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4.

Quito, 2057

Iratio Hondro verbrachte den kurzen Rest der Nacht in einer winzigen Zelle. Am Morgen bekam er ein karges Frühstück und wurde von einer furchtbar dürren Frau in Uniform befragt, die sich als Señora Caparolez vorstellte. Sie war eine Mitarbeiterin des Instituto Nacional de la Niñez y la Familia und sprach mit ihm, als wäre er ein Kleinkind. Alle paar Minuten versicherte sie ihm, dass er keine Angst mehr zu haben brauche und dass nun alles gut werde.

Als Iratio schließlich aufsprang und zornig »Ich habe keine Angst, und gar nichts wird gut!« schrie, musterte sie ihn ein paar Sekunden lang mit gerunzelter Stirn, stand dann auf und ließ ihn allein zurück.

Eine halbe Stunde später war sie wieder da; diesmal mit einer Flasche Limonade und einem Schokoriegel. Sie lächelte, aber ihr Blick war kalt und emotionslos. Als sie Iratio eröffnete, dass man ihn noch am selben Tag wieder nach Hause bringen würde, wollte er es zunächst nicht glauben. Dennoch schwieg er, denn die Alternative wäre die Einweisung in eins der staatlichen Heime gewesen, und die Geschichten, die man sich über diese Orte erzählte, waren ... nun ja, alles andere als erbaulich.

In der Vergangenheit hatte er hin und wieder daran gedacht, die staatlichen Stellen um Hilfe zu bitten; vor allem dann, wenn Vater ihn mal wieder ganz besonders übel verdroschen hatte und Iratio tagelang weder sitzen noch richtig laufen konnte. Dennoch hatte er es nie getan. Für einen Außenstehenden mochte das schwer nachvollziehbar sein, aber bei seinem Vater wusste er wenigstens, woran er war. Schmerzen konnte man aushalten. Schmerzen härteten ab. Was ihn dagegen erwartete, wenn man ihn von zu Hause wegholte, war unvorhersehbar und womöglich schlimmer als das, was er kannte.

Nachdem Señora Caparolez ihm versichert hatte, in den nächsten Tagen bei ihm und seinem Vater nach dem Rechten zu sehen, fuhren ihn zwei Oficiales in einem Streifenwagen nach Guayllabamba, dem Viertel, in dem er wohnte. Als sein Vater die Tür des schäbigen Apartmenthauses öffnete, hätte Iratio ihn beinahe nicht wiedererkannt. Er trug nicht nur weitgehend saubere Kleidung und frisch geputzte Schuhe, sondern hatte sich sogar rasiert und die schütteren Haare gekämmt. Die Verletzungen im Gesicht waren erstaunlicherweise kaum noch zu sehen. Die beiden Polizisten ermahnten ihn mit strengem Blick, in Zukunft besser auf seinen Sohn aufzupassen. Vater strich Iratio daraufhin unbeholfen über den Kopf und legte die rechte Hand schwer auf seine Schulter, während er brav nickte. Es kostete Iratio erhebliche Mühe, sich nicht sofort loszureißen und wieder wegzulaufen.

Sobald die Oficiales verschwunden waren, ging Vater wortlos ins Haus. Iratio stand minutenlang unschlüssig auf der Stelle. Dann folgte er ihm. Es hatte keinen Sinn, das Unvermeidliche unnötig hinauszuzögern. Besser, er brachte es sofort hinter sich und holte sich seine Tracht Prügel so schnell wie möglich ab.

Doch als er das Apartment betrat, hockte der bullige Mann nur auf seinem Sessel und starrte blicklos auf die laufende Projektion des Trividwürfels, der irgendeine Dokumentation über die Artenvielfalt auf den Galapagosinseln zeigte. Dort unterhielt die Terranische Union mit Genehmigung der ecuadorianischen Regierung seit dem Jahr 2055 eine große Forschungsstation. Mit deren Hilfe war es gelungen, einen Großteil der angerichteten Umweltschäden zu beheben und eine Reihe von ausgestorbenen Tier- und Pflanzenarten dank moderner Gentechnik neu anzusiedeln.

Iratio wartete darauf, dass Vater etwas tat oder zu ihm sprach, doch der saß einfach nur wie eingefroren da und schwieg. Er wirkte beinahe apathisch; so hatte Iratio ihn noch nie zuvor erlebt. Iratio zögerte einen Moment. Dann gab er sich einen Ruck, ging ins Wohnzimmer und setzte sich Vater schräg gegenüber auf die Couch. Iratio überlegte, ob er den Anfang machen und ein Gespräch beginnen sollte, doch ihm fiel nichts ein, was er sagen konnte. Jedenfalls nichts, was ihm auch nur halbwegs passend erschienen wäre.

