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Kapitel 2 Auf der Flucht
ОглавлениеRuna warf kurze, hektische Blicke um sich, sah aber niemanden und rannte zurück auf die Außenstraße, an dessen Ende Jacob und Enna lebten. Ohne zu denken legte sie all ihre Kraft in ihre Beine und lief die Straße entlang. Um nicht noch einmal am abgebrannten Nachbars- haus vorbei zu müssen, schlug sie den Weg zum Mühlbach ein, der hinter einem Weizenfeld lag, das an das Haus ihrer geliebten Freunde grenzte. Falls ihr jemand folgen sollte, könnte sie versuchen, sich im Feld zu verstecken.
Ihre eigenen Schritte hallten in ihren Ohren und ihr eigener Atem kam ihr so laut vor, dass sie gar nicht ausmachen konnte, ob ihr ein Verfolger auf den Fersen war. Jetzt wollte Runa nur noch eins, zurück nach Hause, in ihre Bibliothek, einen Tee, der sie wärmte, ihre Bücher an- sehen und denken, es ist alles gut. Sich das Gefühl geben lassen, hier in deiner Welt bist du sicher. Nimm dir ein Buch und tauche ab in eine neue Welt, die dir neue Gedanken schenkt und dich der Realität entzieht.
Das hilflose Mädchen traute sich nicht, einfach auf der Straße stehen zu bleiben. Es war zu verängstigt sich umzublicken, ob ihr jemand nach dem Leben trachtete. Sie lief an irgendeiner Stelle in das goldgelbe Weizenfeld hinein und bahnte sich einen Weg durch die leuchtenden Ähren. Die Halme piekten und kitzelten sie an den Händen und in ihrem Gesicht. Ihre langen Haare klammerten sich beim Durchlaufen an die Halme, um sie scheinbar am Weiterkommen zu hindern, noch einen Schritt weiter ins Innere des Feldes zu gelangen. Mittlerweile hatte Runa völlig die Orientierung verloren und wusste nicht, in welche Richtung sie weiterlaufen sollte, aus Angst am Anfangspunkt zu landen und von ihrem Verfolger in Empfang genom- men zu werden.
Erschöpft und schweißgebadet ließ sie sich auf den Boden sinken, legte sich auf den Rücken und schloss die Augen. Sie konnte sich nicht aufraffen weiter zu laufen, nur einen Moment wollte sie sich ausruhen. Wenn ich dann noch lebe, versuche ich weiter zu überleben. Jetzt kann ich einfach nicht mehr.
Während Runa reglos auf der Erde lag, hatte sie das Gefühl, die Erde hülle sie in ein weiches Bett, das ihr schöne und leichte Träume schenkte. Sie fühlte sich so leicht und unbeschwert. Runa sog den Duft der Natur ein, der sie einhüllte und ihr den Einzug des Herbstes ankündig- te. Wie wundervoll und lebendig die Natur doch sein konnte, so mächtig und würdevoll mit ihren Farben, Formen und Gerüchen. Einfach nur so liegen, für immer, nie mehr aufwachen aus dieser Ruhe.
Ruhe bedeutete, niemand schien ihr gefolgt zu sein. Niemand, der ihr Leben nehmen wollte. Die Erkenntnis weiter zu leben entlockte Runa ein kleines Lächeln. Sie richtete sich auf, überlegte, was sie jetzt tun solle. Vor allem durfte sie keine Aufmerksamkeit erregen. Wenn die Person, die sie beobachtet hatte, sie nicht kannte, hatte sie eine reale Chance, zu ihrem Haus zu gelangen, um sich dort zu verstecken. Ihren Gedanken nachgehend schlug Runa die Richtung ein, in die sie gerade blickte, entgegengesetzt der, aus der sie glaubte gekommen zu sein.
Ein lautes Kreischen riss sie aus ihren Überlegungen und erschreckte sie fürchterlich, sodass sie selbst laut aufschrie. Raben fühlten sich durch das Mädchen bedroht und flogen krei- schend durch die Luft, schlugen wild mit ihren Flügeln und blickten bedrohlich auf sie hinab. Runa stierte in den Himmel und sah ihrem Treiben zu, anstatt sich von ihnen verscheuchen zu lassen. Einer der Raben hatte eine Feder verloren, die in ihre Richtung flog. Sie wollte sie im Flug ergreifen, verfehlte sie jedoch knapp. Die Feder landete vor ihren Füßen.
