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3. DAS TRAGISCHE UND DIE BIBEL ISRAELS
ОглавлениеWenn wir an die Bibel Israels mit der Frage nach dem Problem des Tragischen herantreten,40 dann tun wir gut daran, zunächst einmal der Spur des Aristoteles zu folgen. Anstatt der abstrakten Frage nachzugehen, was denn das Tragische in ihr eigentlich sei, ja, ob sich denn überhaupt so etwas wie Tragik in der Bibel finden lasse, sollten wir eher darauf achten, welche Wirkungen bestimmte biblische Texte immer wieder auf ihre Leser ausgeübt haben. Wann erregten sie Mitleid, Jammer und Entsetzen und wurden als Darstellung eines tragischen Geschehens wahrgenommen? Nur einige Beispiele hierzu:
Erich Auerbach stellte im Blick auf die Erzählung von der »Bindung Isaaks« fest, in der Abraham den Auftrag erhält, seinen Sohn als Brandopfer auf dem Berg Moria darzubringen (1Mose 22):
»Hier aber, beim Abrahamsopfer, ist die drückende Spannung da; was Schiller dem tragischen Dichter vorbehalten wollte – uns unsere Gemütsfreiheit zu rauben […] – das wird in dieser biblischen Geschichte, die man doch wohl episch nennen muß, geleistet.«41
Und so lassen sich von Abraham ausgehend viele Gestalten der Hebräischen Bibel benennen, die ihren Lesern die Gemütsfreiheit raubten, weil jene in tragische Konflikte verwickelt wurden. Mose, der Israel aus Ägypten führte, um in das verheißene Land zu ziehen, darf dieses zwar noch vor seinem Tod vom Berge Nebo aus in Augenschein nehmen, es selbst aber nicht mehr betreten (5Mose 32,48–52; 34,1–12). Was er unter Anfeindungen und in Konflikten mit den Israeliten und mit Gott für sein Volk erstritt, bleibt ihm selbst verwehrt. Darüber hinaus hat Bernhard Lang auch seine Rolle als Vermittler der Tora JHWHs grundsätzlich problematisiert:
»Mit Mose verbinden sich tragische Züge: Durch Mose wird dem Volk das Gesetz gegeben, dessen Forderungen es nicht gerecht werden kann und an dem es scheitern wird. Auf dem Geschehen lastet Schwere und Tragik.«42
Neben Jiftach und seiner Tochter wäre vor allem Simson zu nennen, der Jiftach im Richteramt folgte (Ri 13–16). Simson, der – von JHWH gesegnet und von seinem Geist getrieben (Ri 13,24f.) – gegen die Philister streitet, die Israel immer wieder hart bedrängen, wird zum Opfer seines eigenen Wagemutes und seiner Ränkespiele. Seinen letzten großen Sieg kann er – von den Philistern geblendet und gefangen – nur dadurch erringen, dass er die Säulen des Dagontempels zum Einsturz bringt und auf diese Weise sich selbst sowie die feiernden und johlenden Philister mit in den Tod reißt. Gemeinsam mit seinen Feinden liegt er unter Trümmern begraben (Ri 16,20–31).43 Oder man denke auch an den ersten israelitischen König Saul, der einst von Gott erwählt, von Samuel zum König gesalbt und mit dem Geist JHWHs ausgerüstet wurde (1Sam 9–10). Am Ende verliert er seine Geistbegabung, verfällt – von einem bösen Geist JHWHs geplagt – in Schwermut (1Sam 16,14ff.) und stürzt sich nach einer verlorenen Schlacht gegen die Philister voller Verzweiflung in sein eigenes Schwert (1Sam 31). Ist in der Erwählung und dem Untergang dieses Königs die Tragik nicht mit Händen zu greifen?44 Aber auch König David, der Sauls Tochter Michal heiratete, führte mit ihr eine Ehe, die »nicht ohne tragische Momente« blieb.45 Schließlich wäre in diesem Zusammenhang noch der bedeutende Reformkönig Josia zu nennen, mit dem sich große Hoffnungen verbanden. Bevor er jedoch sein Reformwerk stabilisieren und vollenden konnte, fiel er in einer Schlacht bei Megiddo gegen Pharao Necho (2Kön 23). Für Herbert Donner bündelt sich in seinem Geschick die gesamte Königsgeschichte Israels und Judas in ihrem Auf und Ab, den schmerzlichen Abbrüchen und hoffnungsvollen Neuanfängen:
»Im Grunde endet mit ihm (Josia, R. L.) die Königsgeschichte Israels; was noch folgte, war nicht viel mehr als ein Nachspiel. Die Geschichte der israelitischen Königszeit war durch die große und tragische Gestalt Sauls eröffnet worden. Sie schloß mit Josia in den Dimensionen von Größe und Tragik, die einem solchen Ende gemäß sind.«46
