Читать книгу Dorfland - Rebecca Hünicke - Страница 6

Kapitel 3 Zukunftspläne

Оглавление

Ein Zischen sauste durch Runas Ohren und sie glaubte taub zu werden. Es schien eine Ewig- keit zu dauern, bis der Spuk ein Ende hatte und alles so war wie zuvor. Keine Hitze, Sterne oder Buchstaben. Auch das Zischen war verebbt.

Runa richtete sich auf und warf das Buch zu Boden. Nie hätte sie sich vorstellen können zu so einer Tat fähig zu sein. Einen Augenblick lang schmerzte sie ihr Tun, aber was hatte das Buch mit ihr angestellt? Es wollte mich töten, qualvoll verbrennen wollte es mich. Nein! Es wollte mich zu sich hineinziehen, Besitz von mir ergreifen- meine Seele stehlen. So hatte sich ihr Herz angefühlt.

Das Buch machte Runa Angst. Anklagend lag es am Fuße des Ohrensessels und schien auf eine Entschuldigung von ihr zu warten. Je länger sie das Buch anstarrte, desto unheimlicher wurde es ihr. Sie nahm ein Kissen von der Bank und warf es auf das Buch. Nun fühlte sie sich ein bisschen besser, aber „Die Waldgeschichten“ waren nicht wirklich verschwunden, sie la- gen noch immer in ihrer Nähe, unter dem Kissen verborgen.

Langsam setzte Runa sich hin und ließ die Füße auf den Fußboden gleiten. Mit den Händen stützte sie sich auf der Bank ab. Immer noch starrte sie wie gebannt auf das Kissen, obwohl sie sich vor dem Verborgenen fürchtete. Ich will einfach nur noch hier raus. Ich muss bloß aufstehen und die Treppe hochgehen, dann bin ich hier verschwunden. Es ist doch ganz ein- fach. Wie immer.

Nein, es war nicht wie immer. Ihr Körper rührte sich nicht. Ihre Füße wollten einfach nicht zur Tür hinauslaufen. Das Mädchen stellte sich eine massive Eisenkugel vor, die die Größe ihres Hauses besaß, so kam sie sich gerade selbst vor. Schwer und unbeweglich. Dazu ver- dammt, auf dieser einen Stelle zu verweilen, bis zum letzten Atemzug. Einer unendlichen Angst ausgesetzt, die von einer machtvollen Bedrohung zu ihren Füßen ausging- einem Buch.

Wie schon so oft in den letzten Stunden, wollte Runa sich von keiner Angst besiegen lassen. Ich will jetzt gehen! Den Blick weiterhin auf das Kissen gerichtet, stand sie langsam auf und machte kleine, vorsichtige, seitliche Schritte in Richtung Tür. Obwohl es sie danach drängte loszurennen, war ihre Anspannung zu groß. Wachsamen Schrittes schlich sie förmlich zur Tür, mit der selbst auferlegten Aufgabe, kein Geräusch von sich zu geben. Das leiseste Geräusch könnte dem Buch ja verraten, dass sie fliehen wollte. Womöglich käme es dann angesprungen um sie in seinem Buchstabenfluss zu ertränken oder mit Haut und Haaren zu verschlingen.

Als Runa endlich an der Tür ankam, vergewisserte sie sich ein letztes Mal, ob das Buch noch verborgen war und rannte schnell die Treppe zur Eingangshalle hoch. Die letzte Stufe ent- puppte sich als Stolperfalle und sie flog förmlich in die Halle. Unsanft landete sie auf dem kalten Steinboden. Bevor sie begriff, was gerade geschah, schmeckte das überraschte Mäd- chen Blut auf ihren Lippen. Ihre Nase schwoll mit pochendem Schmerz rasant an. Runa rap- pelte sich auf und ging in die Küche, tauchte einen Lappen ins kalte Wasser, mit dem sie versuchte die Blutung zu stoppen. Dabei blieb sie am Küchenfenster stehen und schaute hi- naus in den Garten.

Es dauerte nicht lange, bis die Blutung gestillt war und in der kurzen Zeit fragte sie sich aufs Neue, wieso sie sich vor einem Buch gefürchtet hatte. Sie hatte doch schon viele Bücher gele- sen. Bücher mit grausamen Geschichten, die gruselig und spannend waren, aber nie hatte sie Angst gehabt. Im Gegenteil, je gruseliger eine Geschichte war, desto besser. Sie kannte ja nicht einmal den Inhalt dieses Buches. Wenn sie so über das Buch nachdachte, war es nicht das Buch selbst, was sie ängstigte, sondern das, was geschehen war, als sie es berührte. Ihre Berührung mit dem Buch verlieh ihm eine unendliche Kraft, die von ihr Besitz ergreifen und sie beherrschen wollte. Aber warum?

