Читать книгу Das Lied des Paradiesvogels - Rebecca Maly - Страница 10
KAPITEL 2
Оглавление„Nimm meine Kamera“, rief Vater, während Daniel missmutig zurück ins Fotostudio ging, um die Apparate auszutauschen.
Dorothea stand mit klopfendem Herzen neben ihm. Sie hatte Vater noch immer nicht gefragt, dabei wollte sie sich gar nicht ausmalen, nicht mitzudürfen.
„Vater?“, sagte sie leise und legte eine Hand auf seinen Unterarm. Viel zu oft behandelte er seine Tochter wie Luft, doch jetzt musste er ihr zuhören und ihr gewogen sein, denn Thea hatte einen Plan, der nicht schiefgehen durfte.
„Vater, hören Sie mich an, darf ich Daniel begleiten? Bitte erlauben Sie es mir, bitte!“
Er wandte langsam den Kopf und sah sie an, als sei sie ein Hund, der überraschend einen besonderen Trick gezeigt hatte.
„Was sagst du?“
„Ich möchte meinen Bruder begleiten. Bitte erlauben Sie es, es ist mein Geburtstagswunsch.“ Der war in vier Tagen, ihr Achtzehnter, und sie legte keinen Wert auf eine Feier oder Geschenke. Ein Fünkchen Freiheit war alles, was sie sich ersehnte.
Vater schüttelte unwirsch den Kopf. „Das ist nichts für eine Frau. Er wird den ganzen Tag umherfahren und zweimal in Gasthöfen übernachten müssen. Kein Ort für hübsche junge Damen aus gutem Hause. Elisabeth hat außerdem gesagt, dass du deine Handarbeiten sträflich vernachlässigst.“
„Ich nehme sie mit, versprochen. Es ist doch Frühling, so schönes Wetter. Die Gasthöfe machen mir nichts aus. Daniel ist ja bei mir. Außerdem erzählt Mutter mir bei jeder Gelegenheit, wie Sie früher gemeinsam Ausflüge und Reisen unternommen haben und wie sehr sie das genossen hat.“
Vater besaß dunkle, buschige Augenbrauen, und er hatte es zur Kunst perfektioniert, seine Stimmungen damit auszudrücken. Nun zog er sie kritisch zu einer geraden Linie zusammen.
Sie sah ihn flehentlich an und drückte seinen Arm. Offenbar wurde ihm langsam klar, wie wichtig es ihr war, denn seine sonst so gestrenge Miene wurde weicher. „Weiß deine Mutter schon von euren Plänen?“
„Nein, und eigentlich weiß Daniel es auch noch nicht“, gestand sie, während in ihrem Bauch ein wildes Kribbeln erwachte. Ihr Bruder würde sicher nichts dagegen haben. Sie unternahmen, seit sie sich erinnern konnte, immer alles gemeinsam.
„Dann solltest du sie beide zuerst fragen, und wenn sie nichts einzuwenden haben, will ich nicht so sein.“
„Danke, danke, danke“, jubelte Thea und reckte sich, um ihrem Vater einen Kuss auf die bärtige Wange zu geben. „Das werde ich Ihnen nie vergessen.“
Zwei Stunden später saß Thea neben Daniel auf dem Kutschbock von Vaters kleinem, geländegängigem Einspänner und hielt die Zügel in der Hand. Ihr Bruder ließ sie immer fahren, sobald die Eltern nicht dabei waren.
Im flotten Trab ging es aus der Stadt hinaus. Die Straßen mit ihren Kopfsteinpflastern, Fuhrwerken und Handkarren lagen längst hinter ihnen. Der Weg bestand nun bloß noch aus platt gefahrener Erde und Kieselsteinen, mit denen tiefere Löcher aufgefüllt waren. Von beiden Seiten neigte sich Gras auf den Weg, staubig vom aufgewirbelten Dreck. Auch im Trab versuchte der braune Wallach noch, daran zu zupfen.
Hier duftete es bereits nach Blumen und aufgebrochener Erde. Wenn sie über die Schulter zurückblickte, konnte sie die Stadt noch sehen. Hohe Verladekräne ragten wie seltsame Tiere zwischen den Häusern hervor, und über den Dächern hing gelblich-grau der Rauch unzähliger Herdfeuer.
