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KAPITEL 4

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Thea kehrte von einem Treffen mit einer Freundin zurück. Sie waren gemeinsam über den Bauernmarkt geschlendert und hatten danach in einem kleinen Café geplaudert. Ihre Freundin Isabel war so ganz anders als sie selbst. Sie begeisterte sich für Handarbeiten und plante schon seit Jahren die Einrichtung ihres eigenen Heims, dabei hatte sie noch nicht einmal einen Ehemann gefunden. Isabels Aussteuertruhe musste überquellen vor bestickter Wäsche, Tischdecken und Zierrat. Auch Thea besaß eine solche Holztruhe, doch sie verschwendete selten einen Gedanken daran.

Nachdem Daniels Fotografien, die eigentlich von ihr stammten, auf so viel positive Resonanz gestoßen waren, füllten sich die Auftragsbücher. Und es war ihrem Bruder tatsächlich gelungen, noch einige Ausfahrten zu organisieren, bei denen sie mitgefahren war. Sie hielten es wie bei ihrer ersten Unternehmung. Thea fotografierte, während Daniel sich der Malerei widmete. Vergangenes Wochenende hatten sie es bis an die Küste geschafft, wo Thea Strandszenen festgehalten hatte. Stege, die ins Meer hinausführten. Krabbenfischer auf ihren schweren Pferden, die Netze hinter sich herzogen. Badende, Badewagen und Möwen, die nie lange genug stillhalten wollten.

Ach, wie schön waren die Stunden an der See gewesen. Sie meinte, die salzige, angenehm kühlende Luft noch immer schmecken zu können.

Kurz bevor sie Atelier und Wohnhaus erreichte, klappte sie ihren Sonnenschirm aus feiner Spitze zusammen. Hier fiel bereits der Schatten der Häuser auf den Gehweg. Das Atelier lag zentral, aber nicht an einer Hauptstraße, wo die Bebauung zumeist so dicht war, dass nicht mehr genug Licht in die Fenster fiel.

Vater hatte die Beschriftung auf dem Fenster erneuern lassen. Nun stand dort Klawitt & Sohn. Daniels Protest war leise ausgefallen. Irgendwann in der fernen Zukunft würde es vielleicht auch Geschäfte geben, auf denen & Tochter stand. Aber davon waren sie sicher noch Jahrzehnte, wenn nicht sogar Jahrhunderte entfernt, auch wenn die Frauen mehr und mehr für ihre Rechte kämpften.

Thea trat sich die Füße ab und öffnete die Tür. Vater saß an einem großen Schreibtisch. Vor sich hatte er Fotografien ausgebreitet. Mit einem Spiegel lenkte er Licht von einer hellen Lampe auf die Bilder und betrachtete mithilfe eines Okulars einzelne Stellen. Überprüfte sie auf Kontrast und Schärfe.

Mit einem Blick wusste Thea, was er dort betrachtete. Es war ihre Ausbeute von der letzten Ausfahrt. Nur drei Fotografien hatte er bislang aussortiert, und in ihrer Brust wuchs ein Stolz, der sich beinahe anfühlte wie verliebt zu sein.

„Guten Tag, Vater.“ Sie beugte sich vor und gab ihm einen artigen Kuss auf die Wange. Von seiner Haut stieg der Tabakgeruch seiner Pfeife auf, die jetzt erloschen auf einer kleinen Schale ruhte. Pfeifentabak und ihr Vater waren untrennbar miteinander verbunden, die Erinnerung daran begleitete sie bis in die frühe Kindheit.

„Da hat Daniel wirklich erstklassige Arbeit geleistet, findest du nicht auch?“

Thea wusste nicht, was sie antworten sollte. Sie war eine schlechte Lügnerin.

Vater reichte ihr das Okular. „Sieh selbst.“

Sie beugte sich vor, setzte das Vergrößerungsglas an ihr Auge, kniff das andere zu und betrachtete ein Bild nach dem anderen. „Die sind wirklich gut geworden“, sagte sie schließlich. „Wo ist Daniel jetzt?“

„Er malt“, schnaubte Vater abfällig. „Aber wenn er mir trotzdem so etwas liefert, soll er nur. Du kannst ihm Bescheid geben, dass wir gleich schließen. Deine Mutter soll nicht mit dem Abendessen auf uns warten müssen.“

„Ja, das mache ich. Daniel hat sicher wieder völlig die Zeit vergessen.“

Thea ging in Richtung Atelier, während es in ihrem Inneren vor Freude brodelte. Vater schätzte ihre Arbeit! Alle taten es!

Sie klopfte an und trat ein.

Daniel war nicht allein. Auf einer Kiste saß ein junger Mann in Matrosenuniform, einen Sextanten in den Händen. Er sah gut aus, hatte ein kantiges, wettergegerbtes Gesicht, und seine Augen waren von der graublauen Farbe des Ozeans.

Als Thea wie angewurzelt stehen blieb, erhob er sich.

„Ernst, bleib doch sitzen!“, grollte Daniel. Wenn es um seine Bilder ging, konnte er streng sein.

