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A EINFÜHRUNG I. JIFTACHS TOCHTER –
EINE HEBRÄISCHE IPHIGENIE?
ОглавлениеDie Gestalt und das Schicksal der Iphigenie findet seit der griechischen Antike bis in die Gegenwart ihren Platz auf den Bühnen der Welt und bewegt die Gemüter der Zuschauer. Euripides hat sich mehrfach dem Stoff gewidmet und mit den Tragödien »Iphigenie bei den Taurern« und »Iphigenie auf Aulis« gegen Ende des 5. Jh. v. Chr. am Dichter-Agon anlässlich der Großen Dionysien in Athen beteiligt.3
Iphigenie war die Tochter Agamemnons, des Königs von Mykene, und der Klytaimestra. Als seine Schwägerin Helena nach Troja entführt worden war, wurde Agamemnon zum Oberbefehlshaber der vereinigten griechischen Seeflotte ernannt, die sich in Aulis sammelte und vor Anker lag. Es galt, gegen Troja einen Rachefeldzug zu führen. Allerdings hatte Agamemnon zuvor in Aulis auf der Jagd eine heilige Hirschkuh der Artemis erlegt, woraufhin der Zorn der Göttin entbrannte. Sie verfügte eine Windstille und hinderte auf diese Weise die Kriegsflotte am Auslaufen. In dieser prekären Situation, so wird es in der »Iphigenie bei den Taurern« erzählt, habe Agamemnon der Artemis – nichts Böses ahnend – gelobt, ihr »die schönste Frucht des Jahres« als Opfer darzubringen, um sie wieder freundlich zu stimmen. Da öffnete ihm der Seher Kalchas die Augen für das Opfer, das die Göttin von ihm fordere:
»Gebieter des Hellenenheeres, Agamemnon,
kein Schiff legt ab vom Strand, bevor nicht Artemis
zum Opfer deine Tochter Iphigenie
erhielt! Des Jahres schönste Frucht versprachst du ihr,
der Göttin mit der Fackel, feierlich als Gabe.«4
Damit stürzt Agamemnon in einen unlösbaren, tragischen Konflikt. Bricht er das Gelübde, wird er schuldig an seinem Bruder Menelaos und ganz Hellas, die auf Rache und Gerechtigkeit sinnen. Löst er es ein, wird er zum Mörder an seiner eigenen Tochter. Alle Versuche Agamemnons, dem Konflikt durch Nichterfüllung des Gelübdes zu entgehen, scheitern. So bleibt dem verzweifelten Vater nichts als die Klage:
»Weh mir! Was soll ich Armer sagen? Wo beginnen?
In welch verhängnisvolles Netz bin ich verstrickt!
Ein Daimon schlich sich hinterrücks an mich heran:
Mit seiner List hat weit er meine übertroffen!
[. . .]
Ich freilich sehe mich vom Schicksal jetzt gezwungen,
den blutgen Mord an meiner Tochter zu vollziehen.
[. . .]
Das ist mein Leid. Ich Armer, welche Not ward von
den Göttern, ausweglos, mir heute aufgebürdet.«5
Ebenso bleiben auch die Bemühungen Klytaimestras ohne Erfolg, die Tochter Iphigenie, die noch unverheiratet und dem Achilleus als Braut versprochen war, mit dessen Hilfe zu retten. Energisch interveniert sie bei Agamemnon, um ihn doch noch umzustimmen und von der Erfüllung des Gelübdes abzuhalten. Leidenschaftlich stellt sie ihm die Folgen vor Augen, die die Opferung der Iphigenie für ihn hätte:
»Du opferst hin dein Kind – was willst du dabei beten?
Um welchen Segen flehn als Mörder deiner Tochter?
Bin ich etwa berechtigt, dir Erfolg zu wünschen?
Wir sprächen ja den Göttern jede Einsicht ab,
wenn Mördern unsre Gunst wir schenkten! Willst du etwa
nach Argos heimgekehrt, umarmen deine Kinder?
Das darfst du nicht! Wer von den Kindern wird dir noch
ins Auge schauen, damit du ihn umarmst – und mordest?«6
Der zur Tragödie gehörende Chor verstärkt die Intervention der Klytaimestra und beschwört Agamemnon ebenfalls:
»Gib nach! Dein Kind mit zu behüten, Agamemnon,
bringt dir nur Ehre! Dem wird niemand widersprechen.«7
Und schließlich kommt Iphigenie selbst zu Wort. Sie bittet den Vater eindringlich, sie zu verschonen:
»Lass leben mich, ich bin so jung! Des Lichtes Anblick
erfreut mich. Zwing mich nicht, die Unterwelt zu schauen!
[. . .]
Und alle Gründe schlage ich mit einem Wort:
Die Sonne schauen bleibt des Menschen höchste Lust;
die Unterwelt ist finster. Töricht, wer den Tod
herbeiwünscht! Lieber elend leben als schön sterben.«8
Schließlich aber wächst in ihr die Einsicht, dass sie sich um des Vaters und Hellas’ willen dem Opfer des eigenen Lebens nicht entziehen kann. Man mag in diesem Stimmungswandel der Iphigenie wie Aristoteles in seiner »Poetik« einen Mangel der Charakterführung durch den Dichter sehen, »denn die bittflehende ›Iphigenie in Aulis‹ hat nichts mit der gemein, die sie im weiteren Verlauf des Stückes ist.« Ja, in den Geschehnissen einer Tragödie dürfe nichts »Ungereimtes« sein.9 Wichtig war es aber für Euripides allein, die Notwendigkeit der inneren Wandlung Iphigenies als solche zur Darstellung zu bringen.