Runa wollte sie aufheben und erblickte beim Bücken den Umriss einer Gestalt. Wie konnte er sich so lautlos an mich heranschleichen? Meine Schritte durch das Feld verursachen doch keine lauten Geräusche. Das erschreckte Mädchen rechnete damit, dass die Person in Erschei- nung trat, jetzt, da sie von ihr entdeckt wurde. Aber das tat sie nicht. Wie gebannt schaute Runa in die Richtung, in der sie die Gestalt ausmachte. Ihr Atem ging schneller und ihre Hän- de begannen erneut zu zittern, aber nichts rührte sich.
Was ist das bloß für ein nervenaufreibendes Spiel, was mit mir gespielt wird? Mir Angst ein- jagen- mich in Sicherheit wiegen, nur um dann den Anschein erwecken zu lassen, mein letzter Lebensmoment sei gekommen, und dann passiert wieder nichts. Bin ich zur Jagdbeute eines Mörders geworden? Spielt er Katz und Maus mit mir? Hat er es vielleicht mit allen in Dorf- land so gemacht, bevor sie ihren letzten Atem aushauchten? Was bist du bloß für eine Bestie? Du kannst kein Mensch sein! Menschen tun so etwas nicht. Du kannst nur ein Dunkeldämon sein, der die tiefsten Gefilde der Hölle bewohnt.
Irgendwie erschienen ihr die Umrisse hinter den Ähren menschlich, aber ihre Gestalt schien doch größer als ein Mensch zu sein. Ihr Kopf kam Runa eigenartig geformt vor, und die Ge- sichtsfarbe schien auch nicht menschlicher Natur zu sein. Genau konnte sie es gar nicht aus- machen, da die Sonne allmählich den Horizont verließ. Sie wurde geblendet und ein klarer Blick war ihr verwehrt. Wie schön die Sonne doch in ihrem roten Kleid ist. Ein wundervolles Bild, das ich mit in den Tod nehmen kann. Eingehüllt in die kraftvolle Wärme ihrer Strahlen, die gleich erlöschen werden, damit der Mond mit seinem allabendlichen Auftritt beginnen kann.
Runa konnte die Anspannung nicht mehr aushalten. Eine Flucht schien ihr jetzt unmöglich. Obwohl sie sich elend fühlte, nahm sie all ihren Mut zusammen und trat Schritt für Schritt auf die Gestalt zu. Einige dicht stehende Ähren versperrten ihr den direkten Weg, sodass sie sie mit den Händen zur Seite drücken musste. Sie fühlte sich mutig, aber nicht so mutig, um den Blick aufrecht zu halten und ließ ihn über das Erdreich schweifen. Nur wenige Schritte vor der Gestalt hielt sie an, doch nichts geschah. Kein Wort wurde gesprochen, keine Hand streckte sich ihr entgegen. Es war totenstill.
Runas Blick verweilte immer noch am Boden und irgendetwas schien ihr hier nicht ins Bild zu passen. Sie vermisste einen zweiten Fuß oder Schuh oder Stiefel. Nichts dergleichen stand ihr gegenüber, sondern ein Pfahl. Als sie dies registrierte, ruckte ihr Kopf schlagartig in die Höhe und blickte in ein Lumpengebilde- in eine Vogelscheuche.
Natürlich. Wie konnte ich so dumm sein? Jeder Bauer hat auf seinen Feldern Vogelscheuchen stehen, damit sie die Vögel von einer Plünderung der Ernten abhielten. Runa wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Sie befand sich in Bauer Knuts Weizenfeld und dieser hatte ihr doch schon im Frühjahr davon erzählt, dass seine alte Vogelscheuche es nicht mehr über den Winter geschafft hatte und er deshalb eine neue aufstellen musste.
Was bin ich doch für eine dumme Gans? Ich lasse mich von einer Vogelscheuche erschrecken und mir Todesangst einjagen. Runa, du bist dreizehn Jahre alt und nicht drei. Das darf ich niemandem erzählen, ich wäre das Gespött in Dorfland und… Schmerzlich wurde ihr wieder bewusst, dass es niemanden mehr gab, dem sie es hätte erzählen können, niemanden, der über sie hätte lachen können, niemanden mehr, der ihr kindisches Verhalten hätte weitererzählen können.
Das traurige Mädchen blickte auf ihre Hände, sah auf den Boden, drehte sich und suchte ihn mit hektischen Blicken ab. Wo war die Glocke? Mein Andenken an Olef. Wo habe ich sie fallen gelassen? Sie begab sich auf die Knie und suchte nach dem Messinggegenstand, konnte ihn aber nicht finden.