„Du hast Damenbesuch.“

„Damenbesuch?“ Daniel legte seine Palette zur Seite und sah auf. „Thea! Ernst, das ist meine Schwester.“

„Das sieht man“, sagte der Fremde, trat zu ihr und stellte sich vor. „Ernst Jäger, freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Fräulein.“

„Mich … mich auch“, stotterte Thea. Was für ein gut aussehender Bursche! Sie kannte ihn bereits von einigen Fotografien ihres Bruders. Sie mussten also befreundet sein.

„Ich gehe dann besser.“ Der Matrose setzte sich eine Mütze auf, steckte den Sextanten in ein ledernes Futteral, nickte Daniel kurz zu und verschwand durch die Hintertür.

Einen Moment lang hing Schweigen in der Luft. Thea durchquerte langsam das Atelier. Der intensive, leicht muffige Geruch der Ölfarbe wurde stärker und umhüllte ihren Bruder regelrecht.

Die Staffelei war mit einem selbst gezimmerten Rahmen bestückt, das Porträt darauf schon recht weit gediehen. Das Modell saß dort auf einem Poller an einer Mole am Meer. In der Ferne verschwand ein Schiff am Horizont. Verträumt sah er ihm nach, dem Sextanten, den er in den Händen hielt, keine Beachtung schenkend.

Es drückte Sehnsucht aus, Fernweh und eine feine Melancholie. „Ach“, sagte Thea nur und lehnte ihren Kopf an Daniels Schulter.

„Ach ‚gut‘ oder ach ‚fürchterlich‘?“

„Gut natürlich, du Dummkopf“, meinte sie und knuffte ihn in die Seite. „Vater gefallen deine Fotografien übrigens sehr gut.“

Daniel grinste. „Danke.“

Sie wusste genau, wie dieser Dank gemeint war. Theas heimliche Leidenschaft schenkte ihm kostbare Zeit, in der er malen konnte. „Pack langsam ein für heute. Es gibt gleich Essen.“

„Mache ich.“

„Treffen wir uns vorne?“, fragte Thea und hatte das Studio bereits halb durchquert. Sie hörte die Flasche mit Terpentin klappern, in der Daniel die Pinsel reinigen wollte. Auf eine Antwort wartete sie nicht.

Als sie den Empfangsbereich fast erreicht hatte, hielt sie inne, denn die Türglocke ging. Sie wollte Vater und seine Kundschaft nicht stören. In dem schmalen Flur, der das Eingangszimmer mit Fotostudio und Atelier verband, stand ein kleines Sofa. Thea setzte sich. Sie würde hier auf ihren Bruder warten.

Vaters sonorer Bass klang mühelos bis zu ihr herüber. „Guten Abend, Sie wünschen?“

Die Stimme der Frau war leise, unsicher. „Guten Abend, Meister Klawitt. Wir sind heute für den Markt in die Stadt gekommen, und da dachte ich … wie soll ich sagen … Die junge Frau sagte mir, wenn ich einmal in Hamburg wäre, könnte ich vielleicht einen Abzug erwerben … vergünstigt, weil doch meine Töchter auf der Fotografie sind. Zwei kleine Mädchen mit Körben … Kräuterkörben.“

„Einen Augenblick, ich weiß, was Sie meinen.“

Und Thea wusste es auch. Warum hatte sie nur nicht den Mund gehalten? Sie hörte ihren Vater in den Mappen blättern.

Nun tauchte auch Daniel auf. Thea drückte einen Finger an die Lippen. Er verstand sofort, schlich auf Zehenspitzen näher, dann lauschten sie beide.

„Ja, das ist es“, sagte die Frau. „Es ist so wunderschön. Genau so möchte ich sie in Erinnerung behalten. Was kostet das Bild?“

Vater nannte einen verschwindend geringen Preis, der gerade eben die Materialkosten deckte. Als die Frau sich schließlich verabschiedete, wollte Thea schon aufatmen, doch dann sagte die Bäuerin noch: „Richten Sie Ihrer Tochter bitte Grüße von mir aus. Für diese Fotografie werde ich ihr mein Lebtag dankbar sein. Sie hat es wunderbar gemacht.“ Dann ging die Glocke an der Eingangstür.

Sie standen auf. Vielleicht sollten sie die Flucht antreten, doch in diesem Haus gab es keinen Ort, der sicher war vor Vaters Zorn. Daniel legte Thea eine Hand auf die Schulter und drückte sie fest – so fest, dass es wehtat. Sie rührten sich beide nicht von der Stelle, aber das brauchten sie auch nicht.

Die Tritte schwer vor Zorn, kam Vater zu ihnen, und ihr Anblick schien ihm zu genügen. Thea sank förmlich in sich zusammen und wich vor ihm zurück. Die eben noch empfundene Freude war verflogen.

Vater hob einen Abzug hoch, die beiden Mädchen mit den Kräuterkörben. „Wer hat dieses Bild gemacht“, fragte er, um Fassung bemüht, seine Hand zitternd. „Wer hat diese Fotografie gemacht? Lügt mich nicht an!“

Theas Hals war wie zugeschnürt, unvorstellbar, dort Worte hindurchzupressen, wenn ihr doch schon das Atmen so schwer fiel.

