Читать книгу Perry Rhodan Neo 244: Iratio - Rüdiger Schäfer - Страница 7
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Quito
Diesmal war Iratio Hondro sicher, dass er träumte. Er stand an einer steil abfallenden Küste. Links und rechts türmten sich graue Felsen zu einem zerklüfteten Wall auf, der den heranbrandenden Wogen eines mächtigen Ozeans seit Jahrtausenden trotzte. Brecher um Brecher krachte gegen den vom Wasser geschliffenen Stein und erzeugte jedes Mal eine meterhohe Wolke aus Gischt, die ein heftiger Sturm bis hinauf über die Klippen trug.
Iratio schmeckte das Salz auf seiner Zunge. Dann entdeckte er die Frau. Sie stand mit dem Rücken zu ihm und gefährlich nah am Abgrund. Ihr dunkles Haar wurde vom Wind in alle Richtungen geweht. Es sah aus wie ein fremdartiges Lebewesen mit unzähligen dünnen Armen, das sich verzweifelt an sie klammerte und sich auf ihrem Kopf zu halten versuchte.
Der Junge streckte die Hand aus. Er wollte die Frau warnen, ihr zurufen, dass sie zurücktreten müsse, bevor sie von einer der starken Böen erfasst und über die Felskante geblasen würde. Doch der Sturm riss ihm die Worte von den Lippen. Vielleicht sprach er sie auch gar nicht wirklich aus, denn seine Ohren vernahmen nur das Heulen und Fauchen des Unwetters, das mit jeder Sekunde schlimmer zu werden schien.
Die Frau streckte die Arme zur Seite, als wollte sie ein Paar Flügel spreizen und sich in die Luft erheben. Ihr langes, weißes Kleid flatterte wie eine Fahne. Iratio musste etwas tun, aber er konnte sich nicht bewegen, sosehr er es auch wollte. Als die Frau den Kopf drehte und den Blick auf ihn richtete, erkannte er sie. Vor ihm, auf der sturmumtosten Klippe, stand ... seine Mutter. Er hatte sie nie kennengelernt, denn sie war nach der Rückkehr der Memeterarche AVEDANA-NAU zur Erde gestorben – zusammen mit einigen Zehntausend anderen, die die lange Reise und den biologischen Tiefschlaf aus diversen Gründen nicht überlebt hatten. Alles, was Iratio von ihr geblieben war, waren ein paar Holoaufnahmen.
»Mamá ...«, rief er gegen den Wind an.
Doch sie ignorierte ihn und drehte ihm wieder den Rücken zu. Ein oder zwei Sekunden verstrichen in quälender Langsamkeit. Dann kippte die Frau wie in Zeitlupe nach vorn. Für einen kurzen Moment war Iratio von der irrigen Hoffnung erfüllt, dass sie tatsächlich fliegen könnte, dass sie davonschweben, eine kurze Runde drehen und neben ihm landen würde, um ihn in die Arme zu schließen. Doch natürlich geschah das nicht.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis sich der Junge endlich in Bewegung setzen konnte. Seine Augen suchten die Felslandschaft ab, die von einem blassen Mond nur unzureichend erhellt wurde. Die Frau war verschwunden, als hätte es sie nie gegeben.
Du bist schuld!, brüllte die lästige Stimme in ihm so laut, dass sein Kopf zu zerspringen drohte. Du hättest sie aufhalten können und hast nichts getan. Sie ist wegen dir gestorben!
»Nein ...« Das Wort tropfte zäh und widerwillig aus seinem Mund, während sich der Regen mit seinen Tränen vermischte. »Nein ... ich ... Ich war doch noch ein Kind ...«
Er erwachte mit einem Schrei, fuhr hoch ... und spürte eine Hand auf seiner heißen Stirn, die ihn niederdrückte.
»Ruhig, mein Kleiner«, sagte eine raue, jedoch eindeutig weibliche Stimme. »Dich hat es ziemlich heftig erwischt. Aber keine Sorge. Du bist jung und stark. Das kriegen wir wieder hin.«
Iratio ließ sich zurücksinken. Er blinzelte, weil er seine Umgebung nur verschwommen erkennen konnte. Erst nach und nach klärte sich sein Blick.
Er lag in einer Art Zelt, das mit einer Unzahl von Dingen vollgestopft war. Stapel aus Folienzeitungen, zerschlissene Decken und Tücher, Eimer und Kisten mit undefinierbaren Inhalten und eine Menge Kram, den die meisten Menschen auf den ersten und häufig auch auf den zweiten Blick als Unrat bezeichnet hätten.
Iratios Lager bestand aus einer zerschlissenen Matratze, die – dem Rascheln bei jeder Bewegung nach zu urteilen – mit Zeitungsfolien ausgepolstert war. Sein Kopf ruhte auf einem ebenfalls mit Zeitungen gefüllten Sack aus grobem Leinen, der einmal Kaffeebohnen enthalten hatte. Es roch nach heißer Suppe; überhaupt herrschte im Innern des Zelts eine wohlige Wärme.
