Читать книгу Das Lied des Paradiesvogels - Rebecca Maly - Страница 11
KAPITEL 3
ОглавлениеIhr Ausflug aufs Land lag drei Monate zurück, und mittlerweile war es Sommer geworden. In den Straßen stank es, und aus den Fleets, in die halb Hamburg seine Abwässer kippte, während die andere Hälfte daraus trank, waberte noch zusätzlich fauliger Geruch in die Gassen.
An Augusttagen wie diesen sehnte sich Thea besonders zum Frühling auf dem Land zurück, nur heute nicht, heute würde sie nichts in der Welt hier wegbringen.
Gemeinsam mit ihren Eltern und Daniel bestieg sie eine Droschke, die sie zum Verlagshaus Weller bringen sollte. Für Weller hatte Vater schon viele Aufträge erledigt. Heute sollte dort eine Werkschau stattfinden. Den Rahmen bildete das Sommerfest des Verlegers, zu dem sicherlich Hunderte Gäste kommen würden. Vertreter von Druckereien, andere Verleger, Fotografen, Autoren, aber auch Politiker und einige angesehene Familien der Hamburger Bürgerschaft. Daniel wirkte sehr aufgeregt, doch er wollte nicht damit rausrücken, warum. Thea war ihm deshalb fast ein wenig böse, hatten sie sich doch versprochen, keine Geheimnisse voreinander zu haben.
„Gib doch acht auf dein Kleid“, tadelte Mutter, als Thea den Saum beim Einsteigen nicht ausreichend anhob. „Du willst doch nicht aussehen wie eine Dirn aus der Gosse. Wer weiß, wen du dort triffst.“
„Ja, Mama.“ Sie seufzte und setzte sich neben Daniel. Er sah sie unauffällig an. Mitleidig. Er wusste genau wie sie, was Mutters Worte eigentlich bedeuteten. Es war an der Zeit, sich einen Ehemann zu suchen, und heute Abend bestanden beste Chancen. Thea hätte sich ja gerne einmal verliebt, aber …
Der Kutscher schloss die Tür, und nur Augenblicke später knallte die Peitsche, und die Pferde zogen an. Es war zwar schon Abend, doch noch immer brütend heiß. Vorsichtig öffnete Thea eines der Fenster. Die hereindringende Luft roch nach Gosse und Pferdeschweiß, aber der Windzug tat wohl.
„Daniel, ich möchte dich heute einigen wichtigen Herrschaften vorstellen“, sagte Vater.
Daniel setzte sich gerader hin. „Ich freue mich darauf. Wen werden wir treffen?“
„Herrn Weller kennst du bereits. Er hat mir gesagt, dass der Markt für Andenkendrucke und Postkarten immer weiter wächst, außerdem gewinnt eine Modeerscheinung immer weiter an Bedeutung: Porträts. Und zwar nicht die von Persönlichkeiten oder Verwandten, sondern von Wilden.“
„Von Wilden?“, wiederholte Daniel erstaunt.
Thea musste sich auf die Zunge beißen, um sich nicht einzumischen. Sie hatte längst davon gehört, dass Museen, aber auch viele Privatleute geradezu vernarrt in Fotografien waren, die kriegerische Indianer, Eskimos und perlenbehängte Südseekönige zeigten. Die Bilder in Postkartengröße wurden in Alben gesammelt, herumgereicht und getauscht.
„Die Neuguinea-Kompagnie sitzt zwar in Berlin, aber auch sieben Hamburger Firmen haben Dependancen in dem Überseegebiet. Angeblich überlegt man, eine Fahrt in die Südsee zu unternehmen, um den Handel zu festigen, aber auch um den Bewohnern des Kaiserreiches diese exotischen Orte bekannt zu machen. Es sollen also nicht nur Kaufleute und Wissenschaftler dorthin reisen, sondern vielleicht auch Fotografen.“
Mutters Miene verfinsterte sich, woraufhin Thea es nicht mehr aushielt. „Vater, Sie überlegen doch nicht wirklich, an einer Expedition teilzunehmen!“
„Doch, mein Kind. Daniel scheint ja durchaus in der Lage, mich im Studio für eine Weile zu vertreten.“
„Ich?“, fragte der erstaunt.
„Ja, natürlich du. Und deshalb werde ich dich heute allen wichtigen Leuten vorstellen, damit sie schon einmal wissen, dass das Fotoatelier Klawitt auch ohne mich zuverlässig weitergeführt wird.“
Daniel sah zweifelnd zu Thea, und sie meinte in seinem Gesicht ein flehendes Hilf mir abzulesen. Doch sie konnte ihm nicht helfen. Nicht jetzt. Vielleicht später, falls Vater wirklich auf Reisen ginge. Womöglich wäre das die Chance, sich selbst nach und nach im Studio so wichtig zu machen, dass sie bleiben und auch offiziell dort arbeiten durfte.