Daniel seufzte und musste grinsen, als die Kutsche in ein Schlagloch rumpelte und die kräftige Federung sie beide auf und ab hüpfen ließ. Dann brach er das andächtige Schweigen, in das sie seit ihrem Aufbruch verfallen waren. „Ich verstehe immer noch nicht, wie du das wieder geschafft hast.“
Thea sah konzentriert auf die gespitzten Pferdeohren, während sie an einer Gabelung nach links abbog. Dann wandte sie den Kopf, sah ihren Bruder triumphierend an und meinte nur: „Ich habe so meine Geheimnisse.“
„Meine Schwester, die Geheimniskrämerin. Verrate sie mir, dann erfüllt Vater mir vielleicht auch meine Wünsche.“
Thea wusste genau, worauf er anspielte.
„Ich dachte, wir sagen uns alles“, hakte er nach.
„Alles?“
Er nickte ernst, der leise Spott war ihm nicht entgangen, doch er zog es vor, ihn zu ignorieren.
Thea wollte ihn nicht länger auf die Folter spannen. „Schau mal unter die Decke.“ Sie gestikulierte hinter den Kutschbock, wo immer einige Wolldecken parat lagen, um sich bei Bedarf gegen den Fahrtwind zu schützen. Skeptisch wandte sich Daniel um. Er hatte noch immer schlechte Laune, weil Vater ihm diesen Auftrag erteilt hatte. Er sollte bäuerliche Sujetfotografien machen, die ein Verlag als Postkarten und Frühlingsgrüße zu drucken gedachte.
„Das glaube ich jetzt nicht!“, stieß Daniel hervor, legte ihr einen Arm um die Schulter, zog sie an sich und drückte ihr einen dicken Kuss auf die Wange.
„Ich will ja nicht drei Tage mit einem fürchterlich gelaunten Bruder verbringen.“
Fassungslos hob Daniel die Decke zur Gänze an. „Du hast wirklich meine Staffelei eingepackt? Und den großen Satz Pinsel?“
„Fertig bespannte Rahmen konnte ich leider nicht auf die Kutsche schummeln. Aber dort ist eine Rolle Leinwand, Holz und deine kleine Werkzeugkiste. Papier ist auch da und Aquarellfarben, falls du lieber ...“
„Thea, Thea, Halt.“
Seine Stimmung kippte, sie konnte es hören, aber noch mehr spürte sie es. „Du hast an alles gedacht, nur an eines nicht. Ich werde keine Zeit haben. Vaters Liste mit gewünschten Motiven ist schon jetzt kaum zu schaffen. Zum Malen werde ich nicht kommen … leider.“
„Aber ich kann doch die Fotografien anfertigen.“ Sie grinste breit. „War dir das denn nicht klar?“
„Du?“
„Natürlich ich. Wir haben doch schon öfter meine Bilder für deine ausgegeben.“
„Aber doch keine ganze Serie!“ Sein Protest klang schwach, denn er war längst überzeugt. Ihm war fast jede Trickserei recht, wenn er dafür drei Tage mit Malen verbringen konnte.
„Dann ist es abgemacht?“ Sie streckte ihm die Hand hin. Ihre Wangen brannten vor Aufregung. Als er einschlug, stieß sie einen Jubelschrei aus. Das Pferd galoppierte erschrocken los, Daniel griff ihr in die Zügel und verhinderte im letzten Moment, dass ihre kaum begonnene Reise im Entwässerungsgraben endete.
Es war Mittag, als sie ihr erstes Ziel erreichten. Gemeinsam hatten sie sich für eine pittoreske bäuerliche Landschaft entschieden. Felder rollten in sanftem Auf und Ab auf den Horizont zu. Entlang schmaler Gräben wuchsen Lilien in die Höhe, reihten sich alte, knorrige Kopfweiden. Es gab einen kleinen Weiher und grasende Rinder mit glänzendem Fell. Das war das Bild, nach dem Daniel gesucht hatte. Sie spannten das Pferd aus und banden es so an, dass es fressen konnte.
Thea half ihrem Bruder dabei, einen Rahmen zu bespannen. Sie hielt die zurechtgeschnittene Leinwand stramm, während er sie mit vielen kleinen Nägeln befestigte. Schnell strich er sie mit einer Grundierung ein, die in Sonne und leichter Brise hoffentlich schnell trocknete. Dann schulterte er die Kamera, und sie gingen los.
In der Nähe waren einige Bauern dabei, ein Kartoffelfeld von Unkraut zu befreien. Männer und Frauen arbeiteten Seite an Seite und schwangen ihre Hacken. Kinder mit Flechtkörben sammelten die herausgerissenen Unkräuter ein und häuften sie am Rand des Feldes auf.
