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Kapitel 4 Neue Freunde

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Bronto und Heno hüllten sich in Schweigen und sahen Runa an, als ob sie von dem Mädchen durch ihre Fragerei zum Schweigen verdammt wurden. Nach einer Weile ertrug Runa die Stille nicht mehr und fragte: „Würde mir bitte jemand antworten? Warum ist nichts mehr so, wie es einmal war?“ Bronto räusperte sich mehrmals und begann erneut zu sprechen: „Weißt du R-U-N-A, einfach Runa, das ist nicht so einfach zu erklären. Wichtig ist jetzt nur, dass du „Die Waldgeschichten“ öffnen konntest und wir diejenigen sind, denen du zuerst begegnet bist.“

Immer noch unwissend sagte sie: „Das beantwortet in keiner Weise meine Fragen. Und ers- tens: Ich habe das Buch nicht geöffnet, denn es wollte sich nicht von mir öffnen lassen. Es hat mich sogar angegriffen. Und zweitens: Mein Name ist nur Runa.“ „Sagtest du eben nicht zu Heno, er sei einfach Runa?“, fragte Bronto verwirrt. „Also noch mal, ich heiße weder einfach Runa, noch nur Runa. Mein Name ist Runa“, schrie sie genervt.

Der Igel zuckte zusammen, weil Runas Atem beim Schreien ihn doch irgendwie nervös mach- te. Er forderte sie daher auf, sie solle doch bitte nicht so schreien, schließlich hätte sie ja das Verwirrspiel mit ihrem Namen betrieben. „Wie bitte?“, entfuhr es ihr überrascht. „Na ja, egal. Es tut mir Leid. Ich wollte euch nicht anschreien“, entschuldigte sie sich. „Ich weiß gerade gar nicht, was mit mir und meinem Leben geschieht. Meine Familie, Freunde, Nachbarn, alles Leben in meiner Stadt ist ausgelöscht worden. Es gibt niemanden mehr außer mir in Dorfland. Irgendjemand oder etwas hat Dorfland vernichtet und weiß von meinem Überleben. Ich habe keine Ahnung wie es weitergehen soll, und auf einmal taucht ihr bei mir Zuhause auf. Bronto, du bist ein sprechender Igel. Heno, du bist ein Wesen aus einem lebendig gewordenem Buch und sprichst ebenfalls mit mir. Wie soll ich das begreifen? Sagt es mir, bitte! Sonst verliere ich noch den Verstand“, flehte das verzweifelte Mädchen um eine Antwort.

Heno setzte sich auf einen Baumstumpf und schaute Bronto nickend an. „Also Runa“, begann der Hutling. „Es ist so, du hast das Buch geöffnet. Natürlich nicht mit deinen Händen. Das wäre unmöglich gewesen, so kann niemand das Buch öffnen. Du hast es mit deinem Herzen geöffnet.“ Runa zog die Stirn kraus und schaute Heno ungläubig an. Sie wollte den Igel nicht unterbrechen, da sie unbedingt wissen wollte, was er ihr zu erzählen hatte und ließ ihn weiter erklären. „Du fragst dich jetzt sicher, wie das vonstatten gegangen ist. Ich erkläre es dir.“

Runa fragte sich, ob er wohl ihre Gedanken lesen könne und hörte weiter zu. „Das Buch muss irgendwie mit deinem Herz in Berührung gekommen sein. Es hat die Fähigkeit, die Gedanken und Gefühle der Menschen zu spüren. Nur jemand, der eine aufrichtige, unendliche Liebe zu Büchern hat und weiß, welchen Wert ein einzelnes Buch besitzt, ist dazu befähigt, „Die Waldgeschichten“ zu öffnen. Du musst so jemand sein. Ich muss zugeben, dass ich überrascht bin, dass ein kleines, freches Mädchen dieser Jemand sein soll.“ Um sich seine Worte bestä- tigen zu lassen, wendete sich der Waldbewohner an den Igel: „Das Buch hat sich noch nie geirrt. Nicht wahr, Bronto?“ Der kleine Vierbeiner nickte zur Bestätigung.