„Ich bin beeindruckt, Vater, und wünsche Ihnen, dass die Expedition zustande kommt. Was für ein Abenteuer!“
Mutter verzog missbilligend den Mund, doch Vater ergriff ihre Hand. „Wenigstens meine Tochter Dorothea versteht mich. Wenn du nur als Junge zur Welt gekommen wärst.“
„Ja, das wünsche ich mir manchmal auch“, erwiderte sie bitter und lehnte sich zurück, um ihren Blick aus dem Fenster zu richten. Sie kämpfte gegen Tränen. Wie ungerecht die Welt doch nur war!
Die letzten Minuten der Fahrt vergingen schweigend.
Schließlich reihten sie sich in den Strom der Droschken ein, die ihre Fahrgäste vor dem Verlagshaus Weller aussteigen ließen. Der Vorplatz war durch Gaslaternen beleuchtet. Im Gebäude selbst waren alle Fenster erhellt, die Eingänge mit üppigen Blumenbouquets geschmückt. Livrierte Diener erwarteten die Gäste. Eine Handvoll Journalisten warteten hinter einer Absperrung auf bekannte Gesichter aus Wirtschaft und Senat.
Mutter und Vater stiegen zuerst aus. Dann kam Daniel. Er reichte Thea die Hand. Sie stieg den Klapptritt hinunter und hakte sich bei ihm ein. Still drückte sie seinen Arm und setzte ein Lächeln auf.
„Wir werden den Abend schon überstehen“, flüsterte er.
„Ja, das werden wir.“
Schnell hatten sie die Begrüßungen hinter sich gebracht. Bis auf den Verleger kannte Thea niemanden. Fast alle Gäste waren älter als sie, und ob es später noch Tanz geben würde, wagte sie zu bezweifeln. Ein wenig erleichterte es sie. Mutter würde sie hier nicht zwingen, mit diesem oder jenem Herrn zu tanzen, der eine gute Partie darstellte. Sie würde sich freier bewegen können.
Daniel reichte ihr eine Kristallschale mit Champagner. „Wollen wir uns ein wenig umsehen?“, fragte er mit einem geheimnisvollen Unterton in der Stimme.
„Aber sicher.“ Thea war alles recht. Sie kannte das Verlagshaus nicht und hätte sich auch die Druckerei gerne einmal angesehen. Doch das war vermutlich nicht gestattet.
„Dort vorne gibt es eine Ausstellung“, sagte Daniel.
„Ist sie denn schon eröffnet?“
„Vielleicht, vielleicht auch nicht.“ Er ließ sein Glas gegen ihres klirren. Thea trank einen kleinen Schluck und meinte, das angenehme Kribbeln springe sofort auf sie über.
Bei Daniel untergehakt, ging es quer durch den Empfangsbereich, wo die Gäste noch in dichten Trauben standen, auf einen Saal zu, der offenbar sonst für Versammlungen und Besprechungen genutzt wurde.
Ein Mann in der Uniform eines Hausdieners öffnete ihnen die Tür und verbeugte sich. Sie taten also nichts Verbotenes, wenn sie sich jetzt schon umsahen.
Der Saal war hoch, und die Kassettendecke aus dunklem Holz warf das Echo ihrer Schritte zurück. Überall standen und hingen Lampen, die Fotografien anstrahlten, die an den Wänden aufgehängt waren.
„Schau nur“, sagte Thea und zog Daniel zu einer Sammlung von Porträts. „Genau darüber hat Vater gesprochen. Sieh dir nur diese Indianerhäuptlinge an! Schaurig sehen die aus und …“ Sie beugte sich vor, musterte die Gesichter. „Sehr traurig.“
„Traurig?“ Daniel lachte. „Sieh dir doch die Gewehre und Spieße an. Ein jeder von denen hat bestimmt weiße Siedler auf dem Gewissen.“
„Meinst du?“ Thea mochte es nicht glauben. Viel lieber sah sie sich genau an, wie die Wilden abgebildet waren. Einem jeden war seine Ausrüstung beigegeben. Mit Tausenden von Perlen bestickte Taschen, Waffen, Federhauben. Etwas weiter gab es eine andere Fotogruppe. „Stolze Häuptlingstöchter aus aller Welt“, las sie laut vor.