Thea hielt einen kleinen schwarzen Rahmen hoch, um den Bildausschnitt zu bestimmen.
„Schau, die beiden Mädchen“, sagte sie und wies auf zwei Kinder, vielleicht vier und sechs Jahre alt, die am Bach Kräuter sammelten. Während der Korb des kleineren Mädchens voller gelb-weißer Blütenköpfe war, zupfte das ältere Pfefferminz und Melisse.
„Perfekt“, sagte Daniel und schien zu bereuen, dass er seine Staffelei nicht mitgebracht hatte.
„Warte hier, ich werde die Eltern suchen und fragen, ob ich fotografieren darf.“
Für ein paar Münzen waren die Leute schnell bereit, für Thea Modell zu stehen. Daniel verabschiedete sich bald, um sich seiner Leinwand zu widmen, während Thea Motiv um Motiv auf die Platinen bannte.
Die Mädchen mit ihren Körben voll blühender Kräuter. Die Bauern bei der Vesper. Zwei starke Burschen, die einen Zaunpfosten ersetzten. Eine hübsche junge Bäuerin mit flachsblondem Haar und einem roten Kopftuch, die an eine Weide gelehnt verträumt auf ein Stückchen Papier sah, das ein Liebesbrief sein könnte. Und dann noch die ganze Familie bei der Arbeit und der treue Ackergaul, der einen kleinen Jungen auf sich reiten ließ.
Genau solche Bilder wollte der Verlag, der Vater beauftragt hatte. Romantik, Naturverliebtheit, das ursprüngliche Leben auf Papier gebannt, damit Städter wehmütig seufzen konnten, wenn sie sie betrachteten.
Hätte Thea völlig selbst bestimmen können, wäre ihre Wahl auf den alten Bauern mit dem gebeugten Rücken gefallen. Seine Haut war faltig wie alte Borke, die Augen trüb und doch unendlich weise. Solche Menschen wollte sie porträtieren. Männer und Frauen, deren Gesichter Geschichten erzählen konnten und nicht nur hübsch anzusehen waren und die Vorstellungen der Kunden erfüllten.
Es war später Nachmittag, als sie alles einpackte und sich die schwere Kamera mitsamt Stativ auf die Schulter wuchtete.
Daheim in Vaters Studio durfte sie beides nicht einmal getrennt voneinander hochheben. Als drohe sie bei ein wenig körperlicher Anstrengung sofort zu zerbrechen.
Zugegeben, heute Abend würde sie sicher eine schmerzende Schulter haben.
Vorerst aber genoss sie es, das Gewicht zu spüren, das auf ihr lastete. Sie trat schwerer auf, ihre Beine fühlten sich an, als würden sie bei jedem Schritt eine besondere Verbindung mit dem Boden eingehen.
Wenn doch nur jeder Tag so sein könnte wie der heutige, dachte sie wehmütig, während sie einem kleinen Pfad durch eine Wiese folgte. Sie würde diesen Ausflug als einen wunderbaren Traum verstehen, an den sie sich auch in vielen Jahren noch erinnern würde. Ein Fünkchen Freiheit, das sie sich ergaunert hatte.
Die Erwartungen ihrer Eltern waren klar. Sie sollte lernen, eine gute Gesellschafterin zu sein und einen Haushalt zu führen, um dann einen Ehemann zu finden, der ihnen zusagte.
Mutter und Vater hatten dazu eine feste Meinung. Zwar schadete es nicht, wenn eine Frau ein wenig rechnen konnte und sich bildete. Aber nur damit sie in der Haushaltsführung kein Geld verschwendete und ihrem Mann abends eine angenehme Unterhalterin war.
Thea verbannte die Gedanken an ihre unabwendbare Zukunft. Sie wollte sich an diesem so perfekten Tag nicht die Stimmung verderben.
Mittlerweile wurde die Kamera doch ganz schön schwer. Aber sie hatte es fast geschafft. Auf der kleinen Kuppe konnte sie bereits den Einspänner ausmachen und daneben Daniel mit seiner Staffelei. Er sah aus der Entfernung sehr schmal aus. Oft vergaß er bei der Arbeit an seiner neuesten Schöpfung das Essen. Die Hose schlackerte ihm um die Beine, die Ärmel seines weißen Hemdes hatte er hochgekrempelt, die Jacke lag achtlos hingeworfen hinter ihm im Gras.
Als sie stehen blieb, um zu verschnaufen, wurde er ihrer gewahr. Er legte seine Palette zur Seite und war mit wenigen flinken Schritten bei ihr.