Ich muss sie auf der Flucht vom Marktplatz verloren haben. Aber dann hätte ich sie doch fallen hören. Es wäre doch ein schepperndes Geräusch ertönt, das hätte ich nicht überhören können. Und dann fiel es ihr wieder ein. Der Brunnen. Sie hatte die Glocke dort abgelegt. Sie war doch so durstig gewesen, hatte Wasser getrunken und dann war da dieser Schatten, vor dem sie geflüchtet war. Sie hatte sie einfach dort liegen gelassen, hatte nur an sich gedacht, nicht an Olefs einziges Erbe, eine Erinnerung, die nur ihnen beiden gehörte.
Sie konnte nicht zurück in die Stadt laufen. Irgendwo da draußen lauerte immer noch die Gefahr auf sie. Ich werde sie holen, nicht gleich, aber ich werde sie mir zurückholen- irgend- wie. Das bin ich Olef schuldig. Traurig und von Selbstvorwürfen geplagt bahnte Runa sich einen Weg durch das Weizenfeld, mit der Hoffnung, am Ende keine weitere böse Über- raschung erleben zu müssen. Niemandem zu begegnen, der nicht einst ein Dorfländer war.
Nach einer Weile nahm sie einen anderen Farbton am Boden wahr. Das dunkle Braun der Erde verblasste zu einem Grauton. Sie hatte es geschafft. Sie war am Rande des Feldes ange- langt, der an einen Weg grenzte. Der Blick auf die staubige Straße rief Erleichterung in ihr hervor, weil sie jetzt endlich aus dem Feld hinaus konnte. Gleichzeitig verunsicherte es sie aber auch, noch drei Schritte und sie hätte wieder festen Boden unter ihren Füßen.
Würde sie weiterhin allein sein oder stand dort jemand, der sie in Empfang nahm, der diesen Wahnsinn, den sie gerade erlebte, beendete? Schritt für Schritt schlich sie zum Rand des Fel- des, hockte sich hin und streckte den Kopf langsam nach vorne, um auf den Weg zu schauen. Weder vor ihr, noch links, noch rechts konnte sie eine Person, eine Bewegung oder einen Laut ausmachen.
Runa stellte sich wieder hin und trat aus dem Weizenfeld auf den verstaubten Weg. Mehrmals blickte sie in alle Richtungen, um Gewissheit zu haben, niemand lauere ihr auf. Als sie sich beruhigt hatte, konnte sie sich wieder orientieren und wusste, wo sie sich gerade befand. Sie schaute direkt auf Eichen und Kastanien. Sie hatte ihr Ziel fast erreicht. Runa blickte auf den Baumring, der ihr Zuhause umgab. Nur noch ein kurzes Stück laufen, dann wäre sie in Sicher- heit.
Die Freude auf das, was sie erwartete, ließ sich nicht mehr bändigen. Schnell und doch wachsam ging sie am plätschernden Bach entlang, über den schmalen Steg, der zu ihrem Haus führte. Wie gut es tat, unter ihren Bäumen entlang zu gehen, ihre rot, gelb und braun gefärb- ten Blätter zu betrachten. Unter ihrem rechten Fuß spürte sie eine Verdickung, die durch die Sohle ihres Stiefels an ihre Fußsohle drückte. Runa trat einen Schritt zur Seite und fand eine dicke, glänzende Kastanie. Sie hob sie auf, ließ sie in ihrer Handfläche wandern und betastete mit ihren Fingerkuppen liebevoll die glatte, glänzende Schale der Frucht.
Der Herbst ist da. Wie ich ihn liebe mit seinen kühlen Winden, Stürmen und Unwettern. Was gibt es Schöneres, als in der Bibliothek zu sitzen, ein tolles Buch zu lesen, dem Unwetter zu trotzen und es doch zu lieben? Für das Mädchen bedeutete so ein Moment alles, denn er war ihr Freiheitsgefühl. Sich in den tosenden Winden zu verlieren und die unendliche Macht der Natur zu sehen, gegen die jeder machtlos war. Wie oft hatte sie sich vorgestellt, wie es wohl wäre, hinaus in den Sturm zu gehen und sich von ihm mitreißen zu lassen.