Von den Bildern blickten ihr exotische Gesichter entgegen. Mädchen und Frauen in ihrem Alter, die meisten wirkten scheu, als genierten sie sich vor dem Fotografen.
Eine Frau, als Prinzessin Nirii betitelt, runzelte nachdenklich die Stirn, während sie ihren bloßen Busen ungeniert gen Kamera reckte.
Daniel lachte. „Jetzt verstehe ich, warum diese Fotos unter den Bürgern so beliebt sind!“
„Daniel!“ Thea errötete und zog ihren Bruder weiter. Vor einigen Landschaftsaufnahmen verlangsamte sie ihren Schritt und stürzte ihren Champagner herunter. Jetzt fühlte sie sich auch noch betrunken.
Daniel grinste breit. „Als hättest du noch nie die Brüste einer Frau gesehen, du bist doch selber eine.“ Er hatte es sehr, sehr leise gesagt, doch Thea wäre trotzdem am liebsten im Boden versunken. Wie konnte er so was nur sagen!
Sie überflog die Aufnahmen von Nomadenzelten, Kamelen und Bambushütten, dann erreichten sie den hinteren Bereich des Saals. „Schöne Heimat“, stand auf einem Schild, und dann stockte Thea plötzlich der Atem.
„Das kann nicht, das ist doch … das sind meine Fotografien!“
„Schhh, leise, willst du, dass wir auffliegen?“, sagte Daniel und zog sie mit sich. Thea war erstarrt, wie vom Blitz getroffen.
Dort hingen tatsächlich ihre Bilder, zehn der Fotografien, die sie auf der Ausfahrt im Frühling gemacht hatte. Die jätenden Bauern, der alte Mann mit den lachenden Augen, die kleinen Mädchen mit ihrer Kräuterernte. Nur zwei Fotografien zeigten Ansichten von Hamburg und waren von Daniel. Auf einem war ein junger Matrose mit sehnigen Armen zu sehen, der ein Tau zusammenrollte, dahinter der Hafen, auf dem anderen war der Michel zu erkennen.
Thea wurde ganz heiß. Sie hätte am liebsten laut gejubelt vor Glück. Ihre Bilder hatten es bis in eine Ausstellung geschafft. Unter jedem Rahmen war auf kleinen Messingschildchen Daniel Klawitt vermerkt. Niemals würde unter so einer Fotografie ihr Name stehen. Dennoch war sie in diesem Moment so glücklich, dass sie ihren Bruder fest umarmte.
„Langsam, langsam, du hast keine Ahnung, was du mir eingebrockt hast. Unter anderem wegen dieser Bilder ist Vater nun überzeugt, ich könne sein Atelier übernehmen. Der Verleger ist ganz vernarrt in deine Fotografien. Er hat schon mehr bestellt.“
„Dann machen wir mehr. Du musst nur in die Wege leiten, dass du mich mitnehmen kannst. Sag einfach, ich soll dir helfen oder ich sei deine Inspiration.“
„Aus deinem Mund klingt das so einfach.“ Daniel seufzte. „Aber schau.“ Er zog sie weiter. Dort, im schattigsten Winkel des Saals hingen auch zwei Gemälde. Sie waren von ihm.
***
Leopold bewegte sich an der Seite seines Vaters durch die Menge. Er hatte eigentlich nicht kommen wollen, doch nun war er überrascht, wie leicht es ihm fiel. Er schüttelte Hände, machte höfliche Bemerkungen, lächelte Damen zu.
Seine Schultern fühlten sich an, als sei ein Brett zwischen sie geklemmt. Ein wenig steif nahm er eine verspätete Kondolenz entgegen, doch als er mit einer Floskel antwortete, blieb die Enge in seiner Kehle aus. „Ja, sie fehlt … war eine wundervolle Frau … ja.“
„Sie machen sie stolz, das weiß ich“, sagte die Dame, die sich als eine enge Freundin von Mama vorgestellt hatte. Leopold hatte nie von ihr gehört oder sie gesehen. Und eigentlich wollte er auch nicht darüber reden.
Er entschuldigte sich höflich, aber bestimmt und löste sich aus der Menge.
Dies war ein wichtiges Treffen, obwohl es in einem Verlagshaus stattfand. Alle Hamburger Kompagnien, die im Protektorat Geschäfte betrieben, hatten Vertreter geschickt. Kürzlich hatte der Hamburger Senat ein Papier an die Reichsregierung geschickt, mit der Bitte, sich vermehrt um die deutschen Dependancen in Übersee zu bemühen. Bislang wurden sie eher stiefmütterlich behandelt. Saarner war eines von sieben Unternehmen, die in Hamburg ansässig waren und intensive Beziehungen in die Südsee und besonders nach Papua unterhielten.