„Gib her!“
Ehe sie antworten konnte, hatte er schon die Kamera geschultert und lief neben ihr her.
„Du siehst glücklich aus, Daniel Klawitt.“
„Du auch, Schwesterherz.“
„Wir sollten das viel öfter machen“, seufzte sie.
Er schwieg. Beide wussten sie, dass es nur ein schöner Traum war. Daniel lehnte Stativ und Kamera an den Einspänner, dann traten sie gemeinsam vor seine Leinwand. „Wundervoll“, rief Thea aus. Kein anderes Wort fiel ihr dazu ein.
Nur schemenhaft zeichnete sich eine Szenerie aus knorrigen Kopfweiden ab. Sie wirkten wie uralte, graue Männer, die vom Frühling überrascht worden waren. Daniel hatte die Wiese in einem blendenden Grün ancholoriert und in den Himmel dramatische Wolken gemalt. „Als würden zwei Jahreszeiten miteinander ringen“, sagte sie.
„Genau das wollte ich abbilden, ich hätte es nicht besser beschreiben können.“
„Reicht dir dein Entwurf?“
„Ich denke schon, ich habe mir alles eingeprägt und kann es daheim fertig malen.“
„Wenn du keinen Käufer findest, dann hätte ich es gerne.“ Sie lehnte sich an ihn. „Als Erinnerung an heute.“
„Dann soll es dir gehören.“ Er begann zusammenzupacken. „Hast du genug Bilder gemacht?“
„Ja, ich denke, sie werden Vater zusagen. Morgen müssen wir dann ein hübsches Dorf finden oder zumindest einen Bauernhof oder eine alte Mühle.“
„Da habe ich schon eine Idee.“
Thea setzte sich auf einen von der Sonne gewärmten Findling und grub ihre Hände ins Gras, während Daniel das Pferd anspannte.
Sie hätte den Moment am liebsten festgehalten, doch er würde wie alles Schöne viel zu schnell vergehen.
***
Zwei pechschwarze Pferde zogen die Kutsche mit dem Sarg über den Ohlsdorfer Friedhof. Grell und unwirklich schien die Sonne auf die Trauerprozession herab, bis blühende Kastanienbäume ein wenig Schatten boten.
Leopold schien es, als wolle das Wetter sie verhöhnen. Bleischwer fühlten sich seine Beine an, während er hinter dem glänzenden Mahagonisarg seiner Mutter herging, der über und über mit Rosen und weißen Lilien geschmückt war, die einen süßlich moderigen Geruch absonderten.
Vater ging an seiner Seite, aufrecht und gefasst. Er hatte schon am frühen Morgen getrunken und damit für sich die richtige Medizin gefunden, den Tag zu überstehen. Leopolds Befürchtung, er wäre zu betrunken und würde Mutter auf ihrem letzten Weg blamieren, bewahrheitete sich nicht. Er hatte sich unter Kontrolle, wie immer.
Viel zu schnell erreichten sie die frisch ausgehobene Grube. Die Kutsche hielt an und mit ihr die Prozession von über hundert Menschen, die Mutter das letzte Geleit geben wollten. Sargträger in Uniform gingen in Stellung, als es Leopold wie ein Ruck durchfuhr.
„Bitte“, sagte er leise und schob einen der Männer zur Seite. Dessen leisen Protest ignorierte er. Der Träger würde schon nicht um seinen Lohn fürchten müssen.
Konzentriert passte er sich dem Gleichschritt der anderen an, trat an die linke Seite des Wagens, und als der Kutscher ein Zeichen gab, schloss er die Hände um den blankpolierten Messinggriff und hob den Sarg an. Er war überraschend schwer.
Seine Erinnerung sandte ihm ein Gaukelbild seiner Mutter, ihre schmale, zarte Statur, und seine Gedanken schlugen absurde Wege ein. Hatte man die Toten vertauscht? Trug er womöglich gerade einen fettleibigen alten Mann zu Grabe?
Die Illusion wurde so überwältigend, dass er kurz davor war, in den Sarg zu schauen.
Dann kehrte sein Schmerz zurück, und mit ihm klärte sich sein Verstand. Das Holz war schwer. Mahagoni. Mutter lag wirklich darin, und er trug sie zu ihrer letzten Ruhestätte. Er würde eine Handvoll Erde auf sie werfen, wie damals bei der Bestattung von Onkel Friedrich. Sie würde bald unter zwei Metern davon liegen. Unwiederbringlich. Unter einer tonnenschweren Last.