Heno hat Recht. Ich liebe Bücher über alles. Es gibt nichts Schöneres für mich als zu lesen, mit meinen liebsten Freunden, meinen Büchern Zeit zu verbringen. Verleiht diese innige Liebe mir wirklich Macht? Macht, ein verzaubertes Buch zu öffnen? Ich bin eine Büchernärrin und ich weiß, viele Geschichten entspringen nur der Fantasie irgendeines Erzählers. Dies kann gerade nur ein Traum sein. Kann man in Träumen logisch denken?

„Nein, das kann man nicht, Liebes. Alles geschieht gerade wirklich. Es ist die Realität“, er- tönte eine Stimme in ihrem Kopf. Da ist sie ja wieder diese schöne, melodische Stimme. Ich kann sie wieder in meinem Kopf fühlen. „Nein, das tust du dieses Mal nicht“, erwiderte die Stimme. „Du hörst mich mit deinen entzückenden Ohren.“ Runa glaubte, von allen guten Geistern verlassen worden zu sein. Die Stimme konnte ihre Gedanken lesen und sprach erneut zu ihr: „Hallo Runa. Liebes, schau doch noch mal zu Heno. Ich stehe neben ihm. Ich bin He- nora, Henos Frau und nicht einfach nur eine Flüsterstimme.“

Ein wenig enttäuscht blickte das Mädchen wieder zu dem kleinen Hutling. Neben ihm sah sie einen zweiten Hutling und dieser winkte ihr zu. Henora richtete erneut das Wort an Runa: „Bisher war ich nur eine Stimme für dich, aber jetzt kannst du mich in meiner wahren Gestalt erkennen. Ich war so gespannt darauf, dich endlich kennen zu lernen. Olef hat mir schon so viel von dir erzählt.“ Erstaunt fragte Runa: „Du kennst Olef?“ „Aber natürlich. Er weiß um die Bedingungen des Buches. Bei unserem letzten Gespräch verabschiedete er sich mit den Worten, bei der nächsten Buchöffnung bekäme die wundervollste und außergewöhnlichste Büchernärrin Einblick in „Die Waldgeschichten“. Und da du das Buch geöffnet hast, musst du Runa, die Büchernärrin, sein“, erklärte ihr die Hutlingfrau. „Nenn mich bitte nicht Runa, die Büchernärrin. Das könnte bei gewissen anwesenden Gestalten zu Verwirrungen führen. Nenn mich Runa“, bat Runa Henora. Verständnisvoll nickte Henora ihr zu und sagte: „Ich glaube, ich weiß, was du meinst.“

„Willst du etwa damit sagen, du wärst nicht auf ihr Namenverwirrspiel reingefallen bist, meine liebe Frau?“, rief Heno empört. „Genau, mein lieber Mann. Das Mädchen hat doch ganz deutlich gesagt, sie heiße Runa- einfach Runa“, klärte ihn seine Frau auf. „So nannte ich sie doch, einfach Runa“, protestierte der aufgebrachte Hutling. Runa konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Es war lustig anzusehen, wie sich das Hutlingpaar unterhielt. Für einen Moment glaubte sie, durch ein Puppenspiel unterhalten zu werden.

„Meine lieben Freunde, ich möchte euch ja nur ungern unterbrechen. Aber ich denke, wir ha- ben jetzt Wichtigeres vor, als uns über den Namen des Mädchens zu streiten“, unterbrach Bronto das Paar. Runas Grinsen verebbte. Die Waldwesen verstummten und blickten beide zu dem Mädchen.