Ein leises Knurren erinnerte sie daran, dass sie kaum etwas gegessen hatte und der Brotteig zum Backen noch unter einem Tuch in einer Schüssel wartete. Runa zog die Backplatte aus dem Ofen, formte aus dem Teig einen runden Laib und schob ihn auf der Platte in den Ofen. In der Vorratskammer lagerten in Weidenkörben reichlich Äpfel und Birnen. Sie nahm sich je ein Stück und erblickte gleichsam den Milchkrug. Ein Becher Milch zum Obst würde sie wohl erstmal sättigen. Sie nahm den Krug vom Regal und ein säuerlicher Geruch schlug ihr entgegen.

Angewidert hielt sie den Krug von sich und ging mit ihm durch die Küche in den Garten. An der Stelle, an der sie bereits heute Morgen ihr Badewasser entleert hatte, goss sie auch die verdorbene Milch aus. In dem weißen See, der sich im Gras bildete, schwammen kleine schwarze Fliegen auf den milchigen Klumpen, die vom Säuerungsprozess in der Milch ange- zogen wurden. Die Milchklumpen sahen wie kleine Eisschollen aus, die die Fliegen vorm Er- trinken retten sollten, aber für die Insekten kam jede Hilfe zu spät.

Am Brunnen schöpfte Runa Wasser, um den Krug auszuspülen, damit sich in ihm kein Schimmel bildete. Anschließend brachte sie ihn ins Haus und verspeiste ihr Obst. Die Früchte schmeckten ihr köstlich. Der Duft des frisch gebackenen Brotes ließ ihr das Wasser im Mun- de zusammen laufen. Sie liebte diesen Geruch, er hatte etwas von Geborgenheit.

Gerne würde sie jetzt in die Bibliothek gehen und ihr bereits begonnenes Buch „Flüster- zeit“ weiterlesen. Beim Aufräumen hatte sie es im Sessel vorgefunden und rechts auf den kleinen runden Tisch neben ihm gelegt. Der Schreck über das, was sie mit den „Waldge- schichten“ erlebt hatte, saß noch tief in ihr. Sie musste aber jetzt etwas tun, irgendetwas Sinn- volles, was sie ablenkte und vergessen ließ. Eine Möglichkeit war, in die Stadt zu gehen, um zu sehen, was noch zu retten oder zu gebrauchen sei. Oder sie könnte auf den Wiesen Aus- schau nach Nutztieren halten. Falls sie noch welche fand, müsste sie überlegen, welche Unter- bringungsmöglichkeiten sie für sie bei sich hätte.

Runa war so voller Tatendrang, ihr Leben zu retten. Sie wollte überleben, nicht sterben. Aber was würde passieren, wenn sie ihrem Verfolger über den Weg liefe? Hätte sie dann überhaupt eine Überlebenschance? Sie musste sich einen Plan machen, einen sicheren, der realistisch war, der eine Zukunft hatte. Erst, wenn sie den hatte, würde sie sich wieder in die Stadt trauen. Was konnte sie jetzt tun?

Die Abfälle des Obstes riefen eine Idee in ihr hervor. Runa ging in ihre Schlafkammer und holte Papier und einen Schreiberling. Damit ging sie in die Vorratskammer und vermerkte, was sie an Nahrungsmitteln und sonstigen Vorräten vorfand. Zufrieden über ihren Fund, setz- te sie sich an den Küchentisch und überschlug, wie lange sie wohl damit hinkommen könnte. Wenn sie sparsam lebte, würde sie es über den Winter schaffen und vielleicht sogar bis in den Frühling. Also konnte sie sich noch Zeit lassen, bis sie ihre Erkundungstour in die Stadt machte. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Rumtreiber bis dahin verschwunden war, schien doch größer zu sein.