Runa ging am See vorbei, den sie achtlos hinter sich ließ. Sie sah, dass die Eingangstür offen stand. Sofort beschlich sie ein beklemmendes Gefühl. Hatte sie in ihrer Panik die Tür nicht verschlossen? Oder wusste ihr Beobachter, wer sie war und wohin ihr Fluchtweg sie führte? Wartete er womöglich in der Halle auf sie? Begrüßte er sie vielleicht mit den Worten: „Gut gemacht, aber nicht gut genug. Du kannst mich nicht austricksen, Runa. Während du dir vor Angst fast in die Hosen gemacht hast, habe ich hier gemütlich auf dich gewartet. Jetzt vergeht mir die Lust am Spielen. Sprich ein letztes Gebet und verabschiede dich von dieser Welt.“
Denk nach! Hast du abgeschlossen? Ja oder nein? Sie schloss kurz die Augen und dachte an den Moment, als sie das Haus verließ. Nein, ich habe nicht abgeschlossen. Sie hatte ja noch nicht einmal einen Haustürschlüssel dabei. Erleichtert über diese Erkenntnis ging Runa drei Stufen zur Haustür hinauf, trat in die Eingangshalle und verschloss die Tür, zog den Schlüssel ab und steckte ihn in ihre Hosentasche. Den schweren weinroten Vorhang, der eigentlich nur als Schmuck die Tür einrahmte, zog sie zu. Er ließ sich nicht wie ein einfacher Vorhang ziehen. Der Stoff lag schwer in ihren Händen und jede Falte des Vorhangs, die Runa ausei- nanderzog, gab eine muffige Staubwolke frei. Es roch nach jahrhunderte altem Leben, wel- ches sich aus seinem Gefängnis befreite.
Der Staub und der Gestank riefen bei ihr einen Husten- und Würgereiz hervor. Sie betrachtete ihr Werk. Was tue ich eigentlich hier? Als ob der Vorhang verhindere, dass jemand ins Haus gelangen könnte. Wer rein will, findet wohl einen Weg. Aber irgendwie fühle ich mich durch ihn beschützt- mein Torwächter. Falls jemand durch die Eingangstür kommt, erliegt er mit Sicherheit ebenfalls einem Hustenreiz wie ich. Dann werde ich den Eindringling wohl bemer- ken.
Rechts der Haustür befand sich die Tür zur Bibliothek, sie war geschlossen. Schräg gegenüber blickte Runa durch die geöffnete Küchentür. Sie konnte einen Teil der Eichenschränke in der Küche sehen. Außerdem einen umgekippten Schemel, der die Tür daran hinderte sich zu schließen. Runa war kalt und sie hatte Durst. Sie ging in die Küche und sah Feras und Arons zerbrochenen Teetassen auf dem Boden liegen. Die Scherben verteilten sich auf dem ganzen Küchenboden. Der Tee, den sie noch in ihren Tassen hatten, war inzwischen in merkwürdigen Gebilden auf dem Boden eingetrocknet.
Gegen ihre Tränen ankämpfend hob das Mädchen die umgeworfenen Möbel auf und beseitigte die Scherben. An der Waschschüssel hing noch ein Lappen, den sie in einen Bottich mit Wasser tauchte und damit die Teeflecken wegwischte. Sie war so müde, erschöpft und kraftlos. Sie ließ sich auf die Küchenbank sinken und dachte an das, was sie heute alles gese- hen hatte.
Ich begreife es nicht. Was ist nur geschehen? Die Erinnerung an die vielen abgebrannten Häuser erinnerte sie daran, dass sie selbst nach Rauch stank und überall Schmutz an sich kleben hatte. Ihr Gesicht fühlte sich klebrig an, ihre Hände waren so dunkel vom Erdreich gefärbt, dass man meinen könnte, sie hätte ihre Hautfarbe gewechselt. Ihre grüne Hose war mit braunen Flecken eingefärbt und ihr graues Hemd roch nach Schweiß und Rauch. Ihre Haare, die sie zu einem Zopf zusammen gebunden hatte, hatten sich größtenteils aus ihm ge- löst. In verklebten Strähnen hingen sie an ihr herunter und schoben sich vor ihr Gesicht.
Runa fühlte sich wie ein Schwein, was sich im Schlamm gesuhlt hatte. Sie konnte sich so nicht mehr ertragen. Sie benötigte ein Bad. Seltsam, dass ich das jetzt denke. Obwohl mein Leben zerstört ist, geht es irgendwie weiter. Ich lebe noch, also kann ich auch ein Bad neh- men.
Der Gedanke an ein heißes, wohltuendes Bad weckte die Lebensgeister in ihr. Sie sprang förmlich von der Bank auf, ging zur Feuerstelle und legte ein Feuer an. Anschließend nahm sie den Wassereimer vom Haken an der Küchentür und ging zum See. Es dauerte nicht mehr lange bis zum Einbruch der Dunkelheit. Runa musste sich mit dem Wasserholen beeilen. Während sich das erste Wasser im Kessel erwärmte, entzündete sie Kerzen und eine Feuer- schale im Waschraum, damit sie es gemütlich beim Baden hatte. Die Prozedur, Wasser holen und es erwärmen, schien für das Mädchen kein Ende zu nehmen. Nachdem die hölzerne Wan- ne gefüllt war, holte sie noch einige Eimer kaltes Wasser, damit das kochende Badewasser sich abkühlen konnte.