Seine Beine bewegten sich gleichmäßig mit denen der anderen Träger. Als sei er Teil einer Apparatur. Vorbei ging es an der wartenden Trauergesellschaft, die am Grab Aufstellung genommen hatte. Leopold hörte, wie sein Name geflüstert wurde, als sie erkannten, wer dort den Sarg trug.
Er wünschte nichts mehr, als sich neben den anderen Trägern einzureihen und mit ihnen in den Hintergrund zu treten. Doch von ihm, dem einzigen Sohn der Toten, wurde anderes erwartet.
Zitternd trat er an die Seite seines Vaters, der mit geballten Fäusten dastand und erfolglos gegen die Tränen ankämpfte.
Die folgende halbe Stunde verging quälend langsam, dennoch drang von der Zeremonie wenig zu ihm durch. Die Worte des Pastors rauschten wie Wind an ihm vorbei, während er sich vorstellte, wie es nun weitergehen würde. Das Haus war leer ohne Mutter. Sie hatte es eingerichtet, sich um alles gekümmert, was es behaglich machte. Vater und er hatten nur darin gewohnt, beinahe wie Gäste. Ohne sie schien das Haus verlassen und irgendwie grauer, als würde ihr auch das Gemäuer hinterhertrauern.
Vater legte ihm die Hand auf die Schulter. Schwer wie Blei war seine Berührung. Dann trat er vor, nahm eine kleine Schaufel und warf Erde in das Loch. Leopold hatte gar nicht mitbekommen, wie der Sarg hinabgelassen wurde, doch als jetzt die Krumen darauf fielen, zuckte er zusammen.
Dann war er an der Reihe. Aller Augen waren auf ihn gerichtet. Vortreten, Schaufel aus der Hand seines Vaters nehmen, Erde und … Er konnte es nicht. Erdgeruch vermischte sich mit dem der Lilien.
Leopold zögerte, dann steckte er die Schaufel zurück in den kleinen Haufen Erde. Still, so still war es. Niemand schluchzte oder räusperte sich. Der Gesang der Vögel hingegen schien ihm unendlich laut. Mama hatte sie immer gefüttert, das ganze Jahr hindurch, nicht nur im Winter.
Leopold schluckte, doch seine Kehle war wie zugeschnürt, dabei hätte er ihr gerne noch etwas gesagt.
Als er sich gerade abwenden wollte, bemerkte er eine winzige gelbe Feder auf der zertrampelten Wiese. Er hockte sich hin, nahm sie in die Hand und ließ sie dann zu ihr hinabfallen. Taumelnd sank sie auf den Mahagonisarg.
***
Baptiste sträubte sich innerlich ein wenig gegen die Zeremonie. Seine Zieheltern hätten sie ihm mit Sicherheit verboten, immerhin war er getauft worden, und das hier war Sünde und Teufelswerk. Und sein Vater? Was würde sein Vater dazu sagen?
Aber er war nicht hier, er war eigentlich nie da, wenn in seinem Leben etwas Wichtiges geschah. Dies hier war wichtig, zumindest für den Teil von ihm, der Sohn seiner Mutter war. Naian war stolz auf ihn, das sah er ihr an. Sie trug ihr Festgewand, aufwendig verwebte, gefärbte Fasern aus Palmenblättern und Baumrinde, die ein Muster zeigten, das über Generationen in der Familie weitergegeben wurde. Auch Baptiste trug heute ausnahmsweise keine Hose, sondern einen knappen Schurz aus Baumrinde. Bestickte Bänder schmückten seine Oberarme, weitere Bänder mit Rautenmuster seine Handgelenke und Unterschenkel.
Die meisten Leute der Siedlung besaßen dichtes, schwarzes und fast immer krauses Haar, das sie mit Bändern und Hauben herrichteten und lang wachsen ließen.
Baptistes Haar war dunkel, doch nicht kraus, außerdem war es recht kurz. Sein Freund Baku hatte ihm geholfen, Bastbänder darin zu befestigen.
Je mehr Zeit verstrich, desto richtiger fühlte es sich an. Die Dorfältesten stimmten einen rhythmischen Gesang an, während Baptiste vor einigen geschnitzten Holzstatuetten Opfergaben ablegte. Einen frischen Fisch, einen bunten Vogel, dessen Kopf schlaff herunterhing, und eine gerade ausgetriebene Kokosnuss, die eine weite Reise über das Meer gemacht hatte und trotzdem sicher angekommen war.