Das Feuer im Ofen war fast runtergebrannt, und Runa nahm das fertig gebackene Brot raus. Die Hitze, die das heiße Brot abgab, wärmte ihre Hände und ihre Nase sog den herrlichen Duft ein. Anschließend legte sie Holz nach, damit das Feuer seine neue Kraft entfalten konnte. Dann goss sie neues Wasser in den Kessel, um später Tee aufbrühen zu können. Der Holzvor- rat unter der Ofenbank neigte sich dem Ende zu, was dem Mädchen eine neue Aufgabe stellte. Sie ging zum Holzschuppen und nahm Arons Beil vom Haken. Ihre Hände sackten Richtung Boden und Runa musste Acht geben, damit sie sich das Beil nicht selbst ins Bein hackte. Sie hätte nicht gedacht, dass dieser kleine, handliche Gegenstand so schwer sein könnte. Der Hackklotz stand ihr gegenüber und dicke Holzscheite, die auf die Zerteilung warteten, lagen auf einem großen Haufen daneben.

Bei Vater und Onkel Aron sah es immer so leicht aus. Dann kann ich das doch auch schaffen. Sie nahm sich einen dicken Holzklotz vom Haufen und stellte ihn auf den Hackklotz. Das Ge- wicht des Beils lastete schwer in ihren Händen. Hoffentlich überlebe ich das jetzt und begehe nicht Selbstmord? Auf meinem Grabstein stünde dann geschrieben:

DIE AUSROTTUNG DORFLANDS HATTE SIE ÜBERLEBT, ABER DAS HOLZHACKEN WURDE IHR ZUM VERHÄNGNIS. RUNA ERSCHLUG SICH MIT EINEM BEIL BEIM HOLZHACKEN- IRONIE DES SCHICKSALS.

Zaghaft schlug sie die Klinge des Beils in den Klotz, sie blieb stecken, anstatt ihn zu spalten. Nach langem Hin- und Herziehen bekam sie die Klinge aus dem Holzstück heraus, stellte es erneut auf und wagte einen neuen Versuch, der genauso kläglich endete, wie der erste. Bei je- dem weiteren Versuch legte sie mehr Kraft in das Beil, in dem sie mit mehr Schwung aus- holte, bevor sie zuschlug. Nach fünf Versuchen hatte sie ihr erstes Holzstück gespalten und schwitzte wie nach einem stundenlangen Marsch. Bereits jetzt schmerzten ihre Arme und dabei hatte sie gerade mal drei Scheite, die sie gleich im Küchenfeuer nachlegen konnte. Da sie sich immer wieder mit den Worten neu anspornte: „Ich schaffe das!“, machte sie sich kei- ne Gedanken mehr darüber, wie sie es schaffen sollte, sondern tat, was getan werden musste.

Viele Stunden verbrachte Runa im Schuppen und hatte doch noch einen ansehnlichen Stapel erarbeitet. Sie wusste nicht mehr, nach welchem Versuch sie die richtige Schlagtechnik raus- gefunden hatte, aber sie hatte ihr Ziel erreicht. Sie konnte jetzt Holz hacken. Natürlich war ihr Ergebnis nicht so ergiebig wie Arons Ertrag nach dieser Zeit, fürs Erste jedoch stimmte sie ihr Ergebnis zufrieden. Das stolze Mädchen hängte das Beil zurück an seinen Platz und sammelte die gehackten Holzscheite in einem Weidenkorb an der Wand. Die kleineren, abgesprungenen Holzstückchen legte sie in eine Kiste, brachte sie in die Küche und leerte sie ins Fach der An- zündspäne.

Das ausgekühlte Brot auf der Anrichte signalisierte ihr, dass sie die Arbeit hungrig gemacht hatte. Eiligen Schrittes begab sich das hungrige Mädchen zurück zum Schuppen, um einen Teil der Scheite in der Küche zu lagern. Ihre neue Aufgabe hatte sie so sehr in Beschlag ge- nommen, dass Runa gar nicht bemerkte, wie die Dämmerung hereinbrach. Ein heißes Bad wäre gut, aber jetzt noch Wassereimer schleppen, dazu konnte sie sich nicht mehr aufraffen, obwohl sie so verschwitzt war. Runa liebäugelte mit dem See.

Verlockend, aber kalt. Leider stinke ich nach einer Horde Bauern, die sich seit einem Jahr nicht gewaschen hat. Ihr Vergleich war wohl etwas übertrieben, denn sie hatte ja erst gestern Abend gebadet, aber sie fühlte sich halt so. Reinlichkeit war ihr äußerst wichtig. Diese Acht- samkeit oder Krankheit, wie manche sagten, die von Runas fast täglichen Bädern wussten, hielt viele Krankheiten von ihr fern. Sie erkrankte äußerst selten und wenn, war es nie bedroh- lich.

