Читать книгу Zeige deine Wunde - Rüdiger Sünner - Страница 8

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Eine rätselhafte Zeichnung von Beuys heißt »Winterschädelerlebnis« (1951) und zeigt – wie eine Röntgenaufnahme – das seltsame Innenleben eines Kopfes. Eine Figur mit einem kleinen Herzen in der Mitte ist darin, halb Pflanze, halb Wesen mit Geweih, dessen Glieder sich nach oben zum Schädeldach spreizen. Es könnte auch, ganz ähnlich wie bei Jim Morrison, ein tanzender Geist sein, der lebendig von innen wirkt, das Schädeldach trägt und Herzenskraft spendet. Durch den Mund ragt ein Trichter, von dem man nicht sagen kann, ob er etwas heraus- oder hineinlassen soll. Ist es ein Schalltrichter, der die Botschaften der im Inneren lebenden »Muse« nach außen trägt? Oder nährt diese sich durch die Röhre, die ihr Einflüsse der Außenwelt zuträgt? Warum »Winterschädelerlebnis«? Ist der Winter die Jahreszeit, in der unser Innenleben aufgrund von mangelnden Außenreizen besonders aktiv ist? In der wir eine besondere Kraft brauchen, die uns Wärme zupumpt?

Ich muss bei diesem Titel immer an die Absturzgeschichte von Beuys denken, zumal er bei dem Flugzeugunfall auch Kopfverletzungen erlitt. Beschwor er in der Zeichnung die Gegenkräfte zu den Beschädigungen von außen: die Regenerationskraft des Geistes, die Überwindung des Traumas durch Fantasie, der Kälte durch kreative Wärme? Wird das Bild so zur Darstellung eines Einweihungsgeschehens wie in den Zeichnungen »Schlaf im Schnee« und »Initiation«, die sich in dem Katalog mit dem vielsagenden Titel Innere Mongolei5 finden? Es sind allesamt Bilder, die die Leere weißer Landschaften umkreisen, seien es reale Winterlandschaften oder solche des Geistes. Darin befindet sich ein Mensch, der etwas empfängt – und zwar aus einer Leere, die vielleicht Erweckungserlebnisse gerade durch das Fehlen äußerer Fülle stimuliert.

Über den Komplex »Beuys und der Winter« gibt es eine faszinierende Geschichte des Anthroposophen Günther Mancke, der mit Beuys bei Ewald Mataré studierte. Mancke hatte sich nach dem Krieg in eine Künstlerkolonie in der Hocheifel zurückgezogen, um dort ungestört arbeiten und Rudolf Steiner lesen zu können.

»Beuys kam regelmässig unregelmässig [sic] hierher«, erzählte Mancke der Kunsthistorikerin Rhea Thönges-Stringaris, »da war es morgens drei oder vier Uhr mitten im Winter, hoher Schnee, es klopfte, und da war er durch den Schnee gekommen, von Daun her. Er hatte Mitfahrgelegenheit gehabt bis Daun und ist zu Fuss rüber über die Berge gekommen (…) Das sind mehr als 16 Kilometer, der war mindestens sieben, acht Stunden unterwegs, in der Dunkelheit gegangen im Winter. Um drei Uhr war er dann da und hatte das Brandenburger Konzert unterm Arm, wir hatten so einen Holzkasten mit einer Kurbel dran, und dann wurde das Brandenburger Konzert von Bach aufgespult! Das war eine wunderbare Zeit, es war einmal eine Zeit für einen selbst: es war kein Licht da, es war kein Wasser da – wir holten das Wasser an der Quelle –, wir haben mit Kerzenbeleuchtung gelesen.«6

Was für eine Geschichte. Ein Mann wandert stundenlang durch zugeschneite Wälder, um frühmorgens irgendwo anzukommen, wo menschliche Gemeinschaft, Licht und Wärme sind und man gemeinsam Bach hört. Ein Winter unmittelbar nach dem Krieg, auch ein Sinnbild für die allgemeine Ödnis und Kargheit, wo es an allem fehlte und geistige Bedürfnisse stark waren. Ich fragte mich bei dieser Geschichte oft, was Beuys wohl bei dieser langen Nachtwanderung durch den Kopf gegangen war. Und ich glaube, da rannte keiner mit klappernden Zähnen durch einen unheimlichen Winterwald, sondern durchwanderte mit offenen Sinnen einen tief berührenden und geheimnisvollen Raum. Einen Raum der Stille und monochromen Fülle, beides für mich auch Merkmale vieler Beuys-Werke. Die »Tatarenlegende« entschlüsselt sich nicht durch kriminologische Recherchen, sondern durch den Kontext mit dem Werk. Sie ist selbst ein Teil davon und einzig die Frage interessiert, welche Art von Energie dieser Mythos in sich birgt. Bei Beuys ist diese Energie beträchtlich und führt in seine »innere Mongolei«. Dies ist ein Land, das wir nicht – wie etwa den Mars – mit einem Forschungsgerät der NASA untersuchen können. Es ist vielmehr ein Innenraum, für den es anderer Sensorien bedarf und der für uns immer noch so unbekannt, so eine »Terra incognita« ist wie der entfernteste Planet.

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