Und mit einem Mal fiel es ihm nicht mehr schwer, seine Ahnen um Schutz auf dem Meer und um gute Jagd zu bitten.
Dann war es so weit. Unter den Anfeuerungsrufen der ganzen Dorfgemeinschaft schob er sein Auslegerkanu den Strand hinunter ins Wasser. Baku, der ebenfalls sein erstes eigenes Kanu geschnitzt hatte, folgte ihm, und sie lieferten sich ein Rennen bis zur Wasserlinie. Es war Schwerstarbeit. Immer wieder hielten kleine Spülsäume die rasante Fahrt auf. Jetzt nur nicht straucheln, nicht fallen. Was wäre das für eine Blamage?
Gleichzeitig erreichten sie die Brandung. Wellen schlugen hart gegen die Spitzen ihrer Kanus, zerrten an den Auslegern. Es durchfuhr Baptiste wie ein Blitzschlag, als er sah, wie sich eine der Befestigungen löste, die den schmalen Ausleger fixierten.
Bitte, bitte, halte, bis wir weit genug weg sind, dachte er und versprach den Ahnen ein weiteres Opfer, wenn sie ihm diese Peinlichkeit ersparten.
Immer stärker musste er gegen die Brandung ankämpfen, dann war er hindurch und sprang in sein Boot. Er ließ Baku den Vorsprung, fuhr nicht geradeaus, sondern ein wenig seitlich, um den Druck von der Befestigung zu nehmen.
Hinter der ersten kleinen Korallenbank hielten sie inne und sahen zurück. Die Leute am Strand jubelten ihnen zu. Baptiste reckte triumphierend das Paddel. Das herabtropfende Wasser glitzerte in der Sonne wie Perlenschnüre.
Er atmete auf. Der erste Teil der Prüfung war geschafft. Mit langsamen, tiefen Paddelschlägen näherte er sich Baku. „Warte mal“, rief er.
Sein Freund wandte sich ihm grinsend zu. „Was ist, machst du schon schlapp?“
„Ich nicht, aber ich fürchte, mein Kanu. Du hast nicht zufällig Bast dabei? Schau mal.“ Beschämt wies er auf die Stelle, wo der Bogen am Ausleger ansetzte. Beides war mit einer Nut ineinandergefügt und mit Bast umwickelt, der allerdings bei dem wilden Rennen über den Strand mit dem Muschelsand fast durchgerieben worden war. Vor lauter Anspannung hatte Baptiste nicht daran gedacht, das Boot schräg zu halten, damit der Ausleger in der Luft blieb.
„Nein, mein Freund, ich habe kein Bast oder Seil dabei, nur das, mit dem mein Lendenschurz festgemacht ist, und das bekommst du nicht. Da musst du schon die Ahnen bitten, dir zu helfen.“
Baptiste rutschte auf den Knien weiter vor und ruckelte an der Verbindung. Noch hielt sie, auch wenn bereits lange Fasern herausgerissen waren. Er würde wohl auf sein Glück vertrauen müssen.
„Können wir weiter?“
„Jaja, sofort.“ Sie würden einen ganz besonderen Fang heimbringen müssen. Baptiste kniete sich auf sein Kanu und tauchte das Paddel tief ein. Die Geister sollten sehen, dass es ihm ernst war.
Bald war er gleichauf mit Baku, sie paddelten wie ein Mann. Paddelten und suchten dabei das Wasser nach einem verräterischen Schatten ab. Aus dem Augenwinkel sah Baptiste unter sich eine bunte Unterwasserwelt vorbeiziehen. Korallen, Langusten, die wie kleine Kriegertrupps über den Boden zogen, bunte Doktorfische und Scharen silbriger Kalmare. An anderen Tagen hätte jedes dieser Wesen genügt, aber nicht heute, nicht an diesem besonderen Tag.
„Da, da, auf deiner Seite!“, rief Baku plötzlich. Dann sah Baptiste sie auch. Eine Schildkröte, schwer wie zwei Männer.
Sie schien zu spüren, dass sie es auf sie abgesehen hatten. Blitzschnell tauchte das Tier ab und brachte sich mit einigen Flossenschlägen außer Reichweite.
Baptiste entfuhr ein saftiger Fluch, und er nahm die Verfolgung auf. Haken schlagend hielt die Schildkröte auf tiefere Gewässer zu. Wenn sie die erst einmal erreicht hätte, wäre es aus, dann würden sie womöglich bis zum Abend brauchen, um wieder eine zu entdecken.
