Читать книгу Perry Rhodan Neo 244: Iratio - Rüdiger Schäfer - Страница 8
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Quito
In den folgenden Monaten war Iratio Hondro zum ersten Mal in seinem Leben wirklich glücklich. Der Alltag der Desamparados war alles andere als einfach, aber die Frauen und Männer im Lager hatten ihn schnell in ihre Herzen geschlossen und kümmerten sich geradezu rührend um ihn.
Iratio machte sich nützlich, so gut er konnte. Trotz seiner erst sieben Jahre konnte er bereits ausgezeichnet schreiben und lesen, eine Qualifikation, über die die meisten Obdachlosen in La Floresta nicht oder nur eingeschränkt verfügten. Also half er seinen neuen Freunden beim Ausfüllen der Formulare, wenn sie ihre staatlichen Beihilfen abholten, oder las ihnen abends am Feuer aus den Zeitungen vor.
Seinen Vater hatte es nie geschert, was Iratio tagsüber trieb. Am liebsten war es Vater gewesen, wenn er gar nicht daran erinnert wurde, dass er überhaupt einen Sohn hatte. Erst als Iratio älter wurde, begriff er den Grund dafür, nämlich dass er Vater jedes Mal an dessen verstorbene Frau erinnerte, einen Verlust, den dieser nie verkraftet hatte. Seine zweite Ehe war er deshalb mit einem Partner eingegangen, der ihn zwar langsam zerstörte, dafür aber jederzeit verfügbar war: dem Alkohol.
Vater war es von Anfang an egal gewesen, ob Iratio zur Schule ging oder sich lieber – wie so viele andere Kinder des Viertels – auf der Straße herumtrieb. Für ihn war lediglich wichtig, dass er seine Ruhe hatte und sich den wirklich bedeutsamen Aufgaben widmen konnte. Dem Trinken, dem Selbstmitleid und den damit verbundenen Wutausbrüchen, bei denen Iratio jedes Mal als Blitzableiter herhalten musste.
Iratio war gern zur Schule gegangen. Denjenigen, die ihn deshalb verspotteten, hatte er ein- oder zweimal die Nase blutig geschlagen; dann hatten sie es kapiert und ihn in Ruhe gelassen. Dass er dafür hatte nachsitzen müssen, hatte er eher als Belohnung denn als Strafe empfunden. Lesen lernte er schneller als alle anderen. Er lieh sich eins der Positronikpads aus der Schulbibliothek aus, und für ein paar Wochen hatte er sich im siebten Himmel geglaubt, denn das Gerät eröffnete ihm den Zugang in ein Universum aus nahezu grenzenlosem Wissen und ungezählten Geschichten. Dann entdeckte Vater das Gerät und verkaufte es, um seine Trunksucht zu finanzieren.
Der Schule gegenüber hatte Iratio behauptet, er habe das Pad verloren, aber man glaubte ihm nicht. Da er die Wahrheit nicht sagen konnte, weil Vater ihn sonst totgeprügelt hätte, durfte er fortan nur noch im Schulgebäude lesen. Das war immerhin besser als nichts. Trotzdem hasste er seinen Vater für das, was er getan hatte, auch wenn den das nicht im Mindesten kümmerte.
Maylin war eine der wenigen im Lager, die gut lesen konnten. Zwischen den Zeitungsstapeln in ihrem Zelt entdeckte Iratio jede Menge Bücher. Altmodische, teilweise noch auf Papier gedruckte Exemplare, deren Seiten über die Jahrzehnte gelb und fleckig geworden waren, doch für ihn waren sie ein wunderbarer Schatz. Eins davon, ein ziemlich dicker Wälzer mit festem Einband trug den Titel »Perry Rhodan – sein Weg zu den Sternen«. Ein deutscher Historiker mit dem für Iratio lustig klingenden Namen Anders Eschenbach beschrieb darin das Leben des berühmtesten Manns der Welt von seiner Geburt im Jahr 1999 über seine Begegnung mit den außerirdischen Arkoniden auf dem Mond bis zur Expedition in die ferne Galaxis Andromeda. Kaum dass Iratio das Buch beendet hatte, las er es ein zweites und danach ein drittes Mal.