Früher war Vater zumindest jedes dritte oder vierte Jahr selbst dorthin gefahren, doch mittlerweile arbeiteten die Plantagen so zuverlässig, dass häufige Kontrollen nicht vonnöten waren. Dreimal im Jahr liefen Schiffe in Hamburg ein, die bis unter das Deck mit Kopra beladen waren.
In der vergangenen Woche hatte Leopold selbst die Anlandung der Ware überwacht und dafür gesorgt, dass sie ohne Umwege in die Ölmühle geliefert wurde. Die Mühle gehörte zu einem Drittel zu Saarner und je einem Drittel zwei weiteren Importeuren, die auf diese Weise ihren Gewinn verbessern konnten. Aus der Kopra, die aus nichts weiter als getrockneten und zerkleinerten Kokosnüssen bestand, wurde das Öl herausgepresst und dann als Schmiermittel und billiges Fett für die Margarineherstellung verkauft.
Leopold verspürte leisen Stolz, dass er die Abwicklung dieser Lieferung fast komplett selbst übernommen hatte. Nur einmal hatte er sich an Vater gewandt, weil er nicht sicher gewesen war, ob die ausgewiesenen Zollgebühren und die Einfuhrsteuer korrekt waren.
Die Arbeit hatte ihn so vereinnahmt, dass die Trauer in den Hintergrund getreten war.
Er war froh, dass Vater ihm mit seinen zweiundzwanzig Jahren mehr und mehr zutraute. Also sollte er diesen Besuch hier nutzen, um Kontakte zu knüpfen und seinem Ziel ein wenig näher zu kommen. Er wollte nach Neuguinea reisen und die Welt, von der sein Vater oft wie von einem fernen Paradies sprach, mit eigenen Augen sehen.
Doch erst einmal brauchte er ein paar Augenblicke für sich. In dem Gedränge in Eingangsnähe war kaum Gelegenheit für tiefergehende Unterhaltungen, und auf weitere Beileidsbekundungen konnte er nun wirklich verzichten.
Dort drüben war Senator Gerdes mit Gattin. Vater hatte ihn bereits entdeckt und hielt auf ihn zu. Leopold mochte Gerdes nicht und überließ ihn nur zu gerne seinem Vater.
Mit einem Glas Wein in der Hand ging er zum Ausstellungsraum, wo der fadenscheinige Anlass für das Wirtschaftstreffen an den Wänden hing.
In Gedanken ging er die Liste der Männer durch, mit denen er noch sprechen wollte, als er ein junges Paar bemerkte, das sich offenbar hierher zurückgezogen hatte. Nein, kein Paar. Sie sahen einander so ähnlich, dass sie eng miteinander verwandt sein mussten. Geschwister, Zwillinge vielleicht.
Leopold wollte sich gerade abwenden, als die Frau sagte: „Schade, dass nie jemand erfahren wird, dass die Fotografien von mir sind und nicht von dir.“
„Ist es sehr schlimm?“, fragte der Mann.
„Nein, ich freue mich, sie hier zu sehen. Es ist mehr, als ich zu träumen wagte.“
Leopold konnte nicht anders, als weiter zu lauschen. Die junge Frau war also keines von den gewöhnlichen Mädchen, die man auf derlei Veranstaltungen traf. Dass sie es verstand, mit fotografischen Apparaturen umzugehen, die ihm wie geheimnisvolle Wunderkästen erschienen, erstaunte ihn über die Maße.
Als hätte sie seinen Blick gespürt, drehte sie sich um und erschrak. Leopold gab sich einen Ruck und ging auf die beiden zu. „Keine Sorge, bei mir ist Ihr kleines Geheimnis sicher.“
„Oh nein, Sie haben doch nicht etwa …“ Mit einem hilflosen Blick wandte sie sich an ihren Begleiter, der aussah, als wäre er am liebsten aus dem Saal gestürmt.
„Leopold Saarner, angenehm“, stellte er sich vor und deutete eine Verbeugung an.
„Dorothea Klawitt, und das ist mein Bruder Daniel. Er ist Maler.“
„Fotograf hauptsächlich“, sagte der zerknirscht und gab ihm die Hand.
Leopold sah an den beiden vorbei auf die Fotografien, die ländliche Szenerien zeigten. Hübsch, ansprechend sicherlich, aber nichts Besonderes. Nur das Porträt eines alten Mannes stach hervor. „Ist das auch von Ihnen, Fräulein?“, fragte er.