Er hätte nicht zu sagen vermocht, wie viel Zeit vergangen war, als sich Vater schließlich doch noch bewegte. Er drehte den Kopf und schaute ihn an. Nicht wütend. Nicht mal tadelnd. Lediglich ... verwirrt. So als wüsste er nicht, wie er mit der Situation umgehen sollte.

Dann seufzte er. »Sie haben gesagt, dass sie mir die Rente kürzen, wenn du so etwas noch mal machst.«

Iratio strich sich unwillkürlich mit dem Daumen über die Wange. Die Narbe, die die Messerattacke seines Vaters dort hinterlassen hatte, war deutlich zu spüren. Weder die Polizisten noch die Dame von der Behörde hatten ihn gefragt, wie er sich diese Verletzung zugezogen hatte. Wenigstens war der gebrochene Arm gut verheilt. Zu Beginn hatte es noch wehgetan, wenn er ihn beugte, doch irgendwann waren die Schmerzen verschwunden gewesen. Maylin hatte ihn gut versorgt.

Der Gedanke an die alte Frau versetzte ihm einen Stich ins Herz. Er hatte die Polizisten immer wieder um Auskunft gebeten, doch sie hatten ihm nicht geantwortet. Señora Caparolez hatte ihm schließlich verraten, dass die meisten Desamparados aus La Floresta geflohen waren. Ein paar hatte man mitgenommen. Man würde sie irgendwann wieder freilassen, und sie würden sich dann einen neuen Platz suchen, an dem sie ihre Zelte aufbauen konnten. So war es nun einmal, und außerdem – so die dürre Frau – wollten es die Obdachlosen auch gar nicht anders.

»Also was ist?«, fragte Vater brummig. Iratio sah ihn verständnislos an. »Haust du wieder ab?«, präzisierte der Mann.

»Nein«, gab Iratio leise zurück.

»Gut.« Vater nickte und leckte sich die trockenen Lippen. »Sehr gut.« Dann stand er auf und holte sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank.

In den folgenden Tagen gab sich Vater tatsächlich so etwas Ähnliches wie Mühe. Schon am Abend seiner Heimkehr war Iratio aufgefallen, dass die meisten Flaschen vom Wohnzimmertisch und aus der Küche verschwunden waren. Auch sonst wirkte das Apartment aufgeräumt, beinahe sauber. Nachdem er weggelaufen war, waren wahrscheinlich Leute von der Behörde da gewesen und hatten Vater klargemacht, dass zu einer ordnungsgemäßen Kindeserziehung auch ein passendes Umfeld gehörte. Und bevor er seine Rente – und damit den Nachschub an Schnaps – riskierte, hatte er wohl lieber Ordnung geschaffen. Zumindest vorübergehend, denn nachdem auch Señora Caparolez kurze Zeit später ihren versprochenen Besuch absolviert hatte, kehrten schnell wieder gewohnte Verhältnisse ein.

Falls Vater tatsächlich gute Vorsätze gefasst hatte, waren sie alsbald wieder vergessen. Iratio hatte nichts anderes erwartet. Er verbrachte wie üblich den Großteil des Tages in der Schule und versuchte danach, seinem Vater so gut wie möglich aus dem Weg zu gehen. Da das naturgemäß nicht immer gelang – vor allem nicht an den Wochenenden –, war es bis zur ersten Konfrontation nur eine Frage der Zeit. Der Anlass war ebenso nichtig wie all die vielen Male zuvor.

Am Abend lag Iratio dann wie immer mit ein paar neuen blauen Flecken am Körper und einem schmerzenden Hinterteil im Bett. Immerhin hatte Vater nur die flache Hand und nicht die Fäuste benutzt. Man musste auch für die kleinen Dinge im Leben dankbar sein. Aber vermutlich war das Kalkül gewesen. Sichtbare Spuren von Kindesmisshandlung bargen das Risiko, dass jemand sie irgendwann bemerkte und womöglich an die zuständigen Stellen meldete.

In den vergangenen Tagen hatte Iratio in der Bibliothek gezielt nach Büchern über Perry Rhodan gesucht, von denen es überraschend viele gab. Ein paar der Geschichten, die man sich über den Protektor der Terranischen Union erzählte, kamen Iratio dennoch ziemlich phantastisch vor. So trug Rhodan angeblich ein eiförmiges Gerät namens Zellaktivator, das ihn relativ unsterblich machte. Es verhinderte, dass er älter wurde – und wenn man sich den inzwischen bald sechzigjährigen Mann bei seinen Auftritten im Trivid betrachtete, hatte er entweder einen begnadeten Maskenbildner an seiner Seite oder das mit dem Zellaktivator stimmte tatsächlich.