Schon brannte ihm der Schweiß in den Augen, und seine Arme begannen zu schmerzen, doch so schnell gab er nicht auf. Baku war dicht hinter ihm. Eigentlich war es seine Beute, denn er hatte sie zuerst gesehen.
„Nun hol sie dir, Baptiste!“, schrie Baku.
Seine Aufregung stieg ins Unermessliche. Er würde nur eine Chance haben. Eine einzige.
Noch einmal legte Baptiste alle Kraft in die Paddelschläge, dann war es so weit. Die Schildkröte tauchte auf, um Luft zu holen. Reckte ihren groben, mit Seepocken übersäten Kopf durch die Wellen, und genau in diesem Moment sprang er. Das Boot rutschte unter ihm weg, die Zeit schien einen Augenblick lang stillzustehen. Dann tauchte er ein, schoss vor und rammte die abtauchende Schildkröte mit der Schulter. Schmerzhaft kratzten die Seepocken über seine Haut. Er wusste, dass er blutete, noch ehe er das verräterische Rot unter Wasser sehen konnte.
Mit beiden Armen umklammerte er die Schildkröte und riss sie nach hinten. Er musste kräftig mit den Beinen treten, um aufrecht zu bleiben und das Tier ebenso in dieser Position zu halten. Baptiste hatte sich auf einen heftigen Kampf eingestellt, immerhin war die Schildkröte doppelt so schwer wie er und besaß vier kräftige, paddelartige Füße, wohingegen er nur ein wenig Wassertreten konnte, weil seine Arme den Panzer umklammerten.
Doch die Schildkröte kämpfte nicht. Vielmehr schien es, als habe sie all ihren Lebenswillen in dem Moment verloren, als Baptiste sie sich gegriffen hatte.
Ein schlechtes Omen. Beinahe als wollten die Ahnen ihn verhöhnen. Er konnte kein Kanu bauen, und er war zu schwach, um mit einer Schildkröte zu ringen, deshalb sandten sie ihm aus Mitleid eine halbtote.
„Das ging ja schnell“, rief Baku, „halt sie fest, ich bin gleich da.“ Er brauchte sich nicht zu beeilen, denn das Tier wedelte nur noch müde mit den Flossen. Bloß der Schnabel schnappte hin und wieder gefährlich nah an seinem Gesicht vorbei.
Dann war Baku bei ihm. Baptiste hielt ihm die Schildkröte entgegen. „Wie sieht sie aus?“, rief er.
Sein Freund runzelte die Stirn. „Der Panzer ist eingesunken.“ Er klopfte mit dem Ruder auf den Bauch des Tieres. „Die hat gar kein Fett. Wehrt sie sich?“, wollte er wissen.
„Nein. Kann sie mühelos halten.“
„Die ist uralt. Lass den Großvater ziehen“, riet Baku ihm.
Baptiste hatte schon in dem Moment, in dem er ins Wasser gesprungen war, geahnt, wie diese Jagd ausgehen würde. Enttäuscht ließ er seinen Fang los. Sein Boot war mittlerweile weit abgetrieben. Er schwamm hinterher und hievte sich hinauf. In diesem Augenblick fühlte er sich genauso müde wie die uralte Schildkröte, die noch immer an derselben Stelle unter der Wasseroberfläche trieb und wie ein alter Mann schnaufend atmete.
„Bereit?“, fragte Baku und wartete nicht auf Baptistes Antwort. Schweigend ruderten sie nebeneinander her. Das Salzwasser brannte in Baptistes Wunden. Blut rann ihm über die Brust. Was für ein Desaster. Er verletzte sich ausgerechnet beim Fangen einer Schildkröte, die sich nicht einmal wehrte.
„Mach dir nichts draus“, rief Baku ihm zu. „Wir finden eine andere, und wenn wir den ganzen Tag paddeln müssen.“
Baptiste nickte, aber er teilte den Enthusiasmus seines Freundes nicht. Es konnte nur noch schlimmer werden. Und er sollte recht behalten.
Am Mittag rasteten sie am Strand eines winzigen, namenlosen Eilandes und aßen rohen Fisch und Muscheln. Dann paddelten sie weiter, bis sie beide kaum noch die Arme heben konnten. Die tiefstehende Sonne blendete sie und machte es ihnen schwer, unter der reflektierenden Wasseroberfläche überhaupt etwas zu erkennen.
Dann endlich schienen die Wassergeister ein Einsehen zu haben.