Sorgsam verschloss Runa die Tür zum Garten, goss sich mit dem letzten Rest des heißen Wassers ihren Tee auf und erstickte das fast abgebrannte Feuer in der Feuerstelle. Die woh- lige Wärme, die ihr beim Betreten des Waschraumes entgegen kam, riefen angenehme Erin- nerungen in ihr hervor. Sie stellte ihren Teebecher auf einen kleinen Schemel neben der Bade- wanne und gab noch Kräuter in ihr Badewasser. Ihr geblümtes, flauschiges Badetuch lag griffbereit vor der Wanne und ein Waschtuch hing am Wannenrand. Eine kleine Holzschale mit einem Stück Lavendelseife stellte sie mit auf den Schemel. Runa legte ihre Kleidung ab und löste ihr ledernes Haarband. Beim Einsteigen in die Wanne musste sie ihre Haare festhal- ten. Einmal hatte sie dies vergessen und wäre fast auf ihren Haaren ausgerutscht, da sie bereits so lang gewachsen waren, dass sie ihre Fersen berührten.
Runa ließ sich soweit ins Wasser gleiten, dass sich ihr Kopf unter Wasser befand und rutschte dann wieder ein Stück aus dem Wasser hinaus. Das Badewasser war nicht kochend heiß, aber doch noch so heiß, dass ihre Haut prickelte und eine Gänsehaut hervorrief. Immer wieder atmete sie den wohltuenden Geruch der Kräuter ein und trank ihren Tee dabei. Der Minztee wärmte sie innerlich und so langsam kam das Gefühl zurück, wieder ein Mensch zu sein und kein sich suhlendes Schwein.
Lavendelseife mochte sie besonders gern zum Waschen, ihr Geruch erinnerte sie an den Som- mer. Sie stellte sich die lilafarbenen Blüten auf Jacobs und Ennas Feld vor, ihre Lieblings- farbe. Enna stellte die Lavendelseife selbst her und verkaufte sie auf dem Markt, aber Runa bekam immer ein Stück geschenkt, wenn sie eins aufgebraucht hatte. Wenn sie dieses letzte Stück Lavendelseife aufgebraucht hatte, würde sie kein neues mehr von Enna bekommen. Nachdem sie ihren Körper mehrmals gründlich geschrubbt hatte, überkam sie eine so große Müdigkeit, sodass sie in der Badewanne einschlief.
Als Runa aus ihrem Schlaf erwachte, spürte sie einen Kälteschleier auf ihrer Haut. Das Wasser war inzwischen kalt geworden. So lange kann ich doch nicht geschlafen haben. Die fast abgebrannten Kerzen und die erloschene Feuerschale zeugten davon. Draußen war es noch dunkel, aber es würde wohl nicht mehr lange dauern, bis der Tag anbrach. Müde stieg sie aus der Wanne, trocknete sich ab, wickelte ihr Badetuch um ihren Körper, löschte die brennenden Kerzen und ging in ihre Schlafkammer. Im Tuch eingewickelt legte sie sich unter ihre Decke und schlief weiter.
Die warmen Sonnenstrahlen, die durch Runas Fenster drangen, erwärmten ihr Gesicht. Beim Öffnen ihrer Augen freute sie sich über die Begrüßung der Sonne. Sie mochte es, wenn der Tag leuchtend begann. Sie streckte sich und spürte jeden einzelnen Knochen in ihrem Körper. Unter ihrer Decke war es so warm, dass sie gar nicht aufstehen mochte. Ich könnte ja noch ein wenig lesen, bis es mich aus dem Bett treibt. Der gezielte Handgriff auf das Schränkchen ne- ben ihrem Bett war jeden Morgen nach dem Aufwachen der gleiche. Und jedes Mal war er ein Erfolg. Nur dieses Mal nicht. Ihre Hand griff ins Leere.
