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DIONYSOS IN WEIMAR

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Beuys’ Jugend fällt in die Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs. 1933 ist er zwölf Jahre alt, tritt wie viele andere der Hitlerjugend bei und wird später Soldat. Kritiker warfen ihm immer wieder vor, zu beschönigend über diese dunkle Zeit und das Militär gesprochen zu haben oder durch die NS-Propaganda mit nordischer Mythologie »infiziert« worden zu sein. Aber Beuys handelte wohl nicht anders als viele seiner Altersgenossen, und es gibt keinen Beleg dafür, dass er den Germanenkult der Nazis übernommen hat. Die wenigen Male, wo Elemente aus der »Edda« in seinem Werk auftauchen, zeichnen sich eher durch Humor aus (»Brünhilde in der Küche«, »Thor und Loki« als Hammer und Zange) und haben nie den martialischen Charakter, den der NS-Staat an nordischen Helden und Mythen schätzte.

Auch das frühe Gedicht »Nordischer Frühling«, dessen Titel vielleicht auf den ersten Blick »völkisch« anmutet, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als etwas ganz anderes. Im Mai 1942 ist Beuys als Soldat in Erfurt stationiert und nutzt ein paar freie Tage zu einem Besuch im nahen Weimar. Dort besucht er das Nietzsche-Archiv, das Goethe- und das Schillerhaus. Anschließend verweilt er im Park des Schlosses Belvedere und genießt den Frühling, den er in einem Gedicht besingt:

»O Frühling

Deine tausend Kräfte strömen in mich hinein

wenn ich durch den Wald gehe

wie Baum an Baum [hier] das frühe Licht empfangen

Durch das Filigran der Kronen fällt der rote

Schimmer auf die grünen Matten[.]

Drüben fliesst der Bach[.] Silberhell klingt es

wenn die kleinen Wellen lieblich über die bunten

Kiesel plätschern[.] Schon über die hoch hervor-

ragenden Steine zieht sich neujähriges Moos.

Und gleich neben dem Rinnsal das kräftige

Drängen in den strebenden Pflanzen. Alles

strebt gegen die herrlichen frühen Sonnenfenster

über mir. Dort kommt es rot und drüben

opalenes Blau. Und jetzt zittert es schimmernd

im Gras zwischen den Steinen.

Ostara wandelt über allen Matten. Eine

ungeheuere Spannung wird wachgerufen zwischen

Fauna u[.] Flora. Der Mensch fühlt das[s]

die Pflanzen und Tiere seine Verwandten sind.

Dieses – unend[l]iche Kraft dies dionysische Streben

u. Überquellen schafft der Mensch durch seine

geistige Schau der Realitäten in der Natur zum

Idealbild u. zum also geleuterten Kunstwerk

Zelle u. biol[o]gische Verwandlung. Die[s] pflanzliche

Wuchern und Überwuchern ohne Grenzen aus immer

neuen Quellen aus einer überschwenglichen, biologischen

Schöpfungskraft ist das was die Griechen mit dionysisch

bezeichnet haben. Der Mensch kann wandelt durch sein

Genie und seinen faustischen Willen das dionysische ins

apollinische

Apoll u. Dionysos

nordische Myt[h]ologie

Mai hinter Sch[l]oss Belvedere

(Weimar).«11

Für viele unbekannt ist der Name »Ostara«, der in der Mitte des Gedichts auftaucht. So wurde von Jacob Grimm in seinem Buch Deutsche Mythologie eine vermeintliche germanische Frühlingsgöttin bezeichnet, die die heutige Forschung als Erfindung des 19. Jahrhunderts betrachtet. Während des Dritten Reichs wurde krampfhaft nach allen möglichen Spuren germanischer Überlieferungen gesucht und die »Ostara« natürlich für echt gehalten. Bereits der österreichische Esoteriker Jörg Lanz von Liebenfels (1874–1954) benannte nach dieser Figur seine rassistischen Pamphlete, mit denen er die Welt vor der Überfremdung durch »Sodoms-Äfflinge« und »Tier- und Affenmenschen« schützen wollte.12 Heute geistert die »Ostara« wieder – eher harmlos – durch neuheidnische Szenen und dient als Schutzpatronin eines Naturkultes, mit der die im Frühling erstarkende Sonne gefeiert wird.