Ernst und einen starren Blick auf Runa gerichtet forderte Heno: „Um dir sagen zu können, was geschehen ist, müsstest du uns erst einmal erzählen, was in deiner Welt, in Dorfland, pas- siert ist. Und warum du denkst, alleine zu sein. Wenn das Buch „Die Waldgeschich- ten“ geschlossen ist, haben wir keinen Einblick in andere Orte, außerhalb der „Waldgeschich- ten“. Und es ist noch nie vorgekommen, dass ein Bewohner des Buches es verlassen konnte, so wie Bronto. In der letzten Zeit haben alle im Sommerwald Veränderungen gespürt, dunkle Vorahnungen, aber niemand wusste diese Zeichen zu deuten. Wir ahnten nur, irgendwo wür- de ein großes Unheil geschehen.“ Beeindruckt von Henos sprachlichem Wandel erzählte Ru- na den Dreien die Geschichte in allen Einzelheiten. Und sie ersparte ihnen keins der grausa- men Details.

Als Runa vom Tode Olefs erzählte, brach Henora in Tränen aus. Ihre glänzenden, von Tränen gefüllten Augen, funkelten die Erzählerin schon eine ganze Weile an. Sie vermutete, dass Henora stark sein wollte. Runa verstand die traurige Hutlingfrau nur zu gut. Es erging ihr doch genauso. Heno zog ein Taschentuch aus seiner Westentasche, gab es seiner Frau und schloss sie liebevoll in die Arme. Runa gab den Waldbewohnern einen Moment Zeit, sich ih- rer Trauer zu widmen.

Ein Blick zu Bronto schien dieser als Aufforderung zu verstehen, etwas zu sagen. „Ich frage mich, ob du dir ganz sicher bist, was den Tod aller anderen Bewohner Dorflands angeht? Wurden wirklich alle getötet, außer dir natürlich? Ich meine, du hast erzählt, alles wäre ver- wüstet und das meiste niedergebrannt worden. Du hast aber keine Toten gesehen? Habe ich das richtig verstanden? Nirgendwo hast du Leichen gesehen? Den einzigen Menschen, den du gesehen hast, war der, der dich beobachtet und verfolgt hat?“ Runa antwortete: „Ja, das stimmt. Dorfland ist ausgestorben, aber es gibt keine Toten, die ich begraben könnte. Und mein Beobachter, der mich wahrscheinlich verfolgt hat, ist das einzige Lebewesen, dem ich begegnet bin, außer euch. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob es nicht irgendein böses Wesen gewesen war.“

„Auszuschließen wäre es nicht“, mischte sich Heno ein. „Du meinst also, es gibt außer euch noch mehr bösartige Wesen, die sich hier herumtreiben“, fragte sie an den Hutling gewandt. „Ich will mal eins klar stellen. Wir sind keine Menschen, vielleicht kann man uns als Wesen bezeichnen, aber wir sind nicht bösartig“, beschwerte sich Heno mit seiner anfänglichen, un- freundlichen Stimme.

Henora berührte ihren Mann am Arm und sagte mit beruhigenden Worten: „Mein Lieber, lass es gut sein. Sie hat es nicht so gemeint. Sie ist ja noch ganz verwirrt. Ihr Leben spielt verrückt. Sie ist noch ein Kind. Wie soll sie dies alles begreifen können? Wir wissen doch auch noch nicht genau, was passiert ist. Wir müssen ihr helfen. Vielleicht ist noch nicht alles verloren. Es besteht die Möglichkeit, dass die Dorfländer noch leben und vielleicht irgendwohin ver- schleppt worden sind. Alleine wird Runa es nicht schaffen, etwas zu unternehmen. Sie braucht uns. Wenn das Böse erwacht ist, bedeutet es auch unseren Untergang. „Die Waldge- schichten“ werden sterben und wir mit ihnen. Gemeinsam mit Runa haben wir eine Chance gegen das Böse anzukämpfen. Sei ein Krieger und kein zänkischer Wiesel.“

Heno wollte auf das Wiesel etwas erwidern, aber er schluckte seine Worte lieber runter und stimmte seiner Frau kleinlaut zu. Als Henora über das Böse sprach, fröstelte es Runa. Ein kal- ter Schauer breitete sich auf ihrem Rücken aus und ihre Arme und Beine waren mit einer Gänsehaut überzogen. „Nachdem wir das jetzt endlich geklärt haben, sollten wir nun überle- gen, was wir zu tun haben“, warf Bronto ein.