Eschenbach hatte Rhodan mehrfach persönlich getroffen und interviewt. In Terrania, das alle nur die Stadt der Zukunft nannten. Schon die Bilder dieser riesigen Metropole, die mehr Menschen beherbergte als in ganz Ecuador lebten, schlugen Iratio in ihren Bann. Glänzende Türme, die bis in die Wolken hinaufwuchsen. Spiegelnde Fassaden vor einem strahlend blauen Himmel. Blühende Parks mit exotischen Pflanzen von fernen Welten. Und im Zentrum der riesige Goshunsee. Eine Oase inmitten der Wüste, bevölkert von Menschen – und Wesen von Planeten, die so weit von der Erde entfernt waren, dass sogar das Licht Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende brauchte, um sie zu erreichen.
Perry Rhodan wollte, dass jeder an diesen Wundern teilhatte. Er sprach viel von Zusammenarbeit und Toleranz. Und davon, dass die Bewohner der Erde begreifen mussten, dass eine lebenswerte Zukunft für alle nur dann möglich sei, wenn sie ihren Horizont erweiterten. Wenn sie überholte Denkmuster und alte Überzeugungen über Bord warfen, Mauern und Zäune niederrissen sowie jeden einzelnen Menschen als das sahen, was er war: ein faszinierendes und unersetzliches Puzzleteil, ohne das das Universum nicht vollständig war.
Iratio fand diesen Gedanken großartig – und den Mann bewundernswert, der ihn in seinen Kopf gepflanzt hatte. Von da an träumte Iratio davon, eines Tages nach Terrania reisen und Perry Rhodan begegnen zu können. Dann würde er ihn beim Wort nehmen. Dann würde er zu einem Teil jener Zukunft werden, für die dieser Mann kämpfte. Er würde an seiner Seite stehen und ihm dabei helfen, die Menschheit in ein neues Zeitalter zu führen.
Wenige Tage später holte ihn die Realität ein, und seine Träume zerplatzten wie Seifenblasen am Unabhängigkeitstag.
Die lauten Schreie weckten ihn mitten in der Nacht. Durch den schmalen Spalt des Zeltausgangs drang zuckender Lichtschein ins Innere. Kaum hatte er sich aufgesetzt, war auch schon Maylin neben ihm.
»Schnell, mein Kleiner«, flüsterte sie. »Zieh dich an. Wir müssen verschwinden.«
»Was ist denn los?«, fragte Iratio, während er verschlafen nach seiner Hose langte.
»Oficiales«, antwortete die alte Frau. »Sie räumen das Lager. La manchilla, den Schandfleck. Beeil dich!«
Der Lärm draußen wurde intensiver. Jemand brüllte Befehle. Dazwischen erklangen immer wieder die ängstlichen Rufe der Desamparados. Maylin hatte Iratio erklärt, dass die Obdachlosen und ihre Zelte nur geduldet waren. Hin und wieder kamen ein paar Polizisten vorbei und sahen sich um. Bisher waren sie danach immer wieder verschwunden.
»Vielleicht wollen sie uns nur helfen«, stieß der Junge hervor, während ihm Maylin hastig die Jacke überzog. Seine Garderobe war – ebenso wie die der Frau – bunt zusammengewürfelt und stammte aus den Kleidersäcken der Wohlfahrt. »Perry Rhodan hat gesagt ...«
»Nicht jetzt«, unterbrach ihn Maylin ungewohnt scharf. »Das hier passiert nicht in einem deiner Bücher, sondern in der Wirklichkeit.«
Iratio spürte, wie sich die Wut in ihm regte, die so lange verschwunden gewesen war. Sie war nie wirklich weg gewesen. Sie hatte sich nur vorübergehend zurückgezogen. Glaubte Maylin vielleicht, er wäre dumm? Dachte sie, dass er nicht zwischen Realität und Fiktion unterscheiden konnte?
»Los, los!«, trieb sie ihn an. »Wir gehen hinten raus.«
Hinten raus hieß, dass sie das Zelt durch einen Schlitz in der Rückwand verlassen würden, eine Art Geheimausgang. Er war durch einen Chuquiragastrauch vor Sicht geschützt und genau für eine Situation wie diese angelegt worden.