„Dorothea ist eine sehr gute Fotografin, Vater“, sagte Daniel. „Sie hat ein besonderes Auge für die Bildkomposition.“

„Nur dieses eine?“, fragte er beherrscht.

Thea schüttelte langsam den Kopf. Da Vater so ruhig blieb, schöpfte sie ein wenig Hoffnung. Er war wütend, aber vielleicht würde er Milde walten lassen. Aber dafür musste er alles wissen, musste verstehen, dass seine Tochter einen guten Beitrag leistete, einen, der sich lohnte. „Die Hälfte von denen, die Sie an Weller verkauft haben, Vater. Womöglich mehr. Es ist mein sehnlichster Wunsch …“

Er schlug sie mit der Fotografie in der Hand. Die Ohrfeige brannte, das Papier schnitt in ihre Wange, sie taumelte zurück. Daniel schob sich schützend vor sie. „Nicht, Vater.“

Der nächste Schlag traf ihn. Statt der flachen Hand die Faust, mitten ins Gesicht.

„Verschwinde, Thea“, keuchte Daniel und schob sie aus Vaters Reichweite. Tapfer trat er ihm in den Weg, stand mit gesenkten Händen da und wurde wieder getroffen. Und noch einmal.

„Vater, hör auf, ich flehe Sie an“, schrie Thea, den Tränen nahe. Ihr Vater war kaum noch wiederzuerkennen. Die Wangen wie vom Fieber gerötet, wollte er erneut nach seinem Sohn schlagen. Thea fasste Daniel am Arm und zog ihn mit sich fort. „Komm, komm, steh nicht einfach nur so da.“

Er ließ sich mitziehen, drückte eine Hand auf seine aufgesprungene Lippe. Blut quoll hervor.

Thea zog ihn auf die Treppe zu, die in den Wohnbereich im Obergeschoss führte.

Vater folgte ihnen und riss dabei mehrere Gemälde von der Wand. Es waren Daniels schönste Bilder. Er zerrte sie herunter, trampelte auf den Leinwänden herum.

„Nein, nein, nein.“ Daniels Stimme wurde immer leiser. Er zitterte nun am ganzen Leib, aber er wagte es nicht, seine Kunstwerke vor Vaters Zorn zu schützen.

Thea war bis ins Mark getroffen, nie hätte sie ihm eine derartige Raserei zugetraut. Sie waren bereits halb die Treppe hinauf, als Vater, mit einem Bein noch in einem zertrümmerten Rahmen stehend, plötzlich strauchelte. Er ruderte mit den Armen, verlor das Gleichgewicht und stürzte der Länge nach hin.

Gott oder das Schicksal hatte also doch ein Einsehen. Thea wollte gerade erleichtert aufatmen, als ihr bewusst wurde, dass etwas nicht stimmte.

„Er bewegt sich nicht“, sagte Daniel.

Vater war mit Kopf und Schulter auf die untersten Treppenstufen geprallt. Thea starrte ihn an. Er lag ganz still, wie tot. Dann sah sie all das Blut und begann zu schreien.

***

Die Dämmerung zog über dem Hamburger Hafen herauf und warf einen samtblauen Schleier auf das brackige Wasser.

Leopold stand an Deck der Nordstern und sah zu, wie der letzte Sack Kopra aus dem Laderaum gehievt wurde. Ein schwenkbarer Kran mit mehreren Umlenkrollen hob die großen, zugenähten Säcke aus Hanfleinen direkt auf ein bereitstehendes Fuhrwerk.

Dort stand Vater mit einer Liste in der Hand. Stichprobenartig kontrollierte er die Ware, während Leopold von hier oben alles im Blick behielt.

Die meisten Matrosen vergnügten sich bereits irgendwo im Gängeviertel, wo es Bars und Spelunken und leichte Mädchen gab. Der Kapitän, ein bärbeißiger Kerl mit O-Beinen, stand bei Vater, rauchte eine Pfeife und lachte hin und wieder so laut, dass sogar die Möwen erschrocken das Weite suchten.

Wieder erlag Leopold seiner Sehnsucht, von hier fortzukommen. Die Nordstern würde für einige Wochen hier vor Anker liegen, damit nötige Reparaturen vorgenommen werden konnten, danach würde sie wieder in See stechen, zurück nach Polynesien. So viel Zeit würde ihm bleiben, Vater davon zu überzeugen, ihn mit auf die Reise zu schicken. Leopolds Argument, die Plantagen mit eigenen Augen zu sehen, die exklusiv für Saarner wirtschafteten, war fadenscheinig. Er wollte vor allem eines: weg von Hamburg. Und heute wollte er einen Vorstoß wagen.

Eine Peitsche knallte. Auf dem Steg setzte sich das Fuhrwerk in Gang. Die schweren Pferde warfen sich ins Kummet, und sobald die Kutsche Fahrt aufgenommen hatte, kamen sie leichter voran. Die Sommerhitze machte es Mensch und Tier nicht leicht, doch der Abend versprach Abkühlung.