Jedoch nicht nur unter den Richtern und Königen Israels finden sich tragische Gestalten, sondern auch unter ihren je und je auf die Bühne der Geschichte tretenden Gegenspielern, den Propheten. Man denke nur an Jeremia. JHWH verweigert sich dem Einsatz und den Bitten des Propheten für Juda und Jerusalem (Jer 7,16), weil sie nicht auf die Stimme ihres Gottes hörten (Jer 7,28). Ja, Jeremia selbst ist zunehmend massiven Anfeindungen, Spott, Schlägen, Gefangenschaft und großer Einsamkeit ausgesetzt. Und schließlich besiegelt seine Verschleppung nach Ägypten durch seine Landsleute gegen seinen eigenen Willen sein Scheitern (Jer 43,1–6). »Tiefe Tragik überschattet sein Leben.«47 Auch an den Gottesknecht sei erinnert, von dem im Jesajabuch die Rede ist. Wenn im letzten der vier Gottesknechtslieder (Jes 52,13–53,12) gesagt wird, dass er »wie ein Lamm zur Schlachtbank« geführt wurde (53,7), »sein Grab bei Frevlern fand, obwohl er keine Gewalt geübt und kein Betrug in seinem Munde war« (53,9), und dass ihm JHWH mit diesem Leiden die Schuld des ganzen Gottesvolkes aufgeladen hatte (53,6), dann klingt in diesem stellvertretenden Sühneleiden des Knechtes JHWHs ein Grundmotiv der tragischen Dichtung an: Er, der Knecht, ist schuldlos schuldig. Es waren wohl diese Momente, die Bernhard Duhm erklären ließen:
»Der Gottesknecht […], selber des Heils gewiß, lebte und opferte sich für die Gesamtheit: das tragische und doch herrliche Schicksal der wahrhaft großen Seele.«48
Zum Schluss sei noch auf Hiob, den Gerechten, hingewiesen, dem schweres, ihm unerklärbares Leid widerfährt, das ihn in eine tiefe Beziehungskrise zu seiner Frau, seinen Freunden und vor allem zu Gott stürzt. Vehement wehrt er sich gegen das Sinnangebot seiner Freunde, die sich alle Mühe geben, sein Leiden als Folge einer schweren oder auch verborgenen Schuld zu erklären (Hi 4,1ff.).49 Sie quälen ihn geradezu mit ihren besserwisserischen »Tröstungen« und Aufforderungen, sich einsichtig zu zeigen, Buße zu tun und Gott um Vergebung zu bitten. Doch gerade mit ihrer vermeintlichen Aufdeckung eines Sinns im scheinbar sinnlosen Leiden werden sie am Ende des Buches ins Unrecht gesetzt (Hi 42,7–9).50 Mehrfach gab es Versuche, das Buch als ein Drama zu lesen und sich sowohl das Geschick Hiobs als auch das seiner Frau auf dem Hintergrund der attischen Tragödie zu erschließen.51 Und in der Wirkungsgeschichte des Hiobbuches lässt sich von der Antike bis in die Gegenwart eine unübersehbare Spur tragischer Deutungen und Fortschreibungen der Leidensgeschichte Hiobs nachzeichnen.52
Angesichts dieser Auswahl biblischer Gestalten, denen immer wieder tragische Züge zugeschrieben wurden, lassen uns zwei neuere Kommentare zum Richterbuch mit ihren Voten zur Erzählung von Jiftach und seiner Tochter in Ri 11,28–40 aufhorchen. So zieht Walter Groß aus seiner Auslegung das Fazit, dass Jiftach alles andere als ein »tragischer Held« gewesen sei. »Dafür agiert er in dieser Erzählung zu dumpf und fehlt ihm die menschliche Größe.«53 Und Ernst Axel Knauf stellt kurzerhand fest: »Hier geht es nicht um Tragik, sondern um totale Tora-Vergessenheit«.54 Ganz spontan möchte man erwidern: Was, wenn gerade in dieser Tora-Vergessenheit nicht nur die Tragik Jiftachs besteht, sondern darüber hinaus auch die ganz Israels in der Richter- und Königszeit?
Die Frage, ob das Tragische eine angemessene theologische Kategorie der Deutung einschlägiger Textwelten der Bibel Israels darstellt, bleibt umstritten. So hatte bereits Kornelis Heiko Miskotte die Freude zum Grundton des alttestamentlichen Daseinsverständnisses ausgerufen und unmissverständlich dekretiert: »Das tragische Lebensgefühl ist dem Alten Testament fremd.«55 Und Karl Barth hat darüber hinaus aus gesamtbiblischer Perspektive vor einer geradezu »übermütigen Tragik« gewarnt. Gottes Barmherzigkeit in Jesus Christus
»zerbricht gerade das, was man als die Tragik menschlicher Existenz so ernst zu nehmen pflegt. Es gibt etwas Ernsteres als sie, nämlich dies, daß unsere Not – und zwar gerade die Not unserer Sünde und Schuld – in Freiheit aufgenommen, in Gott selber ist und dort erst, nur dort, wirkliche Not ist. Daß dem so ist, das ist die Barmherzigkeit Gottes.«56
Diese Stimmen, die dem Tragischen in der Bibel mit Skepsis begegnen und eine Überwindung der tragischen Welten der griechischen Antike durch das alt- und neutestamentliche Gottes- und Menschenverständnis postulieren, sind ernst zu nehmen. Ob sie allerdings das letzte Wort zur Sache sein können, das wäre an den biblischen Texten selbst zu überprüfen. Daher wird uns die Frage nach dem Tragischen in unserem Gang durch die Erzählung von Jiftach und seiner Tochter begleiten.