Iratio schob sich zwischen zwei hohen Zeitungsstapeln hindurch und ließ sich auf die Knie fallen. Außerhalb des Zelts empfing ihn ein empfindlich kalter Wind. In Quito war es das ganze Jahr über nicht besonders warm; meistens herrschten Temperaturen von knapp unter zwanzig Grad Celsius. Nachts fielen sie allerdings noch einmal um etwa die Hälfte.
Zitternd und auf allen vieren kämpfte er sich durch den Busch. Hinter ihm schob und drückte Maylin, der es offenbar nicht schnell genug ging.
Dios mío, dachte er genervt. Ich mache, so schnell ich kann! Fast hätte er ausgekeilt und der drängelnden Frau einen Tritt versetzt, aber er beherrschte sich.
Als er sich vom Boden hochrappelte und sich umsah, wurde ihm das Ausmaß der Katastrophe zum ersten Mal voll bewusst. Die Oficiales meinten es offenbar ernst, denn sie waren mit mehreren Mannschaftswagen angerückt. Die Polizisten waren in graue Uniformen mit Körperpanzern und Helmen gekleidet. Ihre schwarzen Stiefel glänzten im Schein einiger brennender Zelte. Überall hasteten Desamparados umher, Männer und Frauen. Kopflos, schreiend, weinend. Kinder gab es außer ihm keine im Lager. Wie Maylin von Anfang an gesagt hatte, schaute die Regierung bei Straßenkindern seit dem Unionsbeitritt besonders genau hin. Wo man ihrer habhaft werden konnte, griff man sie auf und steckte sie in Waisenhäuser oder sogenannte Instituciónes Educativa, ein anderes Wort für Besserungsanstalten.
Ob eine Gemeinschaft wirklich funktioniert, hörte er Perry Rhodan in seinen Gedanken sagen, zeigt sich stets daran, wie sie mit ihren schwächsten Mitgliedern umgeht.
»He!«, hörte Iratio jemanden in unmittelbarer Nähe rufen. »Da sind noch zwei!«
Erschrocken fuhr er herum.
Der Oficial kam mit raumgreifenden Schritten auf Iratio zu. Die behandschuhten Finger hatte er um seinen Batuta gelegt, den gut unterarmlangen Schlagstock, den alle Ordnungskräfte in Ecuadors Hauptstadt trugen. Am Gürtel klirrten diverse Ausrüstungsgegenstände, darunter zwei Paar Handschellen. An der rechten Hüfte war ein Halfter mit einer Pistole befestigt, auf der anderen Seite ragte der Griff eines Messers aus einer Kunststoffscheide.
Iratio wollte weglaufen, doch er war nicht schnell genug. Der Polizist erwischte ihn an der Kapuze seiner Jacke und riss ihn brutal nach hinten. Für einen Moment bekam er keine Luft mehr, drehte sich um und trat mit aller Kraft nach den Beinen des Manns. Doch der lachte nur und hielt sein Opfer mühelos auf Abstand. Hinter dem spiegelnden Helmvisier sah Iratio kurz zwei Augen blitzen.
»Lass ihn los, bicharraco!« Maylins schrille Stimme überschlug sich beinahe. Im nächsten Moment kam sie wie eine Furie über den Oficial. Der schien überrascht zu sein, wenn auch nur für eine Schrecksekunde. Dann stieß er die alte Frau mit dem freien Arm von sich weg. Maylin landete mit einem spitzen Schrei auf dem Boden, der von den Regenfällen der vergangenen Tage stark aufgeweicht war.
»Verzieh dich, vieja bruja!«, fuhr der Mann sie an. »Oder willst du, dass ich dich wegen des illegalen Beherbergens eines gesuchten Minderjährigen ins Loch stecke?«
Maylin kam stöhnend auf die Beine. Die Drohung des Polizisten kümmerte sie nicht, sie stürzte sich sofort wieder auf ihn. Ihre kleinen Hände hatte sie zu Fäusten geballt, und zwischen den faltigen Lippen waren die schadhaften Zähne gebleckt. Wenn die Situation nicht so ernst gewesen wäre, hätte Iratio gelacht.
