirkt.«24

Jammer und Schaudern stellen sich aber immer dann ein, wenn das erzählte Geschehen einen vorhersehbaren oder auch unvorhersehbaren »Handlungsumschwung« (peripeteia) vom Glück ins Unglück, von Freundschaft in Feindschaft, Liebe in Hass oder Heil in Unheil aufweist.25 Diese Peripetien können auf einen leichtfertigschuldhaften oder auch unverschuldeten »Fehler/Irrtum« (hamartia) des jeweiligen Helden zurückgehen,26 der ihn in eine aussichtslose Lage geraten lässt, in der er kaum noch die Wahl zwischen Richtig und Falsch hat. Was immer er tut, führt nahezu zwangsläufig in sein Verderben, in einen unlösbaren Konflikt. Johann Wolfgang von Goethe hat diesen tragischen, Jammer und Schaudern hervorrufenden Konflikt in seinen Unterhaltungen mit Kanzler Friedrich von Müller auf die knappe Formel gebracht:

»Alles Tragische beruht auf einem unausgleichbaren Gegensatz. Sowie Ausgleich eintritt oder möglich wird, schwindet das Tragische.«27

Das kann der Widerspruch zwischen zwei Normen sein, zwischen denen sich der tragische Held entscheiden muss. Gehorcht er der einen, verstößt er gegen die andere; oder die Entscheidung zwischen zwei Personen, rettet er die eine, muss er die andere preisgeben; oder auch zwischen zwei Übeln, umgeht er das eine, gerät er unweigerlich in ein anderes. Dabei vollzieht sich das Geschehen einerseits im tragischen Wissen des Helden um das, was er tut. Er weiß um das Leiden, das sein Handeln zur Folge hat, aber er muss tun, was er gar nicht will. Andererseits kann dahinter aber auch ein tragisches Nichtwissen stehen. Er irrt sich oder macht einen Fehler, von dem er nicht weiß, dass dieser seinen Untergang besiegelt.28

Mitunter hat man die Ursachen für diese Peripetien im ambivalenten Charakter der tragischen Helden gesucht, ihrer Wankelmütigkeit und inneren Zerrissenheit. Doch sollte man sich mit einer kritischen, moralischabwertenden Einschätzung dieser in sich widersprüchlich scheinenden Charaktere zurückhalten. Denn bei den tragischen Helden handelt es sich weder um Männer, die über jeden Fehl und Tadel erhaben wären, noch um unverbesserliche Schufte. Vielmehr bleibt

»der Held übrig, der zwischen den genannten Möglichkeiten steht. Dies ist bei jemandem der Fall, der nicht trotz seiner sittlichen Größe und seines hervorragenden Gerechtigkeits-strebens, aber auch nicht wegen seiner Schlechtigkeit und Gemeinheit einen Umschlag ins Unglück erlebt, sondern wegen eines Fehlers […]«.29

Es geht demnach beim tragischen Helden um den »Mensch zwischen den Extremen«,30 der weder einen makellosen Charakter hat, noch einen, der von beispielloser Bosheit durchtrieben ist. Gerade darin kommt er den Zuschauern der Tragödien nahe, erregt ihren Jammer und ihren Schrecken, weil sie in ihm etwas von sich selbst und ihrer eigenen Fehlbarkeit und Endlichkeit wiederfinden können. Das, was ihm widerfährt, könnte auch mir selbst geschehen. Seine menschliche Größe erweist sich weniger in seiner charakterlichen Unfehlbarkeit als vielmehr in der »Tüchtigkeit« und »Tapferkeit«, mit der er seinem tragischen Geschick begegnet.31

Nicht ein ganz bestimmter menschlicher Charakter ist demnach die Quelle des Tragischen, sondern die abgründigen, widersprüchlichen, sich scheinbar jeder Logik und jedem Sinn entziehenden Lebensumstände selbst sind es, zwischen denen ein Mensch wie zwischen zwei Mühlsteinen zerrieben werden kann.

»Es muß also ein Gegensatz sein, der in einem ›echten Naturgrund‹ wurzelt, wir würden sagen: im Seienden selbst; nicht in vorübergehenden Erscheinungen, sondern im Wesen des Menschen und der Wirklichkeit.

[. . .]

Entscheidend ist der Begriff des Konflikts, der in der Seele erlebt wird, aber nicht aus der Seele stammen darf, sondern heterogener Herkunft sein muß; der Mensch gerät in ihn hinein als etwas Bedrängendes, das er dann aus eigener Kraft tragen und lösen muß.«32

Das Tragische ist danach ein Drittes, ein Abgrund, ein Riss, der sich zwischen mir und meiner Lebenswelt, zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen auftut, zwischen Ordnung und Chaos, Regel und Regellosigkeit, Sinn und Abersinn:

»Die Griechen hatten für das Ineinander von Sinn und Sinnlosigkeit eine feste Vorstellung in der Religion: das Daimonische, Daimon im Gegensatz zu Theós, dem bestimmten Gott, den man erkennen und in seinem Wirken klar umschreiben kann. Das Daimonische ist eine Begegnungsart mit dem Göttlichen in plötzlicher, unkontrollierbarer, ungesetzlicher, unfaßbarer Form.«33