Das Wohlbefinden hatte gesiegt. In Windeseile schlüpfte sie aus ihrer Kleidung, ging in den See und tauchte bis zum Hals ab. Runas Körper reagierte sofort mit Zittern und einer Gänse- haut. Ihre Zähne klapperten so laut, dass man meinen könnte, es beginne zu donnern. Wer nicht stinken will, muss leiden. Mit ihren Händen schöpfte sie Wasser und ließ es sich übers Gesicht laufen. Sie fühlte sich wieder wie Runa. Wie sie selbst. Das erfrischte Mädchen verließ den See, nahm ihre Sachen und ging triefend wie sie war zum Haus. Sie warf ihre Kleidung achtlos auf einen Schemel und stellte sich zum Trocknen an den Ofen.

Das Sonnenlicht war erloschen und Runa zündete die Öllampe in der Küche an. Inzwischen war sie getrocknet. Sie zog sich wieder an und bemerkte erst jetzt richtig, wie sehr ihre Arme und Schultern schmerzten. In ihren Handflächen hatten sich Schwielen gebildet, die durch die Reibung mit dem Holzgriff des Beils entstanden waren. Jede weitere Bewegung sendete ihr einen Blick in ihre Zukunft. Diese Schmerzen werden sie wohl auf lange Sicht begleiten und daran erinnern, wofür sie dieses Leiden auf sich nahm. Leiden für ein sicheres Leben.

Das Wasser im Kessel war größtenteils verdampft. Eine kleine Pfütze bedeckte den Boden des Kessels und reichte noch so gerade für einen Becher Minztee. Zwei Stängel Minze hingen noch am Kräuterrad unter der Decke. Wie passend. Für morgen früh habe ich noch Minze übrig. Runa schrieb auf ihre Liste: MINZE SAMMELN UND EINEN WINTERVORRAT ANLEGEN und unterstrich ihren Hinweis zweimal. Ein Tag ohne Minztee wäre unvorstellbar. Anschließend schnitt sie sich ein Stück Brot ab, holte Käse und Obst aus der Vorratskammer und ließ sich ihr Abendmahl schmecken.

Das Knistern und Knacken des Holzes im Ofen war das einzige Lebendige, was ihr Gesell- schaft leistete. Beim Essen blickte sie auf ihren Tag zurück und war stolz auf sich, dass sie etwas Sinnvolles geleistet und einen kleinen Plan hatte, der ihr Überleben unterstützen konnte. Runa stellte fest, dass sie eine andere, neue Erfahrung gemacht hatte, sie hatte nicht eine Seite gelesen.

Seit sie mit vier Jahren Lesen gelernt hatte, war kein Tag in ihrem Leben vergangen, ohne ge- lesen zu haben- bis heute. Sie hatte es gar nicht vermisst. Das Mädchen mochte nicht mehr nachdenken und ein Gähnen kündigte ihre Müdigkeit an. Müde und erschöpft löschte Runa die Feuer in der Küche und ging schlafen.

Früh am Morgen des nächsten Tages sammelte Runa im Garten Minze. Ihren Ertrag teilte sie in zwei Hälften auf. Einen Teil für den täglichen Gebrauch und den anderen zum Trocknen des Wintervorrates. Heute wollte sie auch mit der Getreideernte beginnen. Im Schuppen stand der Tragekorb von Fera, den sie sich für Besorgungen auf den Rücken schnallte. Den wollte sie sich holen und Arons Sense, die ihm ein befreundeter Bauer einst schenkte, weil er ihm bei der Ernte aushalf. Proviant für den Tag wickelte sie in ein erdfarbenes Tuch ein und füllte einen Wasserschlauch am Brunnen auf. Sie wollte jetzt keine Zeit mehr verlieren und später auf dem Feld ihr Morgenmahl einnehmen.

Während Runa den Baumring durchschritt und auf die Außenstraße trat, wurde ihr ganz mul- mig. Ihr Herz raste. Das Weizenfeld lag in Sichtweite. Sie musste gar nicht weit gehen, aber das kurze Stück Weg zu beschreiten, flößte ihr Angst ein. Hinter den Bäumen, dort wo ihr Haus verborgen lag, schien sie sicher zu sein. Bis jetzt wurde sie von niemandem entdeckt. Das ängstliche Mädchen verweilte noch einen Moment auf der Stelle und lauschte den Geräu- schen, die sie einhüllten. Sie konnte nichts Besonderes vernehmen. Der Wind spielte sein Lied in den Bäumen, die Vögel flogen umher und zwitscherten sich zu.