Diesmal schlug der Oficial zu, unbarmherzig und mit aller Kraft. Entsetzt musste Iratio mit ansehen, wie die alte Frau im Gesicht getroffen wurde und erneut zu Boden ging. Das schreckliche Knacken, das dabei ertönte, erinnerte ihn an das Brechen seines Arms. Wie lange war das mittlerweile schon her? Er wusste es nicht.
Blut schoss aus Maylins Nase. Die Schirmmütze war ihr vom Kopf gerutscht, und das graue Haar hing ihr wie ein Netz aus Spinnenfäden vor den Augen. Dennoch dachte sie nicht daran, aufzugeben. Der Polizist lachte, als sie beim abermaligen Versuch, aufzustehen, wegrutschte und wieder in den Matsch fiel.
»Verschwinde endlich!«, herrschte er sie an. »Bevor ich die Geduld verliere!«
Maylin stand nun keuchend und mit in die Hüften gestemmten Armen vor dem Ordnungshüter. Noch immer kam Blut aus ihrer Nase, was ihr einen gleichzeitig furchterregenden und bemitleidenswerten Ausdruck verlieh. Für ein paar Atemzüge standen sich die beiden so unterschiedlichen Gegner gegenüber wie zwei Revolverhelden in einem der uralten Westernfilme, die sich Iratio manchmal im Trivid ansah.
Dann spuckte Maylin den Oficial an. Der daumennagelgroße Klumpen aus Speichel, Rotz und Blut landete mitten auf dem Helmvisier des Manns und rann wie in Zeitlupe daran herunter.
»Hijo de puta!«, zischte die alte Frau. Iratio hatte sie niemals zuvor so wütend gesehen.
Er wusste, was geschehen würde, noch bevor der Polizist sich bewegte, doch er konnte nichts dagegen tun. Der Mann hielt ihn nach wie vor an der Kapuze seiner Jacke fest, und alle Versuche, sich zu befreien, waren bislang erfolglos geblieben.
»Pagarás por eso!« Noch während der Oficial die hasserfüllten Worte hervorstieß, hatte er mit seinem Batuta ausgeholt und zugeschlagen.
Maylin wollte sich wegducken, doch sie war viel zu langsam. Der Stock erwischte sie zuerst am Hals und danach an der Schläfe. Als sie diesmal zu Boden fiel, war Iratio sicher, dass sie nicht mehr aufstehen würde.
»Lass sie ...«, bekam Iratio unter Schluchzen heraus. Ein dicker Kloß im Hals machte das Sprechen nahezu unmöglich. »Lass sie ... in Ruhe ...«
Doch der Oficial dachte gar nicht daran. Stattdessen versetzte er der hilf- und wehrlosen Frau mehrere Tritte mit seinen schweren, schwarzen Stiefeln. Maylin versuchte verzweifelt wegzukriechen, doch der Polizist folgte ihr und traktierte sie immer weiter. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bevor er endlich von ihr abließ. Maylin bewegte sich nicht mehr.
Iratio hing schluchzend und schniefend wie ein nasser Sack im harten Griff des Polizisten. Iratios Mund formte Maylins Namen, doch er brachte nur ein ersticktes Röcheln heraus.
»Was machst du da?«, erklang plötzlich eine weitere Stimme. Durch den Tränenschleier hindurch erkannte Iratio einen zweiten Oficial, der herangelaufen kam, seinen Kollegen an den Schultern packte und von der alten Frau wegzog. »Bist du von Sinnen, Tipo? Wenn der Líder dich sieht, kriegst du mächtig Ärger.«
Der Angesprochene grunzte unwillig und schüttelte die Hände seines Kumpans ab. »Scheiß auf die Alte«, sagte er. »Schau mal, was ich gefunden habe ...« Dabei schwenkte er Iratio wie eine Jagdtrophäe hin und her.
»Okay.« Der zweite Polizist hieb dem ersten kräftig auf den Rücken. »Dann lass uns verschwinden und das Balg wegschaffen. Hier stinkt es wie in einer Kloake.«
Lachend drehten sich die Oficiales um und schlugen die Richtung zu den Mannschaftswagen ein. Iratio schleiften sie dabei einfach hinter sich her. Als der Junge Maylin endgültig aus den Augen verlor, hatte sie sich noch immer nicht gerührt.