Leopold setzte sich auf eine Rolle aus Hanftau. Er hatte seine Aufgabe erledigt. Jetzt musste er nur noch warten, bis Vater zu ihm kam. Sie hatten verabredet, sich hier oben zu treffen.

Während er sich die Worte zurechtlegte, zogen nacheinander Schaufelraddampfer, kleine Jollen und mächtige Frachtschiffe vorbei. Fähren brachten Arbeiter von den Werften auf dem Grasbrook heim ins Zentrum. Der Hafen schlief nie. Aus der ganzen Welt trafen Waren und Menschen ein. Neben Bremen war Hamburg einer der wichtigsten Anlaufpunkte für Amerikaauswanderer. Arme Schweine und Glücksritter aus ganz Europa drängten sich von hier aus in die Zwischendecks, in denen es schlimmer war als auf manchem Viehtransporter.

Schwere Schritte auf der Treppe kündigten an, dass der Moment der Wahrheit näher rückte.

„Es tut mir leid, dass du warten musstest.“ Vater setzte sich neben ihn und reichte ihm zwei kleine Gläser.

„Was ist das?“

„Ein Geschenk vom Kapitän, angeblich der beste Rum, den er kennt. Er bestellt Grüße und sagt, wir sollen auf die perfekt verlaufene Unternehmung anstoßen.“ Er entkorkte die Flasche, die er unter den Arm geklemmt hatte, und füllte beide Gläser.

„Auf Ihr Wohl, Vater.“

„Und auf deines, mein Sohn.“

Sie stießen an, die Gläser klirrten. Der Rum schmeckte malzig und süß, der Alkohol brannte angenehm in der Kehle. Sie schwiegen einen Moment lang, während die Dämmerung mehr und mehr vom Hafen verschlang. Die Verladekräne standen schwarz vor dem dunkelblauen Himmel und erinnerten Leopold an dünnbeinige Insekten.

Als er zur Seite schaute, sah er seinen Vater lächeln. Den Blick hatte er in die Ferne gerichtet. Leopold nippte an seinem Glas und seufzte.

„Du hast doch etwas auf dem Herzen, mein Sohn.“ Er legte ihm einen Arm um die Schulter. „Seit Wochen trägst du es mit dir herum und machst dabei immer dieses grüblerische Gesicht.“

„Bin ich so einfach zu durchschauen?“

„Für deinen Vater? Aber ja. Du kommst nach mir, vergiss das nicht.“

„Wie könnte ich?“

„Nun raus damit.“

Leopolds Herz begann zu jagen. „Wenn die Nordstern ausläuft, würde ich gerne mitfahren. Du hast die Südseegebiete bereist, kennst die Plantagenbesitzer, die für uns arbeiten, alle persönlich. Ich finde, es ist Zeit, dass ich mir selber ein Bild mache. Was nützen mir Berichte und Fotografien, ich …“

„Leopold, hat das nicht noch Zeit? Du bist das Einzige, was mir noch geblieben ist. Warte noch ein paar Jahre.“

Leopold stürzte den restlichen Rum herunter und antwortete mit rauer Kehle: „Es muss jetzt sein. Nach Mutters Tod muss ich einfach mal raus, weg von Hamburg. Sobald ich wieder zurück bin, konzentriere ich mich ganz auf das Geschäft. Ich schwöre es.“

„Du brauchst mir nichts zu schwören, Sohn. Ich verstehe dich so gut.“ Er griff nach der Flasche und goss ihnen beiden nach. „Als ich zum ersten Mal eine große Seereise unternahm, war ich auch in deinem Alter, und es hat mir im wahrsten Sinne des Wortes den Horizont geöffnet. Deshalb war ich schon mehrfach nahe daran, es dir vorzuschlagen.“

„Und doch haben Sie es nicht getan.“

„Nein, das habe ich nicht. Aber du musst auch mich verstehen. Was, wenn mir das Schicksal zuerst die Frau nimmt und dann den Sohn?“

„Ich könnte genauso gut überfallen werden oder die Treppe hinunterstürzen“, wandte Leopold ein. Die Hoffnung, die er einen Augenblick lang verspürt hatte, war verflogen. Vater würde ihn nicht weglassen, und er verstand ihn sogar ein wenig.

Vater seufzte. „Du darfst fahren, wenn du etwas für mich tust.“

„Alles“, entgegnete Leopold voller Hoffnung.

„Sei nicht so schnell mit deinen Versprechungen, mein Sohn. Erinnerst du dich an die letzten Worte deiner Mutter?“

Die Augenblicke waren wie in sein Herz gebrannt. Unauslöschlich. „Natürlich erinnere ich mich“, sagte er und ballte die Hände zu Fäusten, um den aufwallenden Schmerz in seine Schranken zu weisen. „Sie sagte, sie habe Ihnen verziehen und ich solle es auch tun. Ich sollte es ihr versprechen, aber dann …“

„Ja“, erwiderte Vater einsilbig. Er stürzte den Rum herunter, Leopold tat es ihm gleich. Sofort füllte er das Glas wieder. Dies war offenbar ein Abend, der einen Rausch erforderte.