Ein Igel spazierte an ihr vorbei, ohne sie weiter zu beachten. Der Igel erschien Runa noch recht klein. In seinen graubraunen Stacheln hatten sich gelb verfärbte Lindenblätter verfangen. Die Dreizehnjährige musste bei seinem Anblick lächeln. Sie mochte Tiere sehr, besonders so niedliche, wie diesen kleinen Kerl.

Ich bin nicht allein. Das Leben geht weiter. Sie ging in die Hocke und besah sich den Igel ge- nauer. Das Stacheltier unterbrach seinen Spaziergang, reckte seine spitze Schnauze herum, warf einen Blick auf sein Gegenüber, schnüffelte kurz und ging seiner Wege. „Ich wünsche dir, dass du über den Winter kommst, damit wir uns vielleicht noch mal begegnen, du kleiner Igel. Ich heiße Runa und wohne hinter den Eichen und Kastanien. Wenn du magst, kannst du gerne bei mir überwintern. Bei mir hättest du es gut.“ Runa hatte nicht wirklich damit gerech- net, eine Antwort von dem Tier zu bekommen. Aber er blieb noch mal stehen, schaute zurück zu Runa und passierte weiter die Straße, um auf die andere Seite zu gelangen.

Der kleine Igel erschien dem Mädchen so mutig. Er spazierte hier einfach in der Gegend herum. Es störte ihn überhaupt nicht, dass sie da stand. Er ging einfach an ihr vorbei. Wenn du das kannst, dann kann ich das wohl auch. Mit der Sense in der Hand und dem Korb auf dem Rücken zog sie weiter zum Weizenfeld. Um in der Nähe des Hauses zu bleiben, beschloss Runa direkt an der ersten Feldecke, auf die sie zuging, mit ihrer Arbeit zu beginnen. Den Korb legte sie im Schatten unter einer Blutbuche ab, die den Wegesrand wie ein Wächter bewachte.

Sowie Vorsicht mit dem Beil geboten war, galt dies auch für die Sense. Mit langsamen Bewegungen hieb sie die ersten goldenen Halme ab. Der erste Hieb war ein direkter Erfolg, im Gegensatz zum Holzhacken. Das Schwingen der Sense fühlte sich viel leichter an und mit jedem Hieb hatte sie eine gute Hand voll Ähren beisammen. Runa arbeitete stundenlang, ohne Pause. Sie war so überwältigt von dem, was ihr gelang. Am Ende ihrer Arbeit hatte sie einen so hohen Ertrag erzielt, dass sie hätte drei Körbe füllen können. Ein Drittel der Halme ver- staute sie im Korb, die anderen stapelte sie und würde sie später abholen. Aber erst wollte sie etwas essen, denn das hatte sie sich jetzt verdient.

Ihre erste Ladung Halme legte sie im Schuppen an eine Wand. Dort hatte sie heute Morgen vor ihrem Aufbruch Platz dafür geschaffen. Beim zweiten Gang zum Feld zögerte sie nur kurz, die Straße zu betreten und beim letzten ging sie zielstrebig los, um das letzte Drittel Ähren abzuholen. Nachdem ihre Ernte gut verstaut war, nahm sie einen der Obstkörbe, las die Äpfel und Birnen aus dem Gras im Garten auf und legte im Schuppen einen Vorratsspeicher an. Das gehörte zu ihrem Plan. Ihre neuen Aufgaben gefielen ihr und lenkten sie von den bö- sen Geschehnissen ab, obwohl gerade sie dafür gesorgt hatten, eigene lebenswichtige Ent- scheidungen zu treffen.

Nach getaner Arbeit war ein Bad im See sehr erfrischend. Die Arbeit hatte sie sehr hungrig gemacht und sie genoss ihr langes und ausgiebiges Abendmahl. Kaum hatte sie ihr Essen be- endet, spürte sie eine Sehnsucht in sich aufsteigen. Diese brachte sie eigentlich nur damit in Verbindung, wenn sie bei Olef ein neues Buch sah, was sie unbedingt haben wollte. Eigent- lich war es nicht die Sehnsucht nach einem neuen Buch, sondern danach, ein Buch in die Hand zu nehmen. Heute hatte sie noch nicht einmal eins in den Händen gehalten. So durfte es nicht weiter gehen.

Mein Tagesablauf hat sich geändert, okay. Ich habe ja nicht von morgens bis abends gelesen, sondern auch meine Pflichten erfüllt. Aber gar nicht mehr lesen? Das würde ich nicht über- leben. Es ist ja auch nicht so, dass ich keine Zeit mehr dafür hätte. Es liegt wohl eher am so genannten Buch in meiner Bibliothek, was unschuldige Menschen verschlingt.