Dorothea Klawitt legte einen Finger an die Lippen und lächelte, wobei sich in ihren Wangen zwei winzige Grübchen zeigten. Sie besaß eine Attraktivität, die man erst auf den zweiten Blick wahrnahm, einen zurückhaltenden Charme, der es in sich hatte.
„Ja, das ist auch von mir, aber bitte erwähnen Sie es nie wieder, es muss ein Geheimnis bleiben.“
„Ich schwöre es.“ Es tat ihm fast schon leid, wie sehr sie um ihr Geheimnis bemüht war.
Nebenan verstummte die Musik. Klawitt horchte auf und wandte sich an seine Schwester. „Thea, wir sollten zurückgehen, ich denke, der offizielle Teil fängt gleich an.“
Leopold schloss sich ihnen an, und gemeinsam verließen sie den Ausstellungssaal. Während ihr Bruder sich kurz entschuldigte, blieb er bei Dorothea, die unruhig und flatterhaft wirkte wie ein kleiner Vogel. Sie war eine zarte Person, die in dem aufwendigen, blassblauen Kleid fast ein wenig verloren wirkte. Ihr hellbraunes Haar war geflochten und aufgesteckt, doch in ihre Stirn fielen einige dünne Strähnen, die sie immer wieder zur Seite wischte. Sie lächelte ihn schüchtern an. „Was bringt Sie hierher, Herr Saarner? Sind Sie Autor des Hauses?“
Sah er aus wie einer dieser Schreiberlinge in knittrigen Anzügen? „Ich bin Reeder, also mein Vater ist es. Wir unterhalten geschäftliche Beziehungen in die Überseegebiete. Ich denke, Weller hat uns eingeladen, um sein neues Projekt zu forcieren. Mehr Forschung in Polynesien. Vater hat ihm, soweit ich weiß, schon zugesagt, dass ein Naturwissenschaftler oder Fotograf auf dem nächsten Schiff mitfahren kann.“
Dorothea machte große Augen. „Dann würden Sie womöglich unseren Vater an Bord nehmen? Wie aufregend! Wie oft fahren Sie denn nach Papua? Ich muss zugeben, dass ich fast alles dafür tun würde, um einmal so eine weite Reise zu unternehmen.“
Leopold trat betreten von einem Bein auf das andere. „Ich auch, allerdings habe ich Hamburg bislang so gut wie nie verlassen. Meine weitesten Fahrten gingen nach London und Madrid.“
„Auch darum beneide ich Sie.“
„Ich hoffe, dass ich in der Zukunft mehr herumkomme.“
„Ich wünsche es Ihnen“, sagte sie und seufzte. In diesem Moment kehrte ihr Bruder zurück und reichte ihr ein Glas, dann erklang eine helle Glocke. Die Gäste verstummten, und August Weller betrat ein kleines Podium.
Sie mussten eine fast einstündige Rede des dicklichen Verlegers über sich ergehen lassen, der in seinem Anzug stark schwitzte und immer wieder unangenehm lange Pausen einlegte, um Atem zu schöpfen.
Danach wurde Leopold von seinem Vater zu sich gerufen und verbrachte den ganzen Abend an seiner Seite. Lernte andere Reeder kennen und auch Händler, die regelmäßig Lagerfläche auf ihren Schiffen mieteten. Als er endlich den geschäftlichen Teil hinter sich gebracht hatte, fehlte von den Geschwistern Klawitt jede Spur. Zu gerne hätte er sich noch etwas länger mit Dorothea ausgetauscht, sie schien eine wirklich sympathische junge Frau zu sein.
***
Baptiste verbrachte jeden freien Moment im Dschungel, um den perfekten Baum für sein neues Kanu zu finden. Dieses Mal wollte er von Anfang an alles richtig machen. Er opferte den Waldgöttern und bat alle Ahnen, deren Namen er wusste, um Beistand.
Als er den Baum endlich gefunden und gefällt hatte, begann der härteste Teil. Aus dem dicken Stamm musste er nun das Kanu freischlagen. Er meinte, es wie einen Geist darin ruhen zu sehen, der mit aller Macht befreit werden wollte. Immer, wenn er glaubte, seine Arme kein weiteres Mal heben zu können, hielt er inne und schärfte seine Axt. Danach ging es wieder, und er hackte weiter.
Nicht weit von seinem Arbeitsort entfernt floss in einem Tal ein Bach, der kühleres Wasser von den Bergen heruntertrug. Dort konnte er Wasser schöpfen und das Blut von seinen Händen waschen, das anfangs fast jeden Tag aus aufgerissenen Blasen floss.