Leopold trank selten und hatte sich noch nie gemeinsam mit seinem Vater betrunken. Heute schien sich das zu ändern. Eine Mauer, die lange unbemerkt zwischen ihnen gestanden hatte, war gefallen. Und Leopold hatte etwas zu feiern, denn sein Traum würde sich erfüllen. Seltsamerweise fühlte er sich nicht danach. Der Triumph war schal.

Er trank einen Schluck, spürte dem Brennen nach, wartete auf die Süße und darauf, dass Vater sein Schweigen brach. Es schien ihm schwerzufallen, aber schließlich atmete er tief ein und aus.

„Deine Mutter und ich haben uns anfangs nicht geliebt.“

Er ließ Leopold Zeit zu verstehen, was das bedeutete. „Unsere Eltern, deine Großeltern, waren geschäftlich verbunden, befreundet womöglich, und sie beschlossen, dass es für beide Familien das Beste sei, die Verbindung mit einer Eheschließung auch für zukünftige Generationen zu besiegeln.

Ich mochte deine Mama, aber wir stritten sehr viel. Ich war jung, ein Hitzkopf und eigentlich nicht reif für die Ehe. Und deine Mutter hatte noch dazu ihr Herz an einen anderen verloren.“

In Leopold sperrte sich alles. Er wollte solche Dinge nicht erfahren. „Lasst sie in Frieden ruhen. Das ändert doch jetzt nichts mehr. Ihr habt ja zusammengefunden, sonst wäre ich nicht so glücklich aufgewachsen.“

„Das bist du wirklich. Aber ich muss es dir erzählen, damit du verstehst, in was für einer Situation wir waren. Deine Mutter trauerte ihrer verlorenen Liebe nach, und wir stritten uns. Ständig. Also bin ich mit großem Zorn im Herzen in die Überseegebiete gefahren. Ich blieb zwei Jahre fort, knüpfte Kontakte, auf denen heute unser Wohlstand beruht, und ich lernte eine Frau kennen.“

Leopold wurde flau. Er konnte jetzt nichts erwidern, selbst dann nicht, wenn er es gewollt hätte. Vater hatte Mama betrogen.

„Du sagst nichts, mein Sohn?“

Leopold schüttelte den Kopf, richtete den Blick in die dunkle Ferne, in der Schiffslichter aufblitzten und die ersten Sterne am Himmel aufleuchteten.

„Aus unserer Verbindung entstand ein Kind … ein Sohn.“ Vater räusperte sich. „Ich möchte, dass du ihn findest und nach Hamburg bringst.“

„Nein, nein, das kannst du nicht von mir verlangen“, stöhnte Leopold mit belegter Stimme und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Vater legte ihm den Arm um die Schulter, doch Leopold schüttelte ihn ab.

„Jeder von uns macht Fehler, mein Sohn. Deine Mutter wusste von dem Ergebnis meiner Untreue, und sie hat mir verziehen. Es ist über zwanzig Jahre her. Dazwischen haben wir einander lieben gelernt. Ich hatte die beste Ehe, die ich mir wünschen konnte.“

Leopold wollte ihm entgegenschreien, dass er ihn hasste, doch das tat er nicht. Stattdessen wuchsen in ihm Enttäuschung und ein tiefer Groll gegen Vater und auch gegen den fremden jungen Mann, dem es allein durch seine bloße Existenz gelang, einen Keil zwischen Vater und ihn zu treiben.

„Deine Mutter hat vorgeschlagen, ihn herzuholen, vor fünfzehn Jahren schon. Weil sie keine Kinder mehr bekommen konnte und immer mehr als eines gewollt hatte. Aber das wollte ich nicht. Hingefahren bin ich trotzdem, um nach Adam zu sehen. Er war ein prächtiger Junge, allerdings ein halber Wilder. Ich habe dafür gesorgt, dass er in eine anständige Familie kam und eine gute Bildung erhält. Hin und wieder schreiben mir seine Zieheltern, wie er sich entwickelt.“

Leopold musste Vater unentwegt ansehen. All die Jahre hatten sie etwas Derartiges vor ihm verheimlicht? Mama hatte ihn auch noch herbringen wollen, diesen Beweis für Vater Schande? Wie konnte sie nur?

Er gab sich selbst die Antwort. Weil sie ein gutes Herz hatte. Seit er denken konnte, hatte sie sich für andere eingesetzt, sich bei Spendensammlungen engagiert und in ihrer Gemeinde geholfen. Sie war überzeugte Christin gewesen. Und er konnte selbst jetzt noch hin und wieder ihre Mahnung hören, dass nicht nur Gott Vergebung üben sollte, sondern auch der Mensch. Sie hatte Vater seine Sünde vergeben und es nicht ertragen, dass ein Kind von seinem Blut am anderen Ende der Welt in Armut hauste. So eine Frau war seine Mutter gewesen.

Doch Leopold war zu zornig, um sich ein Beispiel an ihr nehmen zu können.