Jeden Abend vor dem Schlafen nahm Runa ein Buch mit in ihre Schlafkammer, weil sie morgens noch gerne Zeit für sich und einen ihrer bezaubernden Freunde haben wollte. Das fehlende Buch irritierte sie. Sie schaute auf den Boden, ob es vielleicht in der Nacht herunter gefallen war. Es war kein Buch zu sehen. Und irgendwie konnte sie sich nicht richtig bewe- gen. Ein Blick unter ihre Decke ließ das Badetuch erscheinen und da wusste sie, warum heute Morgen kein Buch auf ihrem Schränkchen lag. Sie hatte gebadet und war in der Wanne einge- schlafen. Sie war nicht wie üblich in der Bibliothek gewesen. Von dort aus ging sie jeden Abend mit einem Buch ins Bett. Dieses Ritual befolgte sie, seitdem sie das erste Mal dort war und ein Buch in die Hand genommen hatte. Nie hatte sie es unterbrochen- bis gestern. In ih- rem Kopf drehten sich Bilder von Menschen und abgebrannten Häusern. Nun wusste sie, warum sie ihr abendliches Ritual unterbrochen hatte.
Runa zog sich die Decke weg, stieg aus dem Bett, wickelte das klamme Tuch von ihrem Körper und zog sich frische Kleidung an. Ihr Haar drehte sie ein und steckte es mit einer Klammer fest, damit es ihr nicht im Weg war. Schließlich musste sie ja noch das Badewasser aus der Wanne schöpfen und ihre langen Haare würden sie nur behindern.
In der Küche schürte sie ein Feuer an und holte sich frisches Wasser aus dem Brunnen. Sie wollte Tee kochen und sich waschen. Der Wassereimer befand sich noch im Waschraum. Die Badewanne zu leeren gehörte überhaupt nicht zu ihren Lieblingsarbeiten, aber das Vergnügen, das dem Unangenehmen vorausging, war es wert. Eimer für Eimer schöpfte sie das Wasser aus der Wanne ab und goss es hinterm Haus aus. Die Asche der Brennschale entfernte sie ebenfalls und bestückte sie mit Spänen und kleinen Holzscheiten für das nächste Bad. Damit die Wanne für das nächste Bad bereit war, schrubbte Runa sie und sammelte die leblosen Kräuter und Lavendelblüten des letzten Bades ein. Das große, weiße Laken, das die saubere Wanne vor Schmutz schützte, wies schon einige dunkle Flecken auf. Das wollte sie waschen und holte ein frisches Tuch aus dem Wäscheschrank auf der Galerie.
Der morgendliche Hunger machte sich bemerkbar und das Mädchen ging zurück in die Küche. Sie machte sich einen frischen Minztee und nahm sich Brot und Käse aus dem Vorratsschrank. Der Käse schmeckte köstlich, aber das Brot war inzwischen altbacken. Nach ihrem spärlichen Morgenmahl suchte sie sich die Zutaten für ein Brot zusammen und begab sich an die Arbeit, den Teig zuzubereiten. Da der Teig noch eine Weile ruhen musste, goss sie sich einen zweiten Tee auf und nahm ihn mit in ihre Bibliothek.
Die Luft im Innern war abgestanden. Runa öffnete das runde Fenster links neben dem Kamin und spürte die frische Luft in ihrem Gesicht. Ein Blick zum Kamin kündigte weitere Arbeit an. Es hatte sich bereits viel Asche im Kamin angesammelt, die sich bei einem kräftigen Wind- zug im ganzen Raum verteilen würde. Sie nahm den Ascheeimer und fegte mit Besen und Schaufel vorsichtig den Boden des Kamins rein und verschloss den Eimer mit einem Deckel. Anschließend schichtete sie neue Holzscheite auf und gab Anzündspäne hinzu. Ihre Kuschel- decke lag immer noch so auf dem Boden, wie sie sie dort zurückgelassen hatte. Sie faltete die Decke zusammen, legte sie über eine Sessellehne und setzte sich mit ihrem Teebecher in ihren Ohrensessel.
Runa musste nachdenken, über das, was gestern geschehen war und darüber, wie es mit ihr weitergehen sollte. Sie lebte. Sie hatte noch ihr Zuhause und genug Vorräte für ein paar Wo- chen. Wenn sie wirklich die letzte Dorfländerin war, es niemand anderen gab, der wie sie Glück hatte, irgendwo überlebt zu haben, könnte sie dann in ihrer Heimat bleiben? Sie über- legte, welche Arbeiten sie machen konnte und wovon sie nichts verstand oder was sie glaubte selbständig erlernen zu können.