Sein erstes Kanu hatte er gemeinsam mit anderen Männern gebaut. Sie hatten sich die Arbeit geteilt, einander an der Axt abgewechselt. Dieses Mal war es anders. Es war wie eine Buße dafür, dass er die Geister des Waldes nicht respektiert und den Glauben seiner Mutter verhöhnt hatte. Er musste es tun, um nicht noch mehr Unheil heraufzubeschwören.
Das erste Kanu hatte er am Abend des Festes an einige Kinder verschenkt. Während er noch versucht hatte, sich nichts anmerken zu lassen, und gemeinsam mit Baku die Schildkröte zubereitete, waren die Kinder mit dem Kanu losgezogen.
Zwischen den Korallenbänken waren sie von einer Strömung erfasst und hinausgezogen worden. Es war nur einem Zufall zu verdanken, dass ein spät heimkehrender Fischer sie entdeckt hatte. Von da an hatte Baptiste nicht mehr daran gezweifelt, dass mit ihm und dem ersten Kanu etwas nicht stimmte. Selbst Mutter war davon überzeugt. Sie verbrannten das verdorbene Boot, und Baptiste sprach bei den Ältesten vor.
„Du bist weder hier noch dort. Deine Seele weiß nicht, wohin sie gehört. Du hast die Geister deiner Mutterahnen zornig gemacht“, war ihr Urteil. „Du musst ihnen zeigen, dass du es wert bist, von ihnen unterstützt zu werden.“
„Und was ist mit den Geistern meines Vaterblutes?“, hatte er gefragt.
Sie hatten darauf mit einer Frage geantwortet:
„Ist er hier?“
„Nein.“
„Seine Geister sind es nicht, und seine Ahnen sind es nicht. Beide musst du nicht fürchten.“
Seitdem waren Wochen ins Land gegangen. Hatte er anfangs nur hin und wieder an dem Kanu gearbeitet, so war er mittlerweile wie besessen davon. Er blieb von der Plantage fern, schlief oft sogar im Wald.
Neben dem gefällten Baum hatte er sich aus Zweigen und Blättern eine Hütte gebaut. Am Tag war es warm, die Nächte nicht viel kühler, sodass es reichte, einen Regenschutz zu haben.
Denn auf den Regen war Verlass, er fiel mehrmals täglich und durchweichte alles. Aber die Luft war dann angenehmer. Nicht mehr so schwül, und die Stechinsekten ließen ihn auch in Ruhe, solange die schweren Tropfen fielen. Dann war die Luft einen Moment lang so klar, dass er die schroffen Berge sehen konnte, die das steinerne Rückgrat der Insel bildeten und bis hinauf in den Himmel ragten. Sobald der Regen aufhörte, verwandelte sich das Wasser wieder in Dunst und stieg, weiten Schleiern gleich, über den Wald hinauf zu den Gipfeln. Von da an waren sie nicht mehr zu sehen.
Baptiste schwamm in einem kleinen Kolk, der von dem Regenwaldbach gespeist wurde. Er tauchte mehrfach unter, rieb sich mit müden Händen durchs Haar, um sie zu reinigen. Es war Samstagabend, und seine Zieheltern erwarteten, dass er heute heimkam.
Bei der Arbeit am Kanu trug er traditionelle Kleidung, um die Geister nicht zu erzürnen und auch weil es praktischer war. Der knappe Schurz behinderte ihn nicht in der Bewegung.
Baptiste rieb sich über Arme und Beine, bis sie sich sauber anfühlten, wiederholte das Ganze im Gesicht und im Nacken, dann stieg er aus dem Wasser und zog eine Hose an. Ein Leinenhemd hing über einem Strauch. Er griff danach und lief los. Der Pfad führte durchs Unterholz, kreuz und quer durch ein Labyrinth von umgestürzten Bäumen und jungen Schösslingen, Lianen und Farn.
Überall lag eine dichte Schicht aus heruntergefallenem Laub. Nur an manchen Stellen war der dunkle Boden wie saubergefegt. Dort gab es weder Laub noch Wurzeln oder Steinchen. Das waren die Versammlungsplätze der Paradiesvögel, hier tanzten sie für die Geister des Waldes.
Baptiste wusste, dass er Geld dafür bekäme, wenn er weißen Jägern verriete, wo sie diese Orte finden würden. Doch das brachte er nichts übers Herz. Es war nicht richtig.