„Versteh doch. Du hast einen Bruder, Leopold.“

„Nein, habe ich nicht!“ Er sprang auf und lief bis zur Reling. Seinem Vater kehrte er den Rücken zu. Das Schweigen senkte sich wie Gewichte auf seine Schultern. Minutenlang ging das so. Er hörte, wie sein Vater erneut die Flasche entkorkte, sich nachschenkte und das Glas gleich darauf leerte. Dann ging es klirrend zu Bruch.

„Überlege es dir, Leopold. Entweder du fährst mit der Nordstern nach Papua, suchst deinen Halbbruder und bietest ihm an, herzukommen, oder du bleibst hier!“

***

Alles in Baptiste sträubte sich, während er im Sonntagsanzug auf die Missionsstation zuritt. Das kleine Kloster mit der Kirche lag nah bei der Siedlung in der Bucht. Es wurde von vier Mönchen aus Bayern geführt, auch ein italienischer und ein französischer Bruder lebten dort. Der Franzose war sein Pate, von ihm hatte er den Zweitnamen Baptiste – der Täufer – bekommen.

Seine Zieheltern bestanden darauf, dass er mitkam, und sie würden auch darauf bestehen, dass er zur Beichte ging. Für ihn fühlte es sich an wie der Weg zum Schafott. Entweder würde der Gott der Christen zornig auf ihn sein oder seine Ahnen und die Geister des Waldes. Wie er es auch drehte und wendete, er spürte ganz deutlich, dass Unheil über ihn kommen würde, und das nahm ihm jeden Mut.

Viele Einheimische gingen sorgloser mit dem neuen und dem alten Glauben um. Der Sonntag war bei ihnen Tag des weißen Gottes, alle anderen Tage gehörten den Ahnen. Tatsächlich fuhren die meisten gut damit. Für sie war es keine große Sache, ihren Göttern noch einen weiteren hinzuzufügen. Die Heiligen der katholischen Kirche bekamen dieselbe Aufmerksamkeit wie die Ahnen. Und wenn man schon ein Huhn schlachtete oder Kokospudding opferte, konnte man die Fürbitten auch auf die heilige Barbara oder den tapferen Michael ausdehnen.

Baptiste war von den Mönchen schon früh unterrichtet worden. Als kleiner Junge hatten sie ihm, dem Halbblut, besonders viel Aufmerksamkeit geschenkt, und er hatte alles aufgesogen, was mit der Kultur seines geheimnisvollen, fernen Vaters zu tun hatte.

Erst später hatte er verstanden, dass sie ihn auf diese Weise zu einem Weißen machen wollten, aber das würde nicht funktionieren. Die Menschen würden ihm ins Gesicht sehen und wissen, dass er ein Bastard war. Seine hellbraune Haut und die verräterischen grünen Augen schrien es heraus, außerdem war er viel zu groß für einen Mann aus Papua.

Ingmar Oudeboom ritt ihm auf einem milchweißen Hengst, der ständig versuchte, nach Baptistes Pferd zu beißen. Die Hausherrin fuhr gemeinsam mit der Köchin und dem Zimmermädchen in einer Kutsche.

War der Himmel eben noch erfüllt von den Stimmen des Waldes, von Vogelgesängen und Meeresrauschen, so ertönte nun der helle Klang der Kirchenglocken. Die Köchin bekreuzigte sich, und ihr Gesicht begann zu strahlen. Sie war die frommste Person, die Baptiste kannte, frommer noch als seine Ziehmutter.

Mehr und mehr Menschen strömten auf die kleine Kirche zu. Baptiste und sein Ziehvater banden ihre Pferde an, dann gingen sie gemeinsam hinein. Für die Plantagenbesitzer war die erste Bankreihe reserviert. Baptiste saß neben seiner Ziehmutter, die ihn aufmunternd ansah. „Nach dem Gottesdienst wirst du dann beichten. Bruder Bernhard weiß Bescheid und erwartet dich.“

„Ja“, gab Baptiste mürrisch zurück.

Der Gottesdienst zog an ihm vorüber, er nahm teil und doch wieder nicht. Betete an den richtigen Stellen, stand auf und kniete sich hin, sang, und das machte ihm sogar Freude. Dennoch kreisten seine Gedanken beständig um die Frage, was er tun sollte, um der Beichte zu entgehen.

Schließlich läuteten die Glocken erneut, der Gottesdienst war zu Ende, und er hatte noch immer keinen Plan. Wie immer verließen die Gläubigen auch an diesem Tag nicht sofort die Kirche. Die meisten fanden sich in kleinen Grüppchen zusammen und tauschten Neuigkeiten aus. Andere entzündeten Kerzen und leisteten an den kleinen Altären in den Seitenschiffen Fürbitten.

Baptiste stand eine Weile ratlos an der Seite der Oudebooms, die sich mit einem anderen Paar unterhielten, und hielt vergeblich nach Freunden Ausschau. Weder Baku noch Thome waren gekommen.

„Mein Sohn, du wolltest beichten? Ich bin nun für dich bereit.“ Die samtweiche Stimme Bruder Bernhards jagte ihm eine Gänsehaut über den Nacken. Er ließ die Schultern hängen und folgte dem Mönch.

