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ERBE UND SOHN LOHENGRINS

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Nicht nur die Natur hilft dem jungen Beuys, Einsamkeit, Entfremdung von der Erwachsenenwelt und seelische Verletzungen zu heilen, sondern auch mythologische Figuren. Sein Werk ist voll von ihnen: Ostara, Lohengrin, Parzival, König Arthur, Leda, Diana, Apollo, Dionysos, Thor, Loki, Nornen, keltische Götter wie Penninus und der gehörnte Cernunnos. All dies sind mythische Figuren, die als kraftvolle Sinnbilder für seelische Erfahrungen dienen, die sich anders nicht umschreiben lassen. Es sind keine Unwahrheiten oder Verschleierungen, mit denen der Begriff »Mythos« heute im allgemeinen Sprachgebrauch gerne assoziiert wird, sondern präzise Beschreibungen in einer nicht begrifflichen Sprache. Wer sie nicht lesen kann, neigt dazu, sie als dunkel und irrational abzuwerten. Beuys konnte sie lesen und spielte gerne mit diesen Bildern. In einem Multiple von 1974 mit dem Titel »Testament« bezeichnete er sich als einen Sohn und Erben Lohengrins. Auf dem in englischer Sprache gedruckten Testamentsformular heißt es: »This is the last Will and Testament of me: Joseph Beuys, of Lohengrin, in the County of: Grafschaft Cleve.«7

Die Herzöge von Kleve, so Beuys, hätten einen regelrechten Schwanenkult betrieben, auf ihrer Burg thronte ein Schwan, den er als Kind immer vor Augen hatte. Die damit verknüpfte Sage mag die Fantasie des Heranwachsenden in Schwingungen versetzt haben. Sie erzählt vom Mut eines geheimnisvollen Ritters, der – wie Lohengrin in der gleichnamigen Wagneroper – einer jungen, unverheirateten Burgherrin erschienen sei, um sie gegen ihre Feinde zu verteidigen. Die beiden heirateten, hatten Kinder, aber der Ritter verbot seiner Gemahlin, ihn jemals nach seinem Namen und seiner Herkunft zu fragen. Doch die Kinder bedrängten die Mutter, und als diese dem Ritter schließlich doch die verbotenen Fragen stellte, sagte er, dass er Elias heiße und aus einem fernen Gralsreich komme. Im selben Moment tauchte ein Schwan auf und verschwand mit ihm auf Nimmerwiedersehen. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, wie so eine Geschichte die Imagination eines Heranwachsenden – und später die eines Künstlers – beflügelt. Ein sanfter Held, der nicht auf einem Pferd, sondern auf einem Schwan reitet, kommt aus einem mysteriösen Land, das mit Idealen und geistiger Suche zu tun hat, aber nicht näher ausgemalt wird. Er tut Gutes, ohne sich selbst allzu sehr in den Mittelpunkt zu stellen. Am Ende verschwindet er, kein Ehemann aus Fleisch und Blut, sondern ein Bote aus einer anderen Welt, aus der gelegentlich Signale auf die Erde gesandt werden. Beuys sprach nicht viel über die Gralswelt, aber Hinweise darauf tauchen in seinem Werk immer wieder auf: Brücken zu dem, was die keltische Mythologie die »Anderswelt« nennt, die Beuys weniger als Esoteriker denn als Künstler zu erkunden versuchte.

Auch andere starke Bilder inspirieren den jungen Beuys:

»Wenn Bezeichnungen wie ›Hirschführer‹ oder ›Dschingis Khans Grab‹ auftauchen, so sind dies Dinge, die man grundsätzlich psychologisch deuten kann: primäre Erlebnisse, zum Teil Träume, die man als Kind wirklich erlebt; traumhafte oder außerordentlich subjektive Vorstellungen, die sich später im Laufe des Werdegangs als objektiv zusammenhängend herausstellen. Als Kind erfährt man die Dinge ziemlich bildhaft, wenigstens mir ging es so, indem ich das, was ich irgendwie in Erfahrung gebracht hatte, nachspielte. Ich kann mich noch gut erinnern, daß ich mich jahrelang verhalten habe wie ein Hirte, das heißt, ich bin herumgelaufen mit einem Stab, einer Art ›Eurasienstab‹, wie er später auftaucht, und hatte immer eine imaginäre Herde um mich versammelt. (…) In diesem Bild habe ich mich sehr wohlgefühlt, wobei ich Erlebnisse, die ich hatte, sofort zu verarbeiten suchte. Ich fing an, mich für Pflanzen, für Botanik zu interessieren, und kannte, da ich es in vielen Heften zu Papier brachte, fast alles, was es auf diesem Gebiet überhaupt gab. Mit anderen Kindern wurden regelrechte Exkursionen veranstaltet, wir legten Sammlungen an und machten diese öffentlich zugänglich. Natürlich hatte das alles noch Spielcharakter. So wurden aus alten Tüchern, Lumpen und Resten, die wir uns erbettelt hatten, große Zeltbauten ausgeführt und darin jene Dinge gezeigt, die wir gesammelt hatten (…) Es fanden auch umfangreiche Erdbewegungen statt, denn teilweise bauten wir in einem Labyrinth von Gräben unsere Räume unter der Erde. Dies alles spielte sich in Kleve ab zwischen 1925 und 1933.«8