Hatte sie alleine wirklich eine Überlebenschance in Dorfland? Gedanklich plante sie ihr Über- leben. Tiere konnte sie nicht schlachten, also würde sie kein Fleisch haben. Sollte es irgendwo noch Kühe oder Hühner geben, hätte sie Milch und Eier. Sie bräuchte aber dann auch Ställe für die Tiere, diese hatte sie nicht vor Ort. Sie musste sich dafür eine Lösung überlegen. Wenn sie Milch hätte, könnte sie Butter schlagen oder Käse reifen lassen. Getreide gab es für sie allein im Überfluss, aber sie konnte nicht alle Felder abernten. Morgen musste sie also mit der Ernte beginnen, auch wenn sie noch nicht so recht wusste, wie sie es anstellen sollte.
Sie musste aber auch Obst und Gemüse ernten, damit sie es für die Winterzeit einkochen konnte. Bei dem Gedanken an das selbstgemachte süße Pflaumenmus ihrer Tante lief ihr das Wasser im Munde zusammen. Der Kamin erinnerte sie daran, dass sie auch ausreichend Feuerholz hacken musste, damit sie kochen konnte, heißes Wasser hatte und im Winter nicht erfror. Als Runa in Gedanken ihre Liste noch einmal durchging, wurde sie immer verzweifel- ter und sprach sich selbst Mut zu, um nicht wieder zu weinen. Ich werde es schaffen!
Täglich verbrachte Runa viel Zeit in ihrer Bibliothek. Unzählige Stunden hatte sie bereits in ihrem kurzen Leben dort gesessen. Am liebsten kuschelte sie sich in ihren alten Ohrensessel, den schon viele Generationen ihrer Familie sich untereinander vererbt hatten. Schon immer hat er hier, genau hier an dieser Stelle des Raumes, gestanden. Nur manchmal, wenn er einer Reparatur bedurfte, weil durch Abnutzung sein Leben fast ausgehaucht war, verließ er sein Heim, um sich neues Leben einhauchen zu lassen. Es war schon immer Tradition, ihn zu den Borks zu schicken, eine alteingesessene Restaurator- Familie, die ihr Handwerk verstand. Ihre Arbeiten waren gute Handarbeiten, die viele zu schätzen wussten.
Nun, da Runa eingekuschelt in ihrem Sessel saß und nur den Anblick ihrer Bücher genoss, fragte sie sich, wie die nachfolgende Generation ihr Glück und ihre Liebe zu Büchern nach- empfinden und erfahren sollte. Sie war doch jetzt allein, so allein in ihrem Haus, an diesem Ort- keine Nachbarn, Freunde oder Familie. Es gab keinen Menschen mehr in Dorfland, außer ihr selbst. Sie konnte es einfach nicht begreifen. Runa war im Besitz des Schönsten was es im Universum zu geben schien. Und jetzt gab es niemanden mehr, mit dem sie dieses Glück teilen konnte.
Runa war froh, in ihrem Sessel zu sitzen und ihre Bücher um sich zu haben. Wenn sie sie noch hatte, war sie nicht völlig alleine. Sie waren doch immer für sie da, egal wie sie sich fühlte. Runa wurde langsam kalt und sie schloss das Fenster, welches über einer eigens ange- passten Fensterbank thronte, damit ihr im Dunkeln eine dicke, weiße Kerze von dort aus Licht spenden konnte. Manchmal, wenn sie dem Mond und den Sternen ganz nah sein wollte, verlegte sie ihr Lager vom Sessel auf die Kaminbank und lehnte sich an der rauen Steinwand an. Die Bank war mit dicken Federkissen ausgelegt und Aron hatte ihr einmal auf dem Herbstmarkt ein Schaffell gekauft und an der Wand befestigt, damit sie es gemütlicher hatte.
Als der Winter einbrach und seine eisigen Winde ins Land schickte, wusste sie Arons Ge- schenk zu schätzen. Sie war ihm so dankbar dafür, dass er sie verstand. Sie brauchte nicht viel, um glücklich zu sein. Bei diesem Gedanken musste sie auch an Olef denken, der sie noch viel besser verstand, liebte er doch Bücher ebenfalls, vielleicht noch mehr als sie. Lieber, guter, alter Olef, du wirst mir mit deinen Büchern fehlen.
Das Mädchen stand auf und ging zu einem Fach mit Naturbüchern neben der Eingangstür der Bibliothek. Zielstrebig griff sie hinein und zog das Buch „Die Waldgeschichten“ heraus. Sie drückte es an ihre Brust, umschlang es mit beiden Armen, schloss die Augen und sog den modrigen Duft des Buches ein.