Nichts deutet daraufhin, dass Beuys diesen Namen in Bezug auf irgendeine Rassenmythologie verwendete. Er mag ihm von der Schule her vertraut gewesen sein und wurde von ihm als Personifizierung der Regenerationskraft der Natur in das Gedicht eingebaut. Es geht darin auch nicht um die Verherrlichung des Germanischen, eher stehen die von Nietzsche übernommenen griechischen Götter Dionysos und Apollo im Vordergrund.13 Der Text ist eigentlich Beuys’ erste Kunsttheorie. Er beginnt mit genauen Beschreibungen der »Kräfte«, die der 21-Jährige in der wieder erwachenden Natur spürt: der Schimmer des Lichts, der Klang des vom Eis befreiten Baches, das »neujährige Moos«, das kräftige Drängen in den Pflanzen. Beuys ist überwältigt von der kreativen Kraft der Natur, die sich erneuert und vielfältige Formen hervorbringt.

Auch mir erging es so. Als ich im Frühsommer 2014 für die Dreharbeiten zu meinem Film den Park des Schlosses Belvedere besuchte, war ein ebenso sonnenfunkelnder Tag. Nur wenige Menschen waren unterwegs, und aus dem Fenster eines Schlosszimmers war eine Sopranstimme zu hören. Ich fühlte mich wie in eine andere Zeit versetzt. Lange suchte ich nach dem im Gedicht benannten »silberhellen Bach« und fand ihn nicht. Freundliche Arbeiter, die eines der Gebäude restaurierten, erklärten mir in breitem Sächsisch den Weg. Als ich den Bach endlich – schmal und unscheinbar – durch das Gras rieseln hörte, fand ich mich in Beuys’ Text wieder. Hohe Pflanzenhalme säumten das Ufer des Bachs und strebten kraftvoll zu den »Sonnenfenstern« über mir. Die Üppigkeit der blühenden Natur hatte fast etwas Öbszönes, und ich konnte fühlen, was Beuys in Anlehnung an Nietzsche mit dem »dionysischen Überquellen« meint.

Nietzsche benennt in seiner Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik mit Dionysos, dem Gott des Weines und des Rausches, den »künstlerischen Jubel« der Natur, der jenseits von Logik und Kausalität angesiedelt ist und der in der Antike mit besonderen Festen gefeiert wurde.14 Beuys spürt hier das eigentliche Mysterium der Evolution, in dem sich immer wieder neue Ganzheiten bilden, die mehr sind als die Summe ihrer Teile. Die Natur ist verschwenderisch. Sie schafft im Übermaß, ist – wie bereits Goethe und Haeckel wussten – eine »Künstlerin«, die im Rausch der Formen und Farben schwelgt. Blumen müssen nicht besonders schön sein, um von Insekten bestäubt zu werden. Warum gibt es dann so viel Schönheit unter ihnen? Warum so viel Spiel in der Natur, wo doch das Zweckmäßige im streng darwinistischen Sinne ökonomischer wäre? Warum so viel Überschuss, Übertreibung, Vielfalt, Variantenreichtum? Beuys spricht in seinem Gedicht vom »Wuchern und Überwuchern ohne Grenzen aus immer neuen Quellen«, wobei deutlich wird, dass diese Quellen für ihn ein Geheimnis bleiben. Er spürt, dass Ähnliches im schöpferischen Akt des Künstlers stattfindet, und fühlt sich angeschlossen an diese evolutionäre Kraft, die älter ist als er und weit über ihn hinausragt.

Wenn man will, kann man dieses Erlebnis im Weimarer Schlosspark eine mystische Erfahrung nennen, die aber mehr ist als bloß passive Hingabe. Denn der Künstler geht auch rational und mit »faustischer« Willenskraft vor. Er ist nicht nur Medium, sondern auch Formgeber, und damit kommen Apollo und Faust ins Spiel. Apollo, der für Nietzsche »maßvolle Begrenzung« und »weisheitsvolle Ruhe«15 verkörpert, ist die eine Seite des formgebenden Prozesses und der »nordische« Faust (daher vielleicht der Gedichttitel) die andere. Faust ist der suchende, immer auch zerrissene Mensch, der das Ganzheitsgefühl einer Sinngebung nicht von Natur aus besitzt, sondern ständig neu erwerben muss. Dass so eine Konstellation einen jungen, ebenfalls suchenden Menschen anspricht, ist nicht verwunderlich und könnte heutzutage ebenso geschehen. Betört durch den Rausch des Frühlings, unterstützt von Nietzsche und Goethe, wird sich Beuys das erste Mal seiner eigenen Mission bewusst: Künstler in einem umfassenden Sinne zu werden, angeschlossen an die plastischen Kräfte der Natur, die er aber weiter transformieren muss, bis aus ihnen am Ende vielleicht auch eine »Soziale Plastik« werden kann.

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