Der Beichtstuhl mit der schweren Tür davor sah aus wie ein kleines Gefängnis. Nur aus dem Augenwinkel nahm er das aufmunternde Lächeln des Mönchs wahr, dann bekreuzigte er sich, betrat die kleine Holzkammer und setzte sich.

„Vater, ich habe gesündigt“, begann er mit dünner Stimme.

„Beichte, dann wird dir vergeben werden.“

Baptiste suchte nach den richtigen Worten und hatte Mühe, überhaupt welche herauszubekommen. Vielleicht sollte er zuerst mit den Verfehlungen beginnen, die er leicht beichten konnte.

„Ich habe meinem Ziehvater Widerworte gegeben und meine Ziehmutter weinen gemacht. Ich war selbstsüchtig. Ich war eifersüchtig auf meine Freunde, weil die eine Prüfung bestanden haben, in der ich versagte.“

„Weiter … Ich höre dir doch an, dass da noch mehr ist. Glaube mir, dein Herz wird leichter sein, wenn Gott dir deine Sünden vergeben hat.“

„Ja, Vater. Also … neulich habe ich die Mädchen aus dem Dorf baden sehen und habe unkeusche Gedanken gehabt. In der Nacht darauf konnte ich nicht schlafen und … und ich habe …“

„Du hast dich selbst berührt.“

„Ja, Vater“, sagte Baptiste kleinlaut. Und das Schlimme war, dass er schon wieder an die Mädchen dachte, gleich gefolgt von dem Kanu, das sich beinahe genauso sündig anfühlte.

„War es das?“, fragte der Mönch.

Es war, als hätten die Waldgeister seinen Mund verstopft. Sein Schwur, das Kanu zu bauen, gehörte nicht hierher. Als er weiter schwieg, erteilte Bruder Bernhard ihm die Absolution und erlegte ihm auf, für eine Woche lang jeden Tag zehn Vaterunser zu beten und sich außerdem von den Mädchen fernzuhalten.

„Ich verspreche es“, sagte er, stieß die Tür auf und rannte aus der Kirche, als sei der Teufel hinter ihm her. Draußen traf er auf die Oudebooms und schaffte es gerade noch, seine Flucht nicht wie eine solche aussehen zu lassen. „Ich dachte schon, Sie wären ohne mich aufgebrochen“, sagte er auf die verwunderten Blicke hin.

„Das würden wir doch nie tun“, meinte seine Ziehmutter lächelnd und streichelte ihm über den Arm. „Du fühlst dich jetzt nach der Beichte sicher besser, nicht wahr? Meine Seele ist danach immer leicht wie eine Feder.“

Sie meinte jedes Wort. Baptiste fand die Last, die er mit sich herumtrug, nach der Beichte nur noch schwerer. Vielleicht lag es daran, dass er noch sehr oft beten musste, bis ihm die Sünden vergeben wären, vielleicht auch daran, dass er die größte noch nicht gebeichtet hatte.

„Ich möchte meine Mutter besuchen“, sagte er aus einem Impuls heraus.

„Natürlich, geh nur und richte ihr Grüße aus“, sagte Frau Oudeboom. Sie versuchte zu verbergen, dass es ihr einen Stich gab, wenn er zu seiner Mutter ging – allerdings ohne Erfolg. Sie wünschte sich nichts mehr, als ihm die einzige Mutter zu sein. Ihre Sehnsucht nach einem eigenen Kind verzehrte sie.

Baptiste verabschiedete sich auch von seinem Ziehvater, dann kehrte er der Kirche den Rücken zu. Mit jedem Schritt ging er schneller und fühlte sich freier.

Er musste daran denken, was einige der erst vor wenigen Jahren getauften Papua glaubten. Sie meinten, mit der Taufe eine Art Schlüssel zu erhalten, der sie nach dem Tod in eine Stadt der Weißen brachte, wo sie ebenfalls zu Weißen würden. Ihre dunkle Haut empfanden sie als Zeichen von Unreinheit und Rückständigkeit, die sie mit dem Tod abstreifen würden.

Baptiste hätte gerne einmal ein ernstes Wort mit dem Priester geredet, der ihnen diesen Unsinn in den Kopf gepflanzt hatte, wo er nun spross wie eine alles erstickende Schlingpflanze.

Er sah auf seine eigenen Hände, hellbraun, weder das eine noch das andere. Er war weder Papua noch Weißer, und er wusste nicht einmal, was er sein wollte, wenn er die Wahl gehabt hätte. Im Moment rief ihn das Blut seiner Mutter, doch er wusste, dass auch wieder eine andere Zeit kommen würde.

Er fand sie auf ihrem kleinen Acker, der auf einem terrassierten Stück Land am Waldrand lag, ganz in der Nähe des Männerhauses, in dem die Tanzmasken und andere heilige Dinge aufbewahrt wurden.

„Baptiste!“, rief sie und ließ die Hacke fallen. „Wie gut du aussiehst! Warst du in der Kirche?“

„Ja“, erwiderte er und küsste sie auf die Wange.

„Das ist schön.“

„Schön sagst du und warst selber nicht da.“

„Der Maniok wartet nicht“, sagte sie und wischte sich die Hände an ihrem Rock ab, den sie aus englischem Tuch geknotet hatte.