Runa kam ein Geistesblitz. Sie ging noch einmal in den Schuppen und nahm die Sense und das Beil mit ins Haus. Na warte, du Ungetüm, dir werde ich es zeigen, mich aus meiner Bibliothek zu vertreiben. Ich werde dich töten, wenn es sein muss. Niemand drängt sich zwi- schen mich meine Bücher und schon gar nicht… ein Buch. Auch kein altes und schönes Buch. Ich werde meine Freunde vor dir… Buch beschützen.

Aufgebracht stampfte das bewaffnete Mädchen die Stufen zur Bibliothek herunter. Mutig, wie sie selbst fand und sagte sich dabei, sie sei kein Angsthase. Auf der letzten Stufe hielt sie inne und starrte auf die Stelle, an der sie das Kissen mit dem darunter verborgenem Buch zuletzt gesehen hatte. Das Kissen lag nicht mehr auf dem Boden, sondern wieder auf der Kaminbank. Das Buch jedoch lag geöffnet auf dem Boden. Wie konnte das sein? Ich bin allein im Haus. Bevor sie das Grundstück verließ, hatte sie alles abgeschlossen und nachgeprüft, ob auch wirklich alle Türen verschlossen waren. Es gab keine Einbruchspuren.

Gestern hatte sie mehre Versuche unternommen das Buch zu öffnen und war daran gescheitert. Jetzt lag es plötzlich geöffnet vor ihr. Runa ließ hektische Blicke in alle Ecken des Raumes wandern, aber da war niemand. Eigentlich wollte sie eine mutige Kriegerin sein, dem Buch den Kampf ansagen und es notfalls auch töten. Das geöffnete Buch hatte sie überrumpelt.

Ihre Neugier auf das Buch war viel zu groß, als dass sie noch ans Kämpfen denken konnte. Sie fühlte sich lächerlich, so wie sie jetzt vor dem Buch stand, in der einen Hand das Beil, in der anderen die Sense, um das Buch zu töten. Erleichtert, von niemandem gesehen worden zu sein, legte sie ihre Waffen nieder und kniete sich auf den Boden, vor das Buch.

„Die Waldgeschichten“ waren mittig aufgeschlagen. Kein Text blickte ihr entgegen, sondern eine atemberaubende Zeichnung. Aus der Mitte erstreckte sich auf beiden Seiten ein alter, stark und anmutig gezeichneter Baum entgegen. Er war kahl und Runa war nicht sicher, wel- cher Baum dort abgebildet war. Sie vermutete, es sei eine Eiche. Bei genauer Betrachtung sah sie, dass winzige Punkte um die Äste herum platziert waren. Vielleicht ist es gerade Nacht und die Punkte stellen Sterne da. Links und rechts des Stammes waren wirre Striche und Schnörkel verteilt. Einiges erinnerte das Mädchen an Schneckenhäuser, verdrehte Schlangen und Fleischerhaken, die Toron in seinem Fleischladen zum Abhängen der Fleischkeulen be- nutzte. Die Striche waren für sie einfach nur Striche, was anderes konnte sie in ihnen nicht erkennen.

Sobald Runa etwas sah, was sie faszinierte, musste sie es nach Möglichkeit mit allen Sinnen wahrnehmen, besonders mit ihren Händen. Wie bei jedem Buch wollte sie auch das Bild mit ihren Fingerspitzen berühren, darüber streichen und das Papier fühlen. Die Tintenstriche nachfahren, die sich auf dem Papier abzeichneten und erleben, wie sich beides miteinander verband. Es war ein Reflex, den die Büchernärrin gar nicht steuern konnte.

Sie hatte das Gefühl, dieses Buch würde mit ihr sprechen und ihr seine Geschichte erzählen. Nicht, dass sie eine wirkliche Stimme gehört hätte, sie fühlte die Stimme des Buches in ihrem Kopf. Eine melodische, sanfte und fröhliche Stimme. Sie war wie verzaubert. Die Bücher- närrin schloss die Augen, um sich besser auf sie zu konzentrieren, wollte ihr lauschen. Runa wünschte sich, sie würde nie mehr aufhören mit ihr zu sprechen.