Inzwischen verlosch das Tageslicht und Runa zündete ein Feuer im Kamin, die Kerzen und Öllampen in der Bibliothek an. „Ich werde mir in der Küche einen Tee aufgießen. Ich bin gleich wieder zurück“, sagte Runa.

Sie brauchte jetzt einen Moment für sich. Ihr Kopf fühlte sich an wie ein gefüllter Wasserei- mer und tosende Wellen schwappten in ihm hin und her. Das Feuer im Küchenherd war bis auf einen kleinen Rest Glut verglüht. Geschickt entfachte das Mädchen das Feuer von neuem und füllte nur so viel Wasser im Kessel nach, wie sie für ihren Tee benötigte.

Während sie in die auflodernden Flammen des Ofens schaute, fragte sie sich, ob das gerade nur ein Traum war. Falls doch und sie mit ihrem Tee zurückginge, würde sie keinen sprechen- den Igel und keine Hutlinge vorfinden, die sie aus einem Buch heraus anschauten und mit ihr sprachen.

Das Wasser im Kessel kochte und sie goss sich ihren Minztee auf. Den noch heißen Kessel hängte sie wieder auf und ging mit ihrem Teebecher zurück in die Bibliothek. Runa wusste nicht, welcher Blick sich beim Betreten des Raumes in ihrem Gesicht abzeichnete, aber er war wohl erschreckend. Eine Stimme sagte zu ihr: „Du siehst uns an, als seien wir das Gruseligste, was du je gesehen hast.“ Daraufhin entspannten sich ihre Gesichtszüge und sie antwortete der Stimme: „Nein, das seid ihr nicht. Ich dachte nur…“ „Du dachtest, wir wären dir nur im Traum erschienen und bei deiner Rückkehr wären wir verschwunden“, vollendete Henora den Satz.

Verblüfft antwortete Runa wahrheitsgemäß: „Ja, das habe ich gedacht. Eure Anwesenheit jedoch, hat mich eines Besseren belehrt. Irgendwie bin ich auch froh, keinen Traum gehabt zu haben. Ich habe Angst vor dem Alleinsein, auch wenn ich glaube, diesen Albtraum überleben zu können. Und nun seid ihr da und ich bin nicht mehr allein. Herzlich Willkommen in Dorf- land, in meiner Bibliothek, in meinem Zuhause.“

Die Ehrlichkeit des Mädchens rührte die Drei so sehr, dass sie ihr dankbar entgegen lächelten. Das Kaminfeuer hatte den Raum erwärmt und die Lichter trugen zu einer gemütlichen Atmos- phäre bei. Runa stellte ihren Teebecher auf den Beistelltisch, nahm das Buch vorsichtig in die Hände und setzte sich mit ihm in den Ohrensessel. Sie nahm eine bequeme Sitzposition mit ineinander verschränkten Beinen ein und legte „Die Waldgeschichten“ auf ihre Oberschenkel. Ein wenig sackte das Buch in der Mitte zusammen. Die Seitenränder des geöffneten Buches ragten in die Luft, wie die Flügel eines Vogels. Runas Beine zitterten ein wenig und das auf- geschlagene Buch drohte sich zu schließen.

Bronto war mit Runas Platzwechsel nicht zufrieden und brachte seinen Einwand vor: „Wenn ihr da oben seid und ich hier unten, bekomme ich Genickstarre.“ Runa entgegnete ihm: „Dann spring oder klettere hoch.“ „Ich bin doch kein haariges Springtier, sondern ein Igel, wie du inzwischen weißt“, setzte ihr der Igel entgegen. Ein wenig genervt sagte das Mädchen: „Ich weiß, dass du ein Igel bist.“ „Das Buch hat mich bei seiner Öffnung durch die Gegend ge- schossen. Ich muss mich wohl direkt am Rand befunden haben, als es sich öffnete. Diese schwindelerregende Hopserei war gar nicht lustig. Im Gegenteil, ich habe mir meine Stacheln gequetscht“, jammerte das kleine Stacheltier. „Oh, das tut mir Leid. Bist du denn wieder okay?“, fragte Runa nach. „Ich denke schon“, sagte Bronto.