»Wo ... Wo bin ich?«, stellte der Junge die naheliegendste Frage.
Die unbekannte Frau an seiner Seite lachte leise. »La Floresta«, antwortete sie dann. »In der Nähe der Neuen Universität. Von hier haben uns die Oficiales bisher noch nicht vertrieben. Zumindest nicht aus den Randgebieten.«
La Floresta? Iratios Verstand kam nur schwerfällig in Gang. Das war das Künstlerviertel von Quito. Eine ehemalige Touristenhochburg, die sich in den vergangenen Jahrzehnten mehr und mehr zu einem Sammelbecken für Aussteiger, Maler, Musiker, Artisten und alle Sorten von Leuten entwickelt hatte, die kreativ, weltoffen und modern waren oder sich zumindest dafür hielten. Die meisten hatten mindestens ein halbes Dutzend gescheiterter Karrieren auf allen möglichen Gebieten hinter sich und fanden in dem Areal, das von alten Häusern mit bunten Fassadenbildern und unzähligen kleinen Läden und Galerien dominiert wurde, eine billige Bleibe und die Zeit, sich neu zu orientieren. In diese Gegend hatten sich irgendwann auch die Desamparados verirrt, die Obdachlosen der Stadt, nachdem man sie nach und nach aus den hellen und citynahen Bezirken verscheucht hatte. Zu ihnen gehörte wohl auch die Frau.
Als sich Iratio diesmal – deutlich vorsichtiger – aufrichtete, hielt ihn seine Gastgeberin nicht zurück. Er stützte sich auf die Ellbogen und musterte die ältere Frau, die neben ihm hockte und ihn mit einem verhärmt wirkenden Gesicht anlächelte. Sie trug ein Potpourri aus Röcken, Pullovern, Jacken und Schals, das sie etwa doppelt so beleibt aussehen ließ, wie sie tatsächlich war. Ihre grauen Haare steckten größtenteils unter einer verblichenen Schirmmütze mit dem Logo von El Nacional, einer beliebten Fußballmannschaft aus Ecuadors Hauptstadt.
»Ich habe dich halb bewusstlos und beinahe erfroren in einem Hauseingang in der Rafael Leon gefunden. Lass mich raten: Du bist von zu Hause weggelaufen, stimmt's?«
Iratio nickte. Das war zwar nur die halbe Wahrheit, aber auf jeden Fall nicht gelogen.
Die Frau schlug die dünne Decke zurück, die sie über ihn gelegt hatte. Erst da bemerkte der Junge, dass sein gebrochener Arm mit einer schmalen Kunststoffleiste geschient war. Instinktiv fuhr er sich mit der Rechten an die Wange, wo ihn Vater mit dem Messer verletzt hatte, und ertastete einen dicken Verband. Der Schnitt war tief gewesen und hatte stark geblutet. Wahrscheinlich war er der Grund, warum er schließlich umgekippt war. An die letzten Minuten vor seiner Ohnmacht konnte er sich nur noch sehr verschwommen erinnern.
»Wer war das?«, wollte die alte Frau wissen und deutete auf seine Blessuren. »Dein Vater?«
Wieder nickte Iratio. Er trug einen kratzigen, aber warmen Overall, wie man ihn manchmal bei Handwerkern sah und der ihm viel zu groß war. Er roch ein bisschen muffig, aber keineswegs unangenehm. Überhaupt war die Behausung seiner Retterin zwar mit Gerümpel überfüllt, aber bemerkenswert sauber. Der Ausgang, wenig mehr als ein Schlitz im Zeltstoff, war mit einer grünen Gardine verhängt, die wohl irgendwann mal das Fenster eines Hauses geziert hatte. In der gegenüberliegenden Ecke stand ein primitiver Heizofen, durch dessen Sichtscheibe Iratio eine Handvoll rot glühender Kohlestücke erkennen konnte.
»Ich bin Maylin«, stellte sich die Frau vor. »Verrätst du mir auch deinen Namen?«
»Iratio«, antwortete er.
Maylin nickte. »Gut«, sagte sie zufrieden. »Nachdem wir uns nun kennengelernt haben, sollten wir etwas essen. Wie sieht es aus, Iratio? Hast du Hunger?«
Sein diesmaliges Nicken fiel wesentlich heftiger aus als die beiden Male zuvor. Sein Magen fühlte sich tatsächlich an wie eine tiefe Grube, aus der das gefährliche Knurren einer Bestie erklang. Er hatte keine Ahnung, wie lange er schon in diesem Zelt lag, wusste nicht mal, ob es draußen Tag oder Nacht war. Und er hatte großes Glück gehabt, dass ihn die alte Frau nicht nur mitgenommen, sondern vor allem nicht einfach den Behörden übergeben hatte.
Sekundenlang verspürte er nagendes Misstrauen, doch dann kam die Scham. Er war undankbar. Maylin wirkte ganz und gar nicht wie jemand, der Böses im Schilde führte. Sie hatte bestimmt einfach Mitleid mit ihm gehabt, und was tat er? Er vergalt es ihr mit Argwohn und Zweifeln an ihrer Integrität.