Die Stimme erzählte ihr etwas über „Die Waldgeschichten“, was sie aber gar nicht ganz ver- stand. Es schien dem Mädchen auch nicht wichtig zu sein, wichtig war ihr nur, dem Klang der Stimme zu lauschen. Obwohl sie in Trance war, verstand sie zwei Worte ganz deutlich, „Buch“ und „berühren“. Wieder und wieder drangen die Worte bei ihr durch. Runa öffnete die Augen und berührte mit der rechten Hand das Bild.

Ganz sanft fuhr ihr rechter Zeigefinger über die einzelnen Linien des Baumes und berührte jeden Punkt, der sich um ihn herum befand. Ebenfalls zeichnete ihr Finger die Striche und Schnörkel, die unterhalb des Baumes gezeichnet waren, nach. Als das letzte Symbol eine Be- rührung durch das verzauberte Mädchen erlebte, stiegen kleine, gelbe Sterne aus dem Buch empor und wirbelten über „Die Waldgeschichten“ durch die Luft. Runa traute ihren Augen nicht und kniff ihre Augen mehrmals fest zu, es half nichts. Vor ihrem Gesicht glühten und funkelten unzählige, kleine Sterne. Ihr Gesicht glühte bereits, weil die Sterne eine wohlige Wärme ausstrahlten.

Als Kind hatte sie so etwas einmal geträumt. Sie hatte ein Zauberbuch und immer, wenn sie sich etwas wünschte, kamen Sterne aus dem Buch, die ihre Wünsche erfüllten. Das ist doch nicht möglich?

Viele Sterne veränderten ihre Farbe. Aus goldgelb verwandelten sie sich in rote, grüne, blaue, orange- und lilafarbene Sterne. Die bunten Sterne ließen sich auf das Bild gleiten und erlo- schen vor ihren Augen. Noch ganz benebelt von dem Lichterspektakel, hatte Runa gar nicht bemerkt, dass die Sterne nicht wirklich erloschen waren, sondern ihre Farben in das Bild ge- sprüht hatten. Als der letzte Stern verschwand, erst da bemerkte sie, was die Sterne vollbracht hatten.

Vor ihr lag nicht einfach ein buntes Bild, es war ein Kunstwerk, dessen Farben so in der Natur gar nicht vorkamen. Glitzer umspielte die grünen Blätter am Baum. Die Sonne leuchtete gol- den und das Wasser schimmerte smaragdfarben. Die Farben schienen durch das Bild zu flie- ßen und erleuchteten jeden Millimeter des Bildes. Die Punkte hatten sich in Blätter verwan- delt und die Schnörkel und Striche in unterschiedliche Darstellungen. Ein Blumenmeer auf einer saftig grünen Wiese ließ vermuten, dass es Sommer auf diesem Bild war. Hinter dem Baum zeichnete sich ein smaragdfarbener Fluss ab. Bunte Schmetterlinge und Vögel durch- flogen die Landschaft und zwei Pilze standen auf der Wiese in der Nähe des Baumes.

Runa war der Ansicht, diese beiden Gewächse passten nicht so recht ins Bild. Auf dem Bild war es Sommer und nicht Herbst. Sie fand diese kleinen Pilze aber auch irgendwie niedlich und berührte sie. Für einen Moment glaubte sie, die Pilze hätten sich bewegt, was natürlich unmöglich war. Aber als ihr jemand eine Drohung entgegenbrachte, fuhr sie erschrocken zu- rück.

„Was fällt dir ein, uns einfach umzuschubsen, du komisches, großes Etwas? Mach das nie wieder, sonst kannst du was erleben“, ertönte eine wütende Stimme. „Wer spricht da?“, fragte das erschrockene Mädchen mit zittriger Stimme. „Ich!“, polterte die wütende Stimme zurück. „Wer ist ich?“, fragte Runa leise zurück. „Ich bin Heno. Ich bin einer von den Hutlingen, die du gerade grundlos geschubst hast“, gab die wütende Stimme zur Antwort.

Vorsichtig beugte sie sich wieder vor und streckte zaghaft ihr Gesicht dem Buch entgegen. Sie wollte ergründen, was da gerade im Bild passierte. Plötzlich schrie sie auf: „Au! Das tut weh.“ Heno, der Hutling, hatte ihr seinen Säbel in die Nasenspitze gepiekt. Ärgerlich fragte sie: „Warum tust du mir weh, du Wicht?“ Empört erklärte Heno: „ Ich bin kein Wicht, son- dern ein Hutling.“ „Von mir aus auch ein Hutling. Also, was sollte das gerade eben?“, fragte Runa.