Runa beugte sich über die linke Sessellehne und ließ ihren Arm nach unten sinken. Sie legte ihre Hand auf den Boden, damit der Igel sich darauf setzen konnte. Langsam hob sie ihre Hand an und setzte Bronto mit der anderen auf die Lehne. Die Hand des Mädchens begann leicht zu schwanken, denn das kleine Stacheltier war doch schwerer als sie dachte. „So ist es besser“, bedankte sich der Igel.

Im Feuerschein betrachtete Runa das Bild des Sommerwaldes eingehender. Das Auf und Ab der Flammen brachte mit jeder Bewegung eine neue Facette der schillernden Farben zum Vorschein. Ihr erster Blick auf das bunte Bild hatte sie schon überwältigt. Jetzt nahm sie win- zige Details wahr, die sie die ganze Zeit übersehen hatte. Sie hatte auch mehr auf Henoras Stimme geachtet, als auf ihr Aussehen oder Henos.

Für sie sah das Hutlingpaar fast identisch aus, aber dem war nicht so. Außer Heno und Henora kannte Runa keine anderen Hutlinge, aber sie fand, Henora sei eine wunderschöne Hutling- frau. Ihre Augen funkelten wie grün eingefärbte Diamanten und ihr Mund umspielte ein Lächeln, was darauf schließen ließ, wie liebevoll sie war. Ihre Haare waren zu einem dicken Zopf geflochten, der über ihre rechte Schulter bis zum Bauch reichte. Im Schein des Feuers schimmerten sie goldfarben mit kleinen Edelsteinen darin versteckt. Ihre dunkle Trägerhose unterstrich diese Schönheit an ihr. Ihre kleinen goldenen Schühchen rundeten ihr wundervol- les Erscheinungsbild ab. Und das einzige Merkmal, was sie als Hutling auswies, war ihr pilz- kopfartiger Hut. Die breite Krempe war mit vielen kleinen Diamanten bestückt, die in punkt- förmigen Gebilden auf ihr verteilt waren. Die abgerundete Spitze ihres Hutes war unbestückt. In seidigem Hellblau thronte dieser Hut auf ihrem Kopf, farblich abgestimmt mit ihrem gleichfarbigen Hemd, welches sie unter ihrer Trägerhose trug.

Heno trug das gleiche Hemd und den gleichen Hut wie seine Frau. Er mochte keine Träger- hosen, sondern bevorzugte einfache graue Hosen und dazu eine dunkle Weste mit Taschen. Gold gehörte nicht gerade zu seinen Lieblingsfarben, deshalb trug er silberne Schuhe. Seine Augen waren eher dunkelgrün und funkelten nicht so ergreifend wie Henoras. Sein Blick war eher mürrisch, so wie der von Jacob. Wahrscheinlich steckte in seiner rauhen Schale auch ein weicher Kern. Der Hutling mochte auch keine Bärte und schon gar nicht in seinem Gesicht. Er vertrat die Ansicht, ohne Bart sähe er viel jünger aus.

Wider erwartend vernahm Runa eine Botschaft von Henora in ihrem Kopf: „Jeder, der uns zum ersten Mal sieht, ist so überrascht und fasziniert wie du. Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos. Du bist nicht mehr allein. Du hast jetzt Freunde, die dir helfen werden. Mit dei- nen Gedanken kannst du jeder Zeit Kontakt zu mir aufnehmen, solange das Buch geöffnet ist. Runa, du bist ein ganz besonderer Mensch, deshalb hat Olef dir unser Leben anvertraut. Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass wir beide unsere Gedanken verstehen und fühlen können. Das funktioniert nur, weil wir mit einer besonderen Gabe gesegnet sind. Der letzte Mensch, dem ich mit dieser Gabe begegnet bin, den habe ich vor etwa eintausend Jahren kennengelernt. Unsere Gabe ist äußerst selten und es wäre gut, dieses erst einmal für dich zu behalten“, bat Henora sie.