Sie sahen sie gleichzeitig. Ein großer runder Schemen, der sofort Reißaus nahm. Auf der Stelle nahmen sie die Verfolgung auf, flankierten das Tier von beiden Seiten. Die Schildkröte war verdammt schnell. Auf ihrem Panzer wuchsen keine Algen, keine Seepocken. Sie war ausgewachsen, aber jung und mit dem Kampfgeist eines Kriegers.
Baptiste hätte zu gerne bewiesen, dass er es mit ihr aufnehmen konnte, aber Baku war dran. Sein Freund flog in seinem Kanu nur so über das Wasser, der Ausleger berührte die Wellen kaum.
Baptiste hielt mit und sorgte dafür, dass die Beute immer zwischen ihnen blieb. Dann sprang Baku und riss die Schildkröte im nächsten Augenblick auf den Rücken. Sie schlug wie wild mit den Flossen, dass es nur so klatschte, versuchte, ihren Angreifer zu beißen. Mit dem Hornschnabel hätte sie Baku problemlos große Stücke aus der Haut beißen können, doch der wich aus.
Geschickt drehte er Baptiste die Unterseite des Tieres zu. Der Panzer war glatt. „Sie ist fett und jung!“, rief er. Baku trat kräftig mit den Beinen, Baptiste paddelte näher, und gemeinsam fixierten sie die Schildkröte am Rand seines Bootes, die Flossen über dem Kopf zusammengebunden.
Dann traten sie den langen Rückweg an.
Sie paddelten nebeneinander her. Baku mit dem breiten Grinsen eines Siegers im Gesicht. Am liebsten hätte sich Baptiste ein einsames kleines Eiland gesucht und dort übernachtet, aber das war nicht möglich. Von ihm wurde erwartet, dass er heute Abend zum Fest kam und auch für das Essen sorgte.
Er harpunierte einen kleinen Zitronenhai, der ihnen eine Weile gefolgt war, weil er es wohl auf die Schildkröte abgesehen hatte. Aber was war ein Fisch schon gegen Bakus Festmahl?
Sie durchquerten die Korallenbänke, bis sie im Flachwasser waren. Dort, wo sie nicht mehr fürchten mussten, von größeren Haien um ihre Beute gebracht zu werden, stieß Baku der Schildkröte sein Messer in den Kopf. Sie starb ohne einen Laut. Das Blut mischte sich mit dem brennenden Rot des Sonnenuntergangs, der sich über das Meer ergoss. Am Strand leuchteten die Feuer. Trommeln klangen herüber und der lange, wehmütige Ton eines Muschelhorns.
Von hier aus konnte Baptiste sein anderes Zuhause nur erahnen. Wie ein weißes Gerippe ragte das Wohnhaus der Plantage aus dem Wald. Es verfügte über zwei Geschosse und vier schlichte Säulen. Sein Zimmer lag auf der linken Seite. Er begann, sich nach seinem Bett zu sehnen und nach den Angestellten, die keine Fragen stellten und nichts von ihm erwarteten.
Seine Zieheltern glaubten, er sei nur seine leibliche Mutter besuchen. Dass er eine Prüfung zu bestehen hatte und jämmerlich abschnitt, wussten sie nicht.
Jetzt lag nur noch die Brandungszone vor ihnen.
Baptistes Schultern fühlten sich mittlerweile taub an. Er legte seine letzte Kraft in die Paddelschläge und manövrierte sein Kanu in Position. Er kannte jeden Felsen unter Wasser, der ihm das Leben schwer machen könnte. Geschickt lenkte er sein Gefährt an ihnen vorbei. Dann rissen ihn die Wogen auch schon vorwärts, und er musste nichts weiter tun, als die Balance zu halten.
Weiße Gischt überall. Die Welle brach gleich neben ihm, so laut, dass er den Druck an seinen Ohren spürte. Unter ihm erzitterte das Kanu, als die Wassermassen darauf brandeten, dann war er hindurch und tauchte das Ruder wieder ein.
Doch das Kanu driftete zur Seite, der Anleger war vollständig abgerissen, und ihm sank das Herz.
Baku war gleich neben ihm, hatte seine Beute sicher durch die Brandung gebracht und sprang nun aus dem Boot, um es an den Strand zu schieben.
Baptiste ließ sein Boot zurück und half seinem Freund, wobei er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Kinder rannten ins Wasser, um sie zu begrüßen. Er schenkte ihnen sein Kanu, es war nichts mehr wert.
Während er mit Baku die Schildkröte und den Zitronenhai den Strand hinaufzerrte, wiederholten sich in seinem Kopf die gleichen Worte wieder und wieder.
Ich habe versagt.
***