Während Zeus, das Oberhaupt der griechischen Götterwelt, für die Aufrechterhaltung der Welt- und Rechtsordnung steht, macht der Mensch immer wieder schicksalhafte Erfahrungen, die diese Ordnungen infrage stellen und zerbrechen lassen, ohne dass sich das auf eine in voller Absicht begangene Missetat des Helden zurückführen ließe. Ja, immer wieder ist davon die Rede, dass er schuldlos schuldig wird.34 Das Phänomen des Tragischen erscheint danach immer dann am Horizont, wenn sich eine unauflösbare und als leidvoll erfahrene Widersprüchlichkeit oder Regelwidrigkeit in der Lebenswirklichkeit selbst auftut, die sich weder eindeutig dem Reich der Götter, noch dem Tun des Menschen zurechnen lässt. Peter Szondi hat das wie folgt beschrieben:

»… das Tragische ist ein Modus, eine bestimmte Weise drohender oder vollzogener Vernichtung, und zwar die dialektische. Nur der Untergang ist tragisch, der aus der Einheit der Gegensätze, aus dem Umschlag des Einen in sein Gegenteil, aus der Selbstentzweiung erfolgt. Aber tragisch ist auch nur der Untergang von etwas, das nicht untergehen darf, nach dessen Entfernen die Wunde sich nicht schließt. Denn der tragische Widerspruch darf nicht aufgehoben sein in einer übergeordneten – sei’s immanenten, sei’s transzendenten – Sphäre.«35

Für Szondi tut sich daher der Abgrund des Tragischen auf, wenn sich der Mensch in einem Geschehen wiederfindet, in dem ihm seine Welt, Gott und schließlich auch er sich selbst fremd wird. Alles, was ihm bisher etwas bedeutete, droht im Nichts zu versinken. Jeder Lebenssinn wird im Keim erstickt, das Nichtige, Absurde feiert Triumphe. Es treibt den Leidenden in die absolute Isolation und innere Emigration.

Vor allem Franz Rosenzweig hat diesen Aspekt am Tragischen hervorgehoben: Der tragische Held, gefangen im undurchdringlichen Panzer seines Selbst, aus dem »keine Brücke nach irgend einem Außen« führt, »und sei dieses Außen auch ein anderer Wille«. Er, vergraben in sich, im Schweigen, nicht mehr dazu in der Lage, sich zu äußern, weder gegenüber Gott, noch gegenüber einem anderen Menschen. Bleibt dem tragischen Helden daher am Ende nichts anderes als die »Einsamkeit des Untergangs«? Das ist die Aura des Tragischen, die »jene eigentümliche Dunkelheit über Göttliches und Weltliches ausgießt, in der sich der tragische Held bewegt«.36

Kann es in der Begegnung mit dem Tragischen, und sei es auch nur in der Begegnung des Zuschauers mit ihm im Halbrund des Theaters, den das Geschehen auf der Bühne in Jammer stürzt und in Schrecken versetzt, kann es daraus überhaupt so etwas wie eine »Befreiung« oder davon eine »Reinigung« (katharsis) geben, die Aristoteles jedenfalls für das Tragödiengeschehen für wesentlich und notwendig hielt?37 Und wie könnte das jemals möglich sein, wenn das Tragische doch die offene, schwärende Wunde bleibt, die sich eben nicht schließen will? Wie, wenn der im Tragischen erfahrenen Gottes- und Weltverdunkelung kein Morgenlicht mehr leuchtet, weil »der Tod als Meißel«38 sein unwiderrufliches Werk vollbringt, weil untergeht, was eigentlich nicht untergehen darf? Ja, wie kann es eine Katharsis, eine Befreiung und Erlösung aus der vernichtenden Irrationalität des Tragischen geben, die jeder Rationalität und jedem Lebenssinn Hohn spricht? Diese Sinnwidrigkeit und unaufhebbare Widersprüchlichkeit hat Wolfgang Schadewaldt die »Erfahrung des Amphibolischen« genannt, in der

»wir das Geschehen nicht nach einem Sinn ablaufen sehen, aber es ist auch nicht Unsinn, sondern wir treffen auf den Schein des Unsinns, der in Wahrheit eben doch nicht unsinnig ist. Man kann auch sagen, daß der Sinn so verhüllt ist, daß man nur zu ihm durchbrechen und das Geschehen transparent machen kann durch das Leiden.«39

Kann das Leiden diese eigentümliche Kraft freisetzen, dem Tragischen zu widerstehen, es mitunter sogar zu überstehen? Ja, schimmert zuweilen hinter dem Leiden doch der ferne Horizont eines Sinnes im Unsinn des Tragischen auf? Eine solche Frage darf man wohl nur mit Zittern und Zagen stellen. Jedes triumphalistische Pathos und jeder Gewissheitshabitus verbietet sich im Angesicht derer von selbst, denen ein tragisches Leiden auf die Schultern gelegt worden ist.

Jiftach und seine Tochter

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