Immer noch verärgert sagte der Hutling: „Du hast angefangen. Du hast geschubst.“ Das ver- wunderte Mädchen versuchte sich versöhnlich zu geben und erklärte: „Ich wusste doch nicht, dass ihr lebendig seid. Ich dachte ihr wärt…, wärt…“ „Ich höre. Was sind wir denn in deinen Augen?“, unterbrach Heno die Stammelnde ungeduldig. Leise, fast flüsternd antwortete sie: „Pilze. Ich dachte ihr seid Pilze.“ „Sagtest du gerade Pilze, du komisches, großes Etwas?“, fragte der kleine Kerl ganz aufgebracht. „Ja, das sagte ich. Und nenn‘ mich nicht komisches, großes Etwas. Ich heiße Runa“, forderte sie ihn auf.

Sie buchstabierte dem Hutling ihren Namen: „R-U-N-A. Einfach Runa.“ In einem ruhigeren Tonfall erklärte Heno ihr: „Okay, R-U-N-A einfach Runa. Wir sind keine Pilze. Das ist die schlimmste Beleidigung, die ich je gehört habe. Wir sind…“. „Ja, ja, ich weiß, ihr seid Hut- linge“, unterbrach sie seine Erklärung. „Ja, genau. Vergiss das nicht, sonst…“, versuchte er eine Drohung auszusprechen. „Sonst was? Stichst du mich wieder mit deinem Stöckchen?“, forderte das Mädchen ihn heraus. „Das ist kein Stöckchen, sondern ein Säbel, mit dem ich schon viele Siege errungen habe“, empörte sich Heno. „So, so“, tat Runa bewundernd und fragte: „Wieso lebt ihr in einem Buch? Wieso seid ihr überhaupt lebendig?“

Der Buchbewohner konterte mit einer Gegenfrage, anstatt zu antworten: „Warum lebst du denn?“ Wie selbstverständlich antwortete sie: „Ich lebe, weil ich ein Mensch bin. Aber du bist nur eine Figur in einem Buch.“ „Ich lebe nicht in einem Buch. Ich lebe mit anderen Hutlingen in einem Wald. Im Sommerwald“, antwortete der kleine Mann beleidigt.

Links vernahm Runa einen Schatten aus dem Augenwinkel und blickte irritiert zur Kaminbank. Unterhalb der Bank schaute sie etwas Braunes und Rundes mit einer spitzen Na- se an. „Hallo R-U-N-A, einfach Runa. Schön, dass du mich auch mal bemerkst. Hier ein klei- ner Tipp von mir, stelle dich gut mit Heno, sein Gezanke kann schon nervtötend sein.“

Völlig verdutzt blickte Runa zurück zum Buch und sah direkt in Henos Augen. Gereizt fragte dieser: „Mit wem hast du da gerade gesprochen?“ Bevor das Mädchen antworten konnte, kam das braune, runde Etwas mit der spitzen Nase zum Buch gelaufen und übernahm das Wort für sie: „Hallo Heno. Lange nicht mehr gesehen, was?“

Der Hutling beugte sich weiter vor, als ob er beabsichtige, aus dem Buch herauszuklettern und fragte: „Bronto? Bronto, bist du das?“ „Ja, natürlich bin ich es“, antwortete dieser. Runa fand ihre Stimme wieder und sagte verwundert: „Du bist ja ein sprechender Igel.“ „Ja, klar bin ich ein sprechender Igel. Oder sehe ich etwa so aus wie ein Hutling?“, fragte Bronto. „Nein, ich denke nicht“, stotterte die Überraschte. „Gut, dann wäre dies ja geklärt“, sagte der Igel und schaute wieder zu Heno in das Buch.

„Also, wenn ich im Sommerwald bin und du bei R-U-N-A, einfach Runa, dann bedeutet das, dass… oh nein“, wimmerte der Hutling. „Doch, ganz genau das bedeutet es, Heno“, antwortete Bronto traurig. „Könnte mich mal jemand aufklären, warum ich im Besitz eines lebendigen Buches bin, ich mit dem Inhalt dieses Buches reden kann und dieser mir so ganz nebenbei Verletzungen zufügt? Ach ja. Und warum ein sprechender Bronto- Igel mit mir und dem Inhalt dieses Buches sprechen kann- und das alles in meiner Bibliothek?“, forderte Runa die beiden zu einer Antwort auf. Bronto erklärte ihr nur: „Ich bin wieder hier, weil du mich zum Überwintern eingeladen hast.“ Dann schwieg er.

Dorfland

Подняться наверх