Ist das wieder ein Zurechtbiegen der Biografie, um später interessant zu klingen und besser dazustehen als andere? Kinder leben in solchen Welten. Und wenn sie später Künstler werden, setzen sie diese Art des Erlebens vielleicht intensiver fort als die, die Finanzbeamter, Wissenschaftler, Politiker oder Banker werden. Vielleicht sind die Entlarver von Fantasiegeschichten insgeheim neidisch darauf, nicht mehr solche geistigen Spiel- und Freiräume zu haben? Leiden sie im Gefängnis ihrer trockenen Fakten, die keine Verbindung mehr zu ihrem Herzen haben? Beuys blieb Kind, was diese Imaginationskraft angeht, und es gibt kaum einen Künstler des 20. Jahrhunderts, der in seinem Bereich ein so »wildes Denken« praktiziert hat wie er. Vielleicht zog er sich auch daher so viele Verdächtigungen und Aggressionen zu.

Der junge Beuys lebt als »Hirte« in der wasserreichen Landschaft um Kleve, die von weiten Himmeln, Mühlen, Armen des Altrheins und Kopfweiden geprägt ist. Letztere können fantastische Formen annehmen, und man kann sich leicht vorstellen, welche buckligen Geister ein Kind im Nebel oder in der Dämmerung darin sehen kann. Der Hirte streift umher, lebt in der Natur und erlebt mit seiner Herde hautnah die Phänomene von Tod und Geburt. Er steht mit einem Bein in der Zivilisation und mit dem anderen in der Wildnis. Die Forschung hat herausgearbeitet, dass dieser Berufsstand, der lange sozial geächtet war, immer auch mit magischen und heilkünstlerischen Fähigkeiten in Verbindung gebracht wurde.9 Zahlreiche Hirten landeten im 16. und 17. Jahrhundert als »Hexer« oder »Werwölfe« vor Gericht und wurden zum Tode verurteilt. Das Bild des »Hirten« mag für den jungen Beuys gerade auch in seiner Abweichung vom Normierten anziehend gewesen sein und passt zu seiner späteren Faszination für Nomadentum und Schamanismus.

Für meinen Film besuchte ich im August 2014 die Gegend des Niederrheins rund um Kleve, um eindrucksvolle Bilder von jener Landschaft zu finden, die die Entwicklung des jungen Beuys mit geprägt hatte. Das war nicht einfach, da sich in den letzten 80 Jahren vieles drastisch verändert hat. Der Rhein ist heute oft überfüllt mit Lastkähnen, und die einst wohl menschenleeren Kolke befinden sich meist in Privatbesitz und sind mit Stacheldraht und Verbotsschildern abgesperrt. Wir mussten über viele rostige Zäune klettern, um an Wasserstellen zu kommen, die noch die Aura einer gewissen Einsamkeit und Traumverlorenheit umgibt.