Runa ging zurück zur Bank und ließ sich mit dem umklammerten Buch nieder. Immer fester drückte sie das Buch an sich, als ob sie es vor einem Dieb schützen müsste. Sie spürte wie ihr warm wurde, richtig heiß. Langsam lockerte sie ihren Klammergriff und fast wäre ihr das Buch aus den Händen gefallen, weil sie plötzlich anfingen zu kribbeln. „Die Waldgeschich- ten“ landeten sicher auf ihren Knien. Runa drückte ihre Finger und schüttelte ihre Hände, bis sie meinte, das Kribbeln in ihren Händen verscheucht zu haben. So ein Empfinden hatte sie noch nie bei der Berührung eines Buches. Sie hatte doch so viele Bücher von Olef bekommen, warum sie ausgerechnet jetzt „Die Waldgeschichten“ ausgewählt hatte, war ihr gar nicht be- wusst.
Sie hatte es nach Anweisung des Buchhändlers so in die Bibliothek eingeordnet, dass es nie- mandem so einfach auffallen konnte. Sie musste zugeben, sie hatte es weder gelesen noch an- geschaut. Wie in Trance hatte sie es auf direktem Weg nach Hause gebracht und weggestellt. Erst als sie gestern die Glocke in den Händen hielt, kam die Erinnerung an es zurück. Was hatte Olef noch über dieses Buch gesagt? Gestern konnte ich mich noch erinnern. Irgendetwas mit- es habe außergewöhnliche Kräfte und benötige liebevolle Pflege, damit sei- ne Magie nicht erlösche. Wie konnte ich nur dieses schöne Buch vergessen? Der Teil mit der liebevollen Pflege hat wohl nicht funktioniert.
Jetzt hatte sie doch Zeit es sich anzuschauen und darin zu lesen. Runa legte das Buch neben sich auf die Bank und machte es sich bequem. Sie saß im Schneidersitz und lehnte an der Ka- minwand. Nun legte sie das Buch auf ihre Knie und wollte es aufschlagen. Es blieb aber nur beim Versuch, denn das Buch ließ sich nicht aufschlagen. Völlig verdutzt nahm Runa das Buch in beide Hände und zog vorne und hinten am Einband. Da sie ihre Kräfte überschätzte, flutschte ihr das ungeöffnete Buch aus den Händen und landete mit dem Titel nach oben zei- gend auf dem Boden.
Ich werde doch wohl noch ein Buch öffnen können? Das ist ja wohl eine meiner leichtesten Übungen. Das mache ich doch im Schlaf. Runa stand auf, nahm das Buch und setzte sich wie- der mit ihm hin. Sie betrachtete und befühlte es eingehend. „Du siehst aus wie ein Buch. Du riechst wie ein Buch. Und außerdem hat Olef gesagt, du seiest ein Buch. Also bist du auch eins und hast dich öffnen zu lassen wie ein Buch. Haben wir uns verstanden? Also, auf ein Neues.“
Bevor Runa einen weiteren Versuch wagte, das Buch zu öffnen, beäugte sie noch einmal ein- gehend den Schriftzug. Das Mädchen schüttelte ungläubig den Kopf. Ich glaube, ich werde so langsam verrückt. Erst lässt sich dieses Buch nicht öffnen und dann verschieben sich seine Buchstaben zu einer Fratze, die mich hämisch angrinst. Sie kniff die Augen zu, öffnete sie wieder und das Buch trug den Titel „Die Waldgeschichten“. Es war klar und deutlich zu lesen. Erneut versuchte Runa das Buch zu öffnen, wieder und wieder- sie schaffte es einfach nicht. Sie betastete das Buch Millimeter für Millimeter, in der Hoffnung, einen geheimen Mecha- nismus zu finden. Es war kein Klick zu hören, der das Buch öffnete. „Was mach ich bloß mit dir?“
Ratlos zog sie ihre Beine an den Oberkörper und bettete „Die Waldgeschichten“ zwischen Oberschenkel und Brust. Sie legte den Kopf darauf und umklammerte mit ihren Armen ihre Beine. Die obere Kante des Buches ragte ein Stück über ihre Knie und drückte sich in ihr Ge- sicht, aber es schien Runa gar nicht zu stören. Die Hitze, die sie eben schon einmal verspürte, als sie das Buch aus dem Regal nahm, kehrte zurück.
Ihr wurde so heiß, dass sie befürchtete zu verbrennen. Sie wollte sich der Hitze entziehen, aber konnte sich nicht rühren. Das Buch schloss sie in ihren Bann und gab sie nicht frei. Das verängstigte Mädchen konnte nicht schreien, nicht atmen und war auch nicht in der Lage sich zu befreien. Sterne funkelten in allen erdenklichen Farben vor ihren Augen, Blitze schossen in ihren Kopf und Buchstaben tanzten auf ihren Händen. „Die Waldgeschichten“ erwachten.