Runa hatte sich noch nie Gedanken darüber gemacht, ob sie eine besondere Gabe habe. Sie selbst hielt sich eher für verrückt, weil sie viel Zeit mit ihren Büchern verbrachte. Neugierig schickte sie Henora eine Frage zu: „Hat unsere Gabe, in Gedanken miteinander zu sprechen, einen bestimmten Namen?“ „Ja, das hat sie. Es ist die Gabe der fühlenden Sprache“, spürte Runa die Antwort der Hutlingfrau in ihrem Kopf.

„Wenn niemand etwas dagegen hat, unterbreite ich euch meinen Plan. Oder möchte von euch jemand seinen Plan zuerst erzählen?“, fragte Bronto in die Runde. „Äh, in Ordnung“, stam- melte Runa, die aus ihren Gedanken gerissen wurde. „Also, ich habe mir Folgendes überlegt“, begann der kleine Igel und erläuterte seinen Plan. Gespannt lauschten die Hutlinge und das Mädchen seinen Worten. „Was sagt ihr dazu?“, fragte Bronto die Drei.

Heno und Henora überdachten seine Worte einen kurzen Moment und nickten zustimmend. „Ich weiß nicht, ob dein Plan gut ist. Wir haben aber auch keinen besseren“, sagte der Hutling. Henora schwieg und Runa äußerte Bedenken: „Deine Idee hört sich einfach an, aber ich glau- be, sie lässt sich nicht so einfach in die Tat umsetzen. Ich bin nur ein Mädchen, du bist ein kleiner Igel und die Hutlinge sitzen im Buch fest.“ „Ich habe auch nicht behauptet, es würde einfach sein. Wenn wir hier bleiben und nur hoffen, helfen wir niemandem und können gar nichts Hilfreiches tun. Wir müssen doch herausfinden, was passiert ist“, entgegnete Bronto.

Henora versuchte Runa zu beruhigen: „Liebes, wir verstehen, dass dir das Verlassen deines Hauses Angst bereitet. Bronto hat Recht. Vergiss nicht, du bist nicht alleine. Wir werden dich begleiten. Du solltest jetzt schlafen gehen, um morgen ausgeruht die Reise antreten zu kön- nen.“ „Ihr glaubt doch nicht, dass ich jetzt schlafen kann?“, widersprach das Mädchen. „Das solltest du aber versuchen, es wird ein anstrengender Tag. Vielleicht sogar Tage oder Wochen. Wir wissen es nicht. Du brauchst deine Kräfte“, pflichtete Heno seiner Frau bei. „Was werdet ihr die Nacht über machen?“, fragte Runa in die Runde. „Ein Igel braucht auch seinen Schön- heitsschlaf. Setz mich einfach zur Kaminbank zurück, ich werde mich dort einrollen und schlafen“, forderte er Runa auf.

„Und was werdet ihr beiden heute Nacht machen?“, wollte sie von Heno und Henora wissen. „Wir werden einen Rat im Sommerwald einberufen und den Ernst der Lage kundtun. Wir können jede Hilfe gebrauchen“, erklärte der Hutling. „Gibt es noch mehr Hutlinge, außer euch beiden?“ fragte Runa interessiert. „Aber ja doch, Kind. Nicht nur Hutlinge. Der Sommerwald hatte viele Bewohner. Ebenso der Herbstwald, der Winterwald und der Frühlingswald. Wir dürfen jetzt keine Zeit mehr verlieren. Die Zeit drängt. Wir sehen uns morgen früh, Liebes. Ich wünsche dir schöne Träume“, verabschiedete sich die Hutlingfrau und zog ihren Mann hinter sich her. „Bis morgen“, verabschiedete sie sich auch.