Ein Ort dagegen hat sich bis heute seine magische Stimmung bewahrt: die Mühle von Donsbrüggen. Beuys ist oft mit seinem Vater, der unter anderem mit Mehl handelte, von Mühle zu Mühle gefahren und hat sicherlich viele Stunden in diesen Wundermaschinen verbracht. Mit knarrendem Geräusch drehten sich die riesigen Windräder auch, als wir Donsbrüggen bei den Dreharbeiten aufsuchten. Während ich mit der Kamera um die Mühle streifte, tauchte ich in eine Welt von Dingen ein, die – neben der Natur – wohl auch Beuys’ Fantasie angeregt haben mögen. Alte Traktorräder, Spaten, verrostete Pflüge, Kisten, Werkzeuge, Rohre, Maschinenteile lagen dort herum, als würden sie schon Jahrzehnte vor sich hin träumen. Zum Teil waren sie überwuchert von Kräutern und langstieligen Pflanzen. Am Dach eines Gebäudes war eine Holzkiste mit einem Einflugloch befestigt, um Steinkäuzen den Nestbau zu ermöglichen. Hier war nahezu alles vereint, was sich in vielen Werken von Beuys findet: Tiere, Pflanzen, aber auch die Welt der Technik, das Abgelebte, Verrottete, Verbrauchte, alles dominiert von abgetönten, oft bräunlichen Farben. Im Inneren der Mühle hörte sich das Drehen der Räder ganz anders an als draußen, aber auch hier war ein starker Ort der Imagination. Sonnenlicht fiel durch die Holzritzen und tauchte manchen Gegenstand in eine poetische Aura. Hier war ein Mehlsack nicht nur eine Hülle für das Gemahlene, eine Schale nicht nur Aufbewahrungsort für Getreide, waren alte Räder nicht nur Funktionsträger eines mechanischen Getriebes. Durch das Licht und die Atmosphäre, die vom dunklen Knarren der mächtigen Windflügel erfüllt war, wurden Grenzen aufgehoben. Jedes Ding verwandelte sich zu einem Meditationsobjekt, das auch in Bereiche jenseits seiner üblichen Definition hineinragte. Bienen summten in den Sonnenstrahlen herum, und Rohre und Maschinenteile auf dem Boden verbanden sich in meiner Fantasie zur Beuys’schen Honigpumpe. Organisches und Mechanisches waren nicht mehr starr voneinander getrennt. Bienen, Steinkäuze und Störche schienen in einer geheimen Allianz mit den Vorgängen in der Mühle zu leben, die aus den Früchten der Erde Mehl extrahiert. Dies war keine kalte Maschine, sondern ein warmer, hölzerner, sich bewegender Riesenapparat, der eher etwas mit einem Organismus als mit einem starren Räderwerk zu tun hatte. Dass Beuys hier starke Eindrücke und Visionen empfing, liegt auf der Hand. Donsbrüggen erwähnt er im Lebenslauf/Werklauf als Ort einer »Ausstellung von Heidekräutern nebst Heilkräutern«. Ich sah im Geiste getrocknete Kräuter vor mir, die liebevoll gepresst und beschriftet an der Wand hingen, und dachte an die Erinnerung von Sonja Mataré, wonach Beuys jede Pflanze mit ihrem lateinischen Namen gekannt habe.

Der junge, durch die Landschaft streifende »Hirte« zeigt schon früh einen bemerkenswerten Forschergeist. Zwar hat Beuys nie ein naturwissenschaftliches Universitätsstudium absolviert, aber er erwirbt im Laufe seines Lebens fundierte Kenntnisse über Tiere, Pflanzen, Mineralien und Metalle. Viele Zeichnungen wirken wie ein Echo auf diese frühen Erfahrungen: abstrakte Blumenaquarelle, die wie Farbexplosionen daherkommen, zarte Pflanzenwesen, die der Sonne entgegenstreben, Bilder »sterbender Blumen« oder ein »Mondän frisierter und mit Silbernadeln durchstochener Baum«. Lange kann man davor verweilen und in immer tiefere Bedeutungsschichten vordringen. Ähnlich wie bei anderen großen Zeichnern spürt man, dass intensive realistische Vorstudien nötig waren, um mit ein paar Strichen so sicher erzählen zu können. Spirituell ist diese Kunst von Anfang an, weil sie das Wesenhafte und Geheimnisvolle der Natur in den Mittelpunkt stellt.

Das machen Kinder intuitiv auch, doch im Erwachsenenalter werden sie nüchterner und begnügen sich mit den erlernten Etikettierungen: Das ist eine Eiche, das ein Hirsch und das ein Hase. Beuys wird in diesem Sinne nie erwachsen. Was ihn als Kind gegenüber einem Baum oder einem Tier gepackt hat, wird ihn nicht mehr loslassen, und er versucht, dieses sich allen wissenschaftlichen Begriffen Entziehende immer neu zu umkreisen. Etwas Animistisches ist darin, wie es frühe Kulturen besaßen und wie es die deutsche Romantik weitergeführt hat. Auch ein Bezug zum Märchen, den Beuys in einer Talkshow des ORF selbst herstellte:

»Es wäre doch auch sehr schön, wenn die Menschen das, was ich mache und was ich eigentlich bin, viel einfacher erklären könnten und würden sagen: Da erzählt ein Mensch etwas völlig Unverständliches, erzählt so etwas, von dem ich das Gefühl habe, es in Märchen gehört zu haben. Und er könnte mich doch durchaus als einen Märchenerzähler wahrnehmen, wo geheimnisvolle Figuren ins Spiel kommen, ein toter Hase tritt auf wie in einem Märchen, es wird von Kaninchen gesprochen, es gibt eine Sache mit einem Schwan, es gibt den toten Hirschen, dann spricht er auf einmal von Hirschdenkmälern. Das heißt: Wäre es nicht eigentlich richtig, dass man die Weise des Erzählens der Märchen mal heranzöge, um an dem Gehalt der Märchen – wenn man auf sie eingeht – festzustellen, dass diese Märchen ja eigentlich einer viel tieferen Wirklichkeit von Weltinhalt entsprechen als jede einfache rationale Beschreibung irgendeines sogenannten exakten naturwissenschaftlichen Vorgangs? Das wäre doch eigentlich genug.«10

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