Die Frau war währenddessen in den Hintergrund des Zelts geschlurft und kramte in einer Reihe von Plastiktüten. Wenig später kam sie mit zwei dampfenden Schalen, einem Stück Brot, einem Daumenbreit Käse und einem Apfel zurück. Sowohl das Brot als auch der Käse waren ziemlich hart, und der Apfel wies einige braune Druckstellen auf. Für Iratio war es trotzdem die köstlichste Mahlzeit, die er seit Langem zu sich genommen hatte. Wenn er das Brot zuvor in die scharfe Suppe tunkte, konnte er es wunderbar kauen.
Maylin begnügte sich mit ihrer Schale, an der sie ab und an nippte und sah ihm ansonsten beim Essen zu. Ihr freundliches Lächeln wärmte Iratio dabei mehr als der bullernde Heizofen in seinem Rücken.
Als er Maylin drei Tage später fragte, ob er bei ihr bleiben könne, sah sie ihn nur traurig an, und er wusste sofort, dass sie ihn nicht haben wollte. Obwohl er solcherlei Ablehnung gewohnt war, versetzte es ihm dennoch wie jedes Mal einen Stich ins Herz. Es dauerte nicht lange, bis die Enttäuschung dem Zorn wich. Iratio hatte früh gelernt, dass Zorn eine gute und logische Reaktion auf die zahlreichen Wunden war, die das Leben schlug, weil Zorn nicht nur den Schmerz betäubte, sondern zusätzlich die Gedanken in eine andere Richtung lenkte.
»Iratio ...« Maylin kam auf ihn zu und wollte ihn an sich ziehen, doch er entwand sich ihrem Griff. »Iratio«, sagte sie erneut. »Wenn es allein nach mir ginge, würde ich dich gern bei mir behalten. Aber sieh mich an. Ich bin alt. Ich kann mich nicht um dich kümmern.«
»Das musst du auch nicht«, stieß der Junge trotzig hervor. »Das hat auch bisher niemand getan. Ich dachte nur, dass du ... dass du ... anders bist.«
Maylin seufzte. Wahrscheinlich tat er ihr unrecht, aber das war ihm in diesem Moment egal. Die Wut fühlte sich richtig an, also hieß er sie willkommen und ließ sich auf sie ein.
»Man sucht sicher schon nach dir«, sprach die alte Frau weiter. »Es gibt immer wieder Kontrollen im Lager. Und gerade bei Kindern schauen die Oficiales, die Ordnungshüter, besonders genau hin. Ecuador ist erst vor ein paar Jahren Mitglied der Terranischen Union geworden, und die Regierung bemüht sich intensiv darum, die damit verbundenen humanitären Auflagen zu erfüllen.«
Iratio verstand nicht in vollem Umfang, wovon Maylin da redete. Aus dem Trivid wusste er, dass die Terranische Union eine Art Zusammenschluss von Ländern war, der von einem Mann namens Perry Rhodan angeführt wurde. Sein Vater bezeichnete ihn als pendejo sin cabeza, aber das hatte nicht viel zu sagen. Vater beleidigte praktisch jeden, der ihm noch keinen Drink spendiert hatte.
Ein paarmal hatte Iratio den sogenannten Protektor im heimischen Holowürfel gesehen. Ein schlanker Mann mit graublauen Augen und dunkelblonden Haaren, dessen Gesicht zu leuchten schien, wenn er von einer aufregenden und großartigen Zukunft sprach, die auf die Menschen wartete. Auf alle Menschen. Iratio hatte das gefallen; sein Vater dagegen hatte nur hämisch gelacht und eine neue Flasche Aguardiente entkorkt.
»Das verstehst du doch, oder?«, riss ihn Maylin aus seinen Gedanken.
Er sah sie an – immer noch wütend und verletzt. »Soll ich gleich verschwinden?«, fragte er laut. »Ich will dich auf keinen Fall von wichtigen Dingen abhalten. Schließlich hast du schon genug Zeit und Mühe in mich investiert ...«
Während des Sprechens war seine Stimme immer leiser geworden, und die letzten Wörter hatte er nur noch unter Tränen herausgebracht.
Hör auf zu flennen, giftete Vater in seinem Kopf. Was bist du? Ein Mann oder ein verdammter Schwächling?
Diesmal ließ Iratio Hondro zu, dass ihn Maylin in die Arme nahm und an sich drückte. Es fühlte sich so unglaublich gut an. Für einen winzigen Augenblick konnte man alles andere um sich herum vergessen. Aber er wusste auch, dass die harte Realität danach nur umso brutaler zurückkehren und ihren Preis für jeden Moment des Glücks und der Geborgenheit einfordern würde.
»Ist schon gut, mein Kleiner«, drang die Stimme der alten Frau an seine Ohren und zerriss seinen Hass und seine Wut in winzige Fetzen. »Natürlich bleibst du erst mal bei mir. Um alles andere kümmern wir uns später.«