Sobald er die Grenze des Regenwaldes erreichte, zog er sich das Hemd über. Über die Rinderweiden war es nun nicht mehr weit. Bald schon ragte der weiß gestrichene Holzbau vor ihm auf, bläulich schimmernd im Abendlicht.
Hier war alles so anders. Die Urwaldgeräusche, das ständige Sirren, Zirpen und Rauschen fehlte so auffallend, als habe er sich die Ohren mit Wachs zugestopft.
Heute kam es ihm vor, als betrete er eine fremde Welt. Jahrelang hatte er sich hier zu Hause gefühlt. Jetzt stieß ihn dieser Ort ab, als sei er verhext.
Baptiste stieg die Stufen hinauf. Das Holz fühlte sich glatt an und machte ihm bewusst, dass er barfuß war. Er wusch sich die Füße in einer kleinen Schüssel, in der sich Regenwasser gesammelt hatte. Seine Ziehmutter goss damit die Blumen im Haus. Er schüttete das Wasser weg und stellte die Schüssel wieder auf, dann ging er hinein. Die Tür stand wie immer offen. Er hoffte, noch eine Weile für sich zu haben, ohne bemerkt zu werden. Einige Minuten nur, um sich weniger fremd vorzukommen, doch sie schienen auf ihn gewartet zu haben.
Die Köchin sah ihn zuerst. „Junger Herr, das Essen ist fertig“ sagte sie, eine Terrine tragend, aus der es nach Brühe duftete. Sie würde den Herrschaften sagen, dass er gekommen war, denn sie hatten Erwartungen an ihn.
Er folgte der Köchin also zum Speisezimmer, noch immer barfuß und in einem knittrigen, aber immerhin sauberen Leinenhemd. Der Flur war lang und mit Gemälden und polierten Messingleuchtern ausgestattet. Das Speisezimmer lag nach Westen hin und besaß große Fenster, die meist geöffnet waren. Auch jetzt bauschten sich dünne weiße Vorhänge im schwachen Abendwind, der angenehme Kühlung brachte.
Seine Schritte waren auf dem polierten Holzfußboden nicht zu hören.
Er hatte den Tisch beinahe erreicht, als Margarete Oudeboom aufmerkte und im nächsten Moment aufsprang. „Adam! Oh mein Gott, wir dachten schon, dir sei etwas zugestoßen.“ Sie umarmte ihn, was sonst gar nicht ihre Art war. Frau Oudeboom war eine nüchterne Person, die unter äußerlich großer Strenge ein warmes Herz verbarg. Auch heute trug sie ihr blondes Haar straff zurückgebunden und ein hochgeschlossenes, braunes Kleid. Für sie war er Adam. Nur innerhalb dieser vier Wände nannte man ihn so. Es war der Name, auf den ihn die Mönche aus der Mission getauft hatten. Ihn, den Bastardjungen einer Wilden. Adam Baptiste.
„Setz dich“, sagte nun auch der Hausherr, und Baptiste gehorchte.
Ingmar Oudeboom war ein eindrucksvoller Mann von kräftiger Statur. Sein dunkles Haar war ergraut, ebenso wie sein gepflegter Backen- und Kinnbart. Er regierte sein kleines Reich mit strenger Hand, aber ohne Grausamkeit. Leibeigene gab es auf der Plantage nicht, aber eine ganze Siedlung, die von der Arbeit auf den Ländereien abhängig war.
Stille senkte sich über die abendliche Tafel. Sie war bleiern und drückte Baptistes Schultern herunter, bis er sich ganz klein fühlte.
Die Köchin tat die Suppe auf und zog sich dann zurück. Oudeboom sprach ein Dankgebet, seine Frau stimmte ins Amen mit ein. Und er, der sich so fremd fühlte, schwieg. Es fiel auf. Schweigend löffelten sie ihre Suppe. Sie schmeckte fad nach Gemüse, die Markklößchen waren abgezählt. Drei für Baptiste, drei für seine Ziehmutter und fünf für den Hausherrn. Die Suppe war viel zu warm für dieses Ende der Welt, doch sie erinnerte die Oudebooms an ihre norddeutsche Heimat.
„Wo bist du gewesen?“, fragte sein Ziehvater, eben als Baptiste schon glaubte, diese Frage nicht gestellt zu bekommen. Nun verkrampften sich auch in seinem Nacken alle Muskeln.