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1 L. BAECK, Werke 6, 55.
2 D. EBENER, EURIPIDES, Iphigenie in Aulis (IA), 8.
3 S. B. ZIMMERMANN, Euripides, 284f.
4 D. EBENER, EURIPIDES, Iphigenie bei den Taurern (IT), 249, 17–21.
5 D. EBENER, EURIPIDES, IA, 39, 442–445; 43, 511f.536f.
6 D. EBENER, EURIPIDES, IA, 77, 1185–1193.
7 D. EBENER, EURIPIDES, IA, 79, 1209f.
8 D. EBENER, EURIPIDES, IA, 79, 1218 f.; 81, 1249–1252.
9 ARISTOTELES, Poetik 15, 49. Vgl. dazu H. FLASHAR, Aristoteles, 58.
10 D. EBENER, EURIPIDES, IA, 97, 1551–1556 u. 1560–1562.
11 H. STROM, Nachwort, 79.
12 Siehe dazu u. a. W. BAUMGARTNER, Sagenbeziehungen, 152, A. KUNZ-LÜBCKE, Interkulturell lesen, 263ff. u. M. BAUKS, Tochter, 64ff.
13 So TH. RÖMER, Sacrifice, 36ff.
14 Siehe dazu ausführlich S. 50ff.
15 Siehe dazu B. ZIMMERMANN, Tragödie, 13, und W. BURKERT, Tragödie, 16.
16 Vgl. dazu ARISTOTELES, Poetik, 23.77.
17 P. SZONDI, Versuch, 53.
18 Wichtiges dazu bei L. RATSCHOW, Frau, 32–40.
19 ARISTOTELES, Poetik 1, 5.
20 ARISTOTELES, Poetik 6, 23.
21 Das griechische Wort mythos hat hier die umfassende Bedeutung von »Wort/Rede/Geschichte/Erzählung« und entspricht dem lateinischen fabula.
22 ARISTOTELES, Poetik 6, 23.
23 So das klarsichtige Votum von W. BENJAMIN, Ursprung, 87.
24 ARISTOTELES, Poetik 6, 19.
25 ARISTOTELES, Poetik 11, 35.
26 ARISTOTELES, Poetik 13, 39. Das Nomen hamartia kennzeichnet hier weniger einen moralischen Mangel an Charakter als vielmehr die menschliche Fehlbarkeit, vor der keiner gefeit ist.
27 R. GRUMACH (Hg.), Kanzler, 127.
28 ARISTOTELES, Poetik 14, 45.
29 ARISTOTELES, Poetik 13, 39.
30 W. SCHADEWALDT, Tragödie, 24f.
31 ARISTOTELES, Poetik 15, 47.
32 W. SCHADEWALDT, Tragödie, 55 f.
33 W. SCHADEWALDT, Tragödie, 58.
34 Vgl. z. B. M. RASCHE, Phänomen, 22.
35 P. SZONDI, Versuch, 60.
36 Siehe die Beschreibung des Tragischen durch F. ROSENZWEIG, Stern, 83–87.
37 Siehe S. 24.
38 In diesem Bild hat E. BLOCH (Prinzip III, 1372ff.) das Tragische verdichtet.
39 W. SCHADEWALDT, Tragödie, 58.
40 Am ausführlichsten dazu bisher J. CH. EXUM, Tragedy.
41 E. AUERBACH, Mimesis, 13.
42 B. LANG, Mose.
43 M. GÖRG (Richter, 85) spricht vom »tragischen Geschick des Helden«. J. DIETRICH (Tod, 222ff.) charakterisiert die gesamte Simsonerzählung als »Tragik-Komödie«.
44 So u. a. G. HENTSCHEL, Saul, 186ff., und M. GERHARDS, Homer, 320ff.
45 Vgl. 1Sam 18,20–28; 25,44; 2Sam 3,12–16; 6,20–23 und W. DIETRICH, David, 29.
46 H. DONNER, Geschichte 2, 343.
47 J. SCHREINER, Jeremia, 9. Vgl. auch G. FISCHER, Jeremia 1–25, 101.
48 B. DUHM, Jesaja, 400.
49 Vgl. R. LUX, Hiob, 153–156.
50 Vgl. R. LUX, Hiob, 265–271.
51 Siehe dazu vor allem B. KLINGER, Leiden, 36–48, und L. RATSCHOW, Frau, 32ff. u. 258ff.
52 Einen instruktiven Überblick bietet G. OBERHÄNSLI-WIDMER, Hiob.
53 W. GROSS, Richter, 617.
54 E. A. KNAUF, Richter, 124.
55 K. H. MISKOTTE, Götter, 94.
56 K. BARTH, Kirchliche Dogmatik II/1, 420.