Iratio hatte sich nie besonders für Politik interessiert. In der Schule hatte er allerdings gelernt, dass Ecuador von der Asamblea Nacional regiert wurde. Dieser aus rund hundert Abgeordneten bestehenden Versammlung stand ein Präsident vor, der Mauro de la Cruz hieß und im Palacio de Carondelet residierte. Das imposante Gebäude lag direkt am Platz der Republik im kolonialen Zentrum von Quito. Iratio hatte es einmal während eines Schulausflugs gesehen und war ziemlich beeindruckt gewesen.

Allerdings war das die Welt der Erwachsenen. Er hatte ein paarmal zugehört, wenn im Trivid eine Übertragung aus dem Palacio Legislativo de Ecuador gesendet wurde. Dort redeten die Leute dann stundenlang über Dinge, die Iratio nicht verstand.

Seinen Vater brauchte er zu solchen Themen gar nicht erst zu befragen, denn der empfand es schon als Zumutung, alle fünf Jahre zur Wahl gehen zu müssen. In Ecuador – auch das hatten sie in der Schule durchgenommen – herrschte Wahlpflicht. Wer sich dieser entzog, musste eine Geldstrafe zahlen.

Früher hatte Iratio sich über solche Dinge nie Gedanken gemacht. Seit er Perry Rhodan kannte und damit begonnen hatte, alles zu verschlingen, was er über ihn finden konnte, war das anders geworden. In einer Sammlung berühmter Reden, die der Protektor vor dem Unionsrat und diversen Länderparlamenten gehalten hatte, hatte Iratio zahllose Stellen markiert und sich in ein Notizbuch geschrieben, darunter auch eine Passage über politische Wahlen:

»Wählen zu dürfen, ist ein Privileg, für das viele Menschen gekämpft und ihr Leben riskiert oder sogar geopfert haben. Seine Stimme in freien, gleichen und geheimen Wahlen abzugeben, heißt nicht nur, diese Menschen zu ehren und sich bei ihnen für ihren großartigen Kampf zu bedanken, sondern auch Verantwortung für das eigene Leben und das Wohl der Gemeinschaft zu übernehmen. Mein Vater hat einmal zu mir gesagt, dass Wahlrecht immer auch Wahlpflicht bedeutet. Und der schlimmste Weg, den man wählen kann, ist immer noch der, keinen zu wählen.«

Iratio bekam beim Lesen solcher Worte oft eine Gänsehaut. Es gab eine Reihe von Leuten, die Perry Rhodan nicht besonders mochten oder ihm seine lauteren Motive absprachen. Aber es gab niemanden, der nicht zugab, dass der Protektor ein begnadeter Redner war. Die seltenen Gelegenheiten, bei denen Iratio den Mann im Trivid verfolgen konnte – Vater schaltete bei Nachrichten, politischen Debatten oder Interviews immer schnell um und sah sich lieber alberne Spielshows oder Fußballübertragungen an –, blieben Iratio meistens für Wochen in Erinnerung. Vor allem, wenn Perry Rhodan seine Vision einer Menschheit darlegte, die nicht in Brasilien, Chile oder Ecuador, sondern auf dem Planeten Erde lebte, loderte in Rhodans Blick ein leidenschaftliches Feuer, und alles an und in ihm strahlte Zuversicht und Überzeugungskraft aus.

Irgendwann war Iratio klar, was er zu tun hatte. Daheim konnte ihm niemand helfen. Daheim interessierte sich niemand für ihn. Doch in Terrania würde das anders sein. Dort kümmerten sich Perry Rhodan und die Terranische Union um die Menschen. Also musste er dorthin. Die Frage war nur: Wie? Ohne fremde Hilfe würde Iratio Hondro niemals den langen Weg um den halben Erdball herum zurücklegen können – ganz abgesehen davon, dass eine solche Reise wahrscheinlich eine Menge Geld kostete.

Finde einen Weg, befahl er sich. Perry Rhodan ist zweieinhalb Millionen Lichtjahre nach Andromeda geflogen. Da wirst du es doch wohl bis nach Terrania schaffen ... Aber das war natürlich leichter gedacht als getan.

Perry Rhodan Neo 244: Iratio

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