„Im Dorf, es gab einiges zu erledigen.“
„Lüge“, sagte Oudeboom leise und ruhig. „Ich habe den Vorarbeiter geschickt, um dich zu holen. Aber du warst nicht da. Es war nichts Vernünftiges aus den Leuten herauszuholen. Angeblich wärst du mit den Waldgöttern einen Pakt eingegangen und dann verschwunden.“
„Du hast dich nicht wirklich mit dämonischen Mächten eingelassen, Adam?“, fragte Margarete Oudeboom dünn. Sie unterbrach ihren Mann eigentlich nie, daran merkte Baptiste, dass sie wirklich besorgt war, wirklich Angst um ihn hatte. Ganz blass war sie geworden.
„Ich habe mich nicht mit dämonischen Mächten eingelassen, das würde ich nie.“ Er drückte kurz ihre Hand, die sich klein und knöchern anfühlte, und sie atmete auf.
Was sie nicht wusste, war, dass in Baptistes Vorstellung die Waldwesen keine Dämonen waren, aus ihrer Sicht dagegen sicherlich schon. Er würde es ihr niemals sagen.
„Adam, ich warte noch immer auf eine Antwort“, sagte Oudeboom und starrte ihn über den Tisch an. Seine blauen Augen blitzten gefährlich unter den buschigen Brauen hervor.
Am liebsten wäre Baptiste in diesem Moment aufgestanden und zurück in den Wald gelaufen, doch er saß wie festgewachsen auf dem Stuhl. Außerdem wollte er kein Feigling sein. Warum nicht die Wahrheit sagen?
„Ich baue ein Kanu.“
„Im Wald?“ Der Hausherr sagte es, als sei es gleichbedeutend mit dem Mond.
„Ja. Im Wald. Ich habe einen Baum gefällt, und nun schlage ich mit einer Axt die Form aus dem Stamm. Wenn es fertig ist, bringe ich es an den Strand. Deshalb hat mich der Vorarbeiter nicht gefunden.“
Oudeboom nickte und löffelte seine mittlerweile kalt gewordene Suppe. Reichte ihm die Antwort?
„Du hättest mich nur bitten müssen, weißt du? Dann hätte ich dir so ein Boot gekauft, wenn es dir wichtig ist. Du leistest gute Arbeit auf der Plantage. Mir ist lieber, du beaufsichtigst die Ernte, als wie ein Wilder im Wald zu hausen und dir ein Kanu zu schnitzen.“
Es lag so viel Verachtung in seinen Worten, dass es Baptiste regelrecht auf der Haut brannte. Doch er besann sich. Diese Leute hatten ihn auf Bitten seines Vaters aufgenommen, behandelten ihn wie einen Sohn, gaben ihm mehr, als er zu träumen gewagt hatte. Er schuldete ihnen allen Respekt, den er aufbringen konnte, auch wenn es manchmal schwer war, auch wenn ihm ihre strenge, religiöse
Denkweise die Luft zum Atmen nahm.
„Ich tue es für mich, und ich muss es alleine bauen. Das ist mir wichtig. Es tut mir leid, dass ich meine Aufgaben auf der Plantage vernachlässigt habe.“
„Verstehe ich das richtig, du hackst dieses Kanu ganz alleine, mitten im Dschungel, aus einem Baum?“
Baptiste nickte.
„Und wenn dich jemand überfällt oder du von einer Schlange gebissen wirst? Was dann?“ Margarete Oudeboom beugte sich vor und nahm seine Rechte. „Ich habe Angst um dich, Adam.“
„Das brauchen Sie nicht, ganz bestimmt nicht.“ Er nahm ihre Hand in seine, strich darüber. Sie hielt inne, rutschte näher an ihn heran und drehte seine Hand um, sodass sie die zerschundene Innenfläche sehen konnte. Blasen, blutig aufgerissene Haut.
Ihre Lippe begann zu zittern, dann rollten Tränen über ihre blassen Wangen.
„Oh, deine armen Hände, deine armen, armen Hände.“
„Da siehst du, was du angerichtet hast“, sagte Oudeboom.
„Verbiete ihm diesen Unsinn, Ingmar.“
Der Hausherr, sichtlich bestürzt über die Tränen seiner Frau, nickte langsam.
Nein, das konnten sie nicht tun! Es lief Baptiste eisig den Rücken hinunter. Wenn er das Kanu nicht baute, dann würde es wirklich geschehen: Der Fluch der Ahnen würde ihn treffen. „Bitte nicht!“
Oudeboom kannte kein Erbarmen. „Du wirst nicht mehr in den Dschungel zurückkehren. Und morgen in der Kirche wirst du beten und um Vergebung bitten, dass du deiner Ziehmutter so viel Kummer bereitet hast.“
Baptiste schmeckte Blut im Mund, als er sich auf die Zunge biss, um nicht laut zu schreien.
***