Abb. 1: Darstellung der Opferung der Iphigenie auf einem Fresko aus der Casa del Poeta Tragico in Pompeji (1. Jh. n. Chr.). Iphigenie wird von Odysseus und Menelaos gehalten. Links die trauernde Mutter Klytaimestra, rechts der Seher Kalchas. Über ihnen die Göttin Artemis, die einen Boten mit einem Hirsch als Ersatzopfer entsendet.
Wer vermag schon Herz, Seele und Verstand eines Menschen zu ergründen, der in einen derartigen inneren Konflikt gestürzt wird? Was soll sich – zerrissen zwischen Erhaltung und Hingabe des Lebens, zwischen Nein und Ja – noch folgerichtig aufeinander reimen? In der Tiefe des tragischen Abgrunds herrscht das Schweigen. Nur eines zählte: Am Ende stimmte Iphigenie – dem Schicksal gehorchend – ihrem Opfertod aus eigenem Willen zu.
»Sie aber trat zu ihrem Vater hin und sprach:
›Mein lieber Vater, dir zur Seite steh’ ich hier;
ich gebe für mein Vaterland und für ganz Hellas
mich freudig hin: Man soll geleiten mich an den
Altar der Göttin und als Opfertier mich schlachten,
da ja die Gottheit diese Forderung erhoben!
[. . .]
Still werde ich den Nacken bieten, voller Mut!‹
So sprach sie. Jeder, der sie hörte, staunte über
des Mädchens Tapferkeit und Heldensinn.«10
Wie sich Iphigenie zu dieser Entscheidung durchringen konnte, was letztlich den Ausschlag gab, sich mit Leib und Leben dem Vaterland und der Artemis zu opfern, das bleibt ihr heroisches Geheimnis.
Schließlich aber wird ihr Leben doch noch gerettet. Artemis greift als dea ex machina ein und ersetzt auf wunderhafte Weise das Opfer (victima), Agamemnons und Klytaimestras Tochter, durch eine Hirschkuh als Ersatzopfer. Iphigenie selbst wurde in das ferne Land der Taurer entrückt, wo sie als Priesterin am Altar der Artemis ihren Dienst versah. Bereits die Bereitschaft Agamemnons, die eigene Tochter der Göttin zu opfern, hatte ihren Zorn gestillt und das Leben Iphigenies gerettet. Und doch trug diese schwer an ihrer Rettung. Denn der Dienst am Altar der Artemis bedeutete ein Leben in der Fremde unter den barbarischen Taurern. Der Eltern, Geschwister und Freundinnen beraubt, sollte sie ehelos und kinderlos ohne Aussicht auf ein erfülltes Leben ihre Tage fristen. Für die »Iphigenie in Aulis« gilt daher dasselbe Fazit, das Hans Strohm unter die »Iphigenie bei den Taurern« setzte: »So ist auch dies Ende eine Widerlegung menschlichen Hoffens.«11
Das Schicksal der Iphigenie hat aufmerksame Bibelleser mehrfach an die Erzählung von Jiftach und seiner Tochter im Richterbuch erinnert.12 Ja, man hat sogar von einer »Hebrew Iphigenia« in der Bibel Israels gesprochen.13 Und in der Tat gibt es ja eine Fülle von Motivüberschneidungen zwischen der Iphigenie des Euripides und der Tochter Jiftachs:
– Die Opferung beider Mädchen hat ihren Ausgangspunkt in einer militärischen Auseinandersetzung.
– In beiden Fällen ist der Vater als Heerführer derjenige, dem das Opfer abverlangt wird.
– Beidemal ist ein Gott bzw. der Göttin geleistetes, unbedachtes Gelübde der Auslöser für das tragische Op fergeschehen.
– In beiden Gelübden bleibt die Opfermaterie (Tier/Mensch/Frucht?) zunächst unbestimmt.
– In beiden Fällen wird der Vater durch das geforderte Opfer überrascht und in ein tiefes Unglück gestürzt.
– Für Jiftach wie auch für Agamemnon gibt es letztlich kein Zurück von der Erfüllung des Gelübdes.
– Sowohl Iphigenie als auch Jiftachs Tochter sind unverheiratete Jungfrauen, die sterben sollen, bevor sich ihr Leben in Ehe und Mutterschaft erfüllen konnte.
– Beide willigen schließlich mutig und entschlossen in ihre Opferung ein.
– Und beide weihen ihr Leben einer »höheren Sache«, dem militärischen Sieg über die Feinde ihrer Völker.
Angesichts dieser Übereinstimmungen zwischen der Iphigenie in der griechischen Tragödie und der Erzählung von Jiftach und seiner Tochter im Richterbuch ist die Rede von einer »hebräischen Iphigenie«, die die Erzähler des Richterbuches ihren Lesern präsentieren wollten, wenig verwunderlich. Und obwohl es in der literarischen Gestaltung des Stoffes sowie vor allem im Ausgang des Geschehens deutliche Unterschiede gibt, bleiben die Übereinstimmungen verblüffend und verlangen nach einer Erklärung. Das wirft allerdings nicht nur Fragen nach der Textentstehung und einer eventuellen Abhängigkeit beider Texte voneinander auf,14 sondern konfrontiert uns darüber hinaus mit dem Problem des Tragischen in der Bibel Israels.