„Lass mich dir helfen“, sagte Baptiste und entledigte sich seines Sonntagsstaats. Es tat gut, die Hacke zu schwingen, sie tief in die weiche Erde zu graben und die Knollen herauszuholen. Nachdem er eine große Menge aufgeschichtet hatte, ging es ihm besser.

Das beklemmende Gefühl, das ihn in der Kirche befallen und seitdem verfolgt hatte, war fort. Als er sich aufrichtete, erschallte aus dem dampfenden Regenwald das tiefe, lang gezogene bu-bu-buhh eines Kasuars. Der Balzlaut, mit dem der riesige flugunfähige Vogel um seine Weibchen buhlte, hallte in Baptistes Bauch nach.

War das ein Zeichen?

Wollten die Ahnen ihn in den Wald zurückrufen? Mutter glaubte, dass ihre verstorbenen Verwandten in den riesigen schwarzen Vögeln mit den blauen Musterungen weiterlebten. Deshalb flochten die Frauen seit jeher auch blaue und schwarze Muster in ihre Taschen und Stoffe.

Ihre Blicke trafen sich. Sie schwiegen, und dann ertönte der Ruf wieder, dieses Mal noch eindringlicher als zuvor.

„Baptiste, bring mir den Maniok zur Hütte, dann ...“

„Ja“, sagte er nur, „ja, ich gehe. Ich habe die Ahnen gehört. Noch einmal werde ich nicht taub für ihre Stimmen sein.“ Er raffte die Knollen zusammen und ging hinter seiner Mutter her, die seinen Sonntagsanzug vorsichtig zusammengelegt hatte.

In ihrer Hütte legte er den traditionellen Schurz und Bastgurt der Männer an, hängte sich eine Tasche um, in der sein Messer aus einer Kasuarkralle steckte, und ließ zu, dass seine Mutter ihm ein Stirnband mit Federn anlegte. Bänder um Arme und Beine würden ihn vor bösen Geistern schützen und vor angriffslustigen Schlangen.

Er nahm einen Teil des Muschelgeldes, das er über die Jahre angespart hatte. Es bestand aus sorgfältig zurechtgeschliffenem und durchbohrtem Schneckenperlmutt, das auf Schnüre aufgezogen war. Mit einem feierlichen Gefühl in der Brust ging Baptiste zum Männerhaus. Dieses Mal wollte er wirklich alles richtig machen.

Das Haus war auf Stelzen gebaut und mit Sagopalmenblättern gedeckt. Es war alt. Moos hatte sich in die Schnitzereien gesetzt, mit denen die Pfeiler und die Treppe verziert waren. Unter dem Vordach hingen Vorratsgefäße und bestickte Taschen – Dinge, welche die Welt der Frauen mit jener der Männer verbanden. Wasserdichte Gefäße und Flechtkörbe säumten den Eingang.

Baptiste spürte, wie tiefe Ruhe über ihn kam. Er versuchte, jede Erinnerung an die vergangenen beiden Tage und den Besuch der Kirche hinter sich zu lassen. Dann trat er ein.

Im Inneren herrschte dämmeriges Zwielicht. Nur durch winzige Lücken in den Flechtwänden drang ein wenig Helligkeit herein. An der Rückwand, dort, wo es am dunkelsten war, warteten sie. Aufgereiht standen sie dort, die Köpfe riesig, die Körper schmal, mit angewinkelten Armen und Beinen. Über lehmgeformten Gesichtern wölbten sich dichte, menschliche Haare.

Helle Muschelaugen schienen ihn zu fixieren. Drohend, als wollten sie, dass Baptiste seine Entscheidung, herzukommen, noch einmal überdachte. Unter der Lehmschicht der Köpfe waren die Schädel von Ahnen – und nicht nur von ihnen. Früher, bevor die Missionare gekommen waren, hatte es regelmäßig Kopfjagden gegeben. Dann waren die Männer nachts in andere Dörfer geschlichen und hatten feindliche Krieger erschlagen, deren Körper sie in einer Prozession heimgebracht hatten, um die eigenen Geister zu besänftigen und mit ihrem Blut zu nähren.

Mittlerweile gab es keine Überfälle mehr.

Vielleicht lag es wirklich an einem Sinneswandel, aber wohl eher daran, dass viele Dörfer verlassen waren und die Einwohner tot. Es gab schlichtweg keine Nachbarn mehr, die überfallen werden konnten, kein Ackerland, um das man in Streit geraten konnte. Die Weißen hatten nicht nur ihren Glauben mitgebracht, sondern auch Seuchen, die die Papua dahingerafft hatten. Und das meiste Land gehörte nun zur Plantage.

Ein letztes Mal blickte Baptiste in die scheinbar kritisch dreinblickenden Augen der Ahnen. Er brachte ihnen das Muschelgeld dar und bat sie, ihn zu unterstützen, damit er ihnen Ehre machen konnte.

Dann ging er in den Wald und wusste, dass er erst zurückkehren würde, wenn er sich mit den Ahnen versöhnt hatte.

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Das Lied des Paradiesvogels

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