Runa hielt Bronto ihre Hand hin, er stieg direkt hinein und ließ sich von ihr zum Kamin bringen. Das Buch legte sie geöffnet neben ihn. „Ich danke dir, Runa. Ich hoffe, du findest in den Schlaf“, bedankte sich das Stacheltier. „Ich werde es versuchen, bis morgen“, und sie wünschte ihm eine gute Nacht. „Vertrau uns. Es gib immer Zeiten, in denen die Menschen un- sere Hilfe brauchen. Wir mögen die Menschen, die meisten jedenfalls. Wir helfen ihnen ger- ne“, versuchte der Igel sich mit ermutigenden Worten für die Nacht zu verabschieden.

Mit Brontos Aufmunterung verließ Runa die Bibliothek und ging in ihre Schlafkammer. Sie legte sich ins Bett und da fiel ihr ein, sie hatte ihren Tee gar nicht getrunken. Jetzt war er kalt und würde ihr nicht mehr schmecken. Die Müdigkeit kam wie angeflogen und entführte das Mädchen in einen festen und traumlosen Schlaf.

Als Runa am nächsten Morgen erwachte, begrüßte sie eine rote Sonne in ihrem Bett. Sie dachte darüber nach, was sie heute von ihrer Liste erfüllen wollte und schlagartig kam die Er- innerung an den gestrigen Abend zurück. Sie hatte nun drei Freunde, mit denen sie eine Ver- einbarung getroffen hatte. Für die Drei gab es noch Hoffnung. Sie glaubten, die Dorfländer seien nur verschleppt und nicht getötet worden. Aber es trieb sich etwas sehr Böses um, was unbedingt gestoppt werden musste, sonst bedeutete es wohl den Untergang aller Lebewesen, nicht nur derer in Runas Welt.

Sie musste ihre nötigsten Sachen packen und mit ihren neuen Freunden ihr Zuhause verlassen. Unschlüssig, was wohl das Nötigste sei, lief das Mädchen von einem Zimmer zum nächsten und stapelte alle möglichen Dinge auf den Küchentisch. Vor ihr war ein Berg herangewach- sen, der sie zur Verzweiflung brachte. Sie benötigte dringend Rat. Runa rannte runter in die Bibliothek und kniete sich vor Bronto hin. Dieser war gerade in ein hitziges Gespräch mit den Hutlingen vertieft. Die drei Freunde hatten sie noch gar nicht bemerkt.

Mit lauter Stimme unterbrach sie die Diskussion: „Guten Morgen. Ich störe nur ungern, aber ich brauche dringend einen Rat von euch. Ich weiß nicht, was ich mit auf die Reise nehmen soll.“ „Oh, guten Morgen, Runa“, begrüßte sie Henora. „Entschuldige, dass wir dich nicht be- merkt haben. Wir wissen leider nicht, wo uns unser Weg hinführen wird, auch nicht wie lange wir fort sein werden. Es sollte gut durchdacht sein. Lasst uns gemeinsam überlegen“, forderte die Hutlingfrau alle Anwesenden auf.

Heno, der sehr praktisch veranlagt war, zählte eine Liste der nötigsten Dinge auf. „Es ist Herbst, also benötigst du warme Kleidung. Schal, Mütze und Handschuhe brauchst du jetzt schon für die kälteren Nächte, sollten wir diese im Freien verbringen. Warme Schuhe, eine Decke, ausreichend Proviant und Wasser sind wichtig. Ebenfalls brauchst du Feuersteine und Anzündspäne. Ein scharfes Messer und ein Seil könnten hilfreich sein.“

Warum sie ein Seil einpacken sollte, verstand sie nicht, aber Heno würde wohl wissen, wozu es gut sei, sollte sie eins brauchen. Runa bedankte sich beim Hutling und ging in Gedanken Henos Liste auf dem Weg in die Küche noch mal durch. Sie suchte sich die erforderlichen Sachen heraus und räumte alles andere wieder an seinen Platz zurück. Als ihr Trägerbeutel gepackt war, machte sie einen letzten, wehmütigen Gang durch ihr Haus und kehrte in die Bi- bliothek zurück. Sie versuchte zu lächeln und rief: „Ich bin bereit. Lasst uns in ein